Nimm dir einen Augenblick Zeit: Siehst du ihn? Oben am Hang. Wie er mit hoch aufgestellten Löffeln den Geräuschen lauscht? Hast du sie bemerkt, als sie lautlos über dich hinwegflog? Oder ihn? Reglos wartet er auf einem Seerosenblatt und glotzt herüber. In dem neuen Bilderbuch von Dieter Wiesmüller geht es um das Suchen und Finden, das Sehen und Gesehen werden, das Erkennen und Benennen. Ausdrucksstarke Illustrationen verführen zum genauen Hinsehen und beflügeln die Fantasie. (Ab 5 Jahren.)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2002Siehst du, was ich sehe - weißt du, was ich weiß? Ein Augen-Blicks-Märchen
Aus den halb geschlossenen Augen des Schimpansen blitzt ein Strahl hervor, bevor das Lid ihn gleich wieder abdeckt. Er gibt demonstrativ vor, sich keinen Deut um die neugierigen Betrachter außerhalb seines Käfigs zu kümmern. Im Zoo oder Zirkus fühlen wir manchmal die Augen der Tiere auf uns gerichtet, ein irritierendes Gefühl ist das. In seinem berühmten Gedicht aus dem Jardin des Plantes in Paris beschreibt Rilke den Blick des Panthers als "so müd geworden, daß er nichts mehr hält . . ." Augen sind Fenster, durch die die Welt in das Innere fällt, aber sie halten die Welt auch fest. Und außerdem lassen sie etwas aus dem Inneren nach außen. Man spricht deshalb auch vom Augenlicht, und ohne Licht gäbe es nichts. Das ist bei Mensch und Tier im Grunde gleich. Für Menschen und für Tiere sind die anderen Sinnesorgane ebenfalls sehr wichtig. Aber die Augen haben trotzdem immer etwas Besonderes.
Dieter Wiesmüller hat dieses Besondere in sehr schönen, großformatigen Augenbildern von Tieren eingefangen. Sein Bilderbuch kommt als Wahrnehmungsspiel daher. Auf der linken Buchseite prangt in Übergröße ein Auge, und auf der Seite gegenüber sehen wir dann das Bild einer Landschaft, eines Dorfes oder auch nur von ein paar Pilzen mit einem Menschenfuß. Wie paßt das zusammen? Das Auge links gehört einem Tier, und was es mit seinem Auge erblickt, das sehen wir, indem wir uns in seine Perspektive versetzen, auf der rechten Seite. Der kurze Text auf den Doppelseiten verrät nicht, welchem Tier das Auge gehört. Von den Augen selbst können wir so gut wie gar nicht auf ihre Träger schließen, eher schon von den Hautfalten, dem Fell, den Schuppen oder Federn, in die sie eingebettet sind. Mit solchen Hinweisen und über das Bild rechts, zusätzlich aber auch mit Hilfe der mehr oder weniger versteckten Informationen im Text kann man versuchen herauszubekommen, um welches Tier es sich jeweils handelt. Auf der letzten Doppelseite ist links ein Kinderauge gezeichnet. Hinter einem Fenster gegenüber sehen wir alle Tiere, in deren Auge wir uns vertieft haben und mit deren Blick wir ein typisches Bild aus ihrer Umwelt betrachtet haben.
Freilich sehen Tieraugen nicht dasselbe wie Menschenaugen, und das Ganze ist folglich nichts anderes als ein höchst einfallsreiches Augen-Blicks-Märchen. Aber ein Abenteuer ist es auch, weil man sich ganz locker in die Rolle einer Eule, eines Löwen, einer Eidechse oder eines Vogels Strauß versetzen kann. Die herbe, durch viele Ocker- und Brauntöne gewissermaßen daguerreotypisierte Intensität der Augenbilder Wiesmüllers zieht uns in ihren Bann. Mit diesem Buch ist es ihm auf ungewöhnliche Weise gelungen, unser Blickfeld zu erweitern.
WILFRIED VON BREDOW
Dieter Wiesmüller: "Augenblick". Carlsen Verlag, Hamburg 2002. 32 S., geb., 18,- [Euro]. Ab 5 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus den halb geschlossenen Augen des Schimpansen blitzt ein Strahl hervor, bevor das Lid ihn gleich wieder abdeckt. Er gibt demonstrativ vor, sich keinen Deut um die neugierigen Betrachter außerhalb seines Käfigs zu kümmern. Im Zoo oder Zirkus fühlen wir manchmal die Augen der Tiere auf uns gerichtet, ein irritierendes Gefühl ist das. In seinem berühmten Gedicht aus dem Jardin des Plantes in Paris beschreibt Rilke den Blick des Panthers als "so müd geworden, daß er nichts mehr hält . . ." Augen sind Fenster, durch die die Welt in das Innere fällt, aber sie halten die Welt auch fest. Und außerdem lassen sie etwas aus dem Inneren nach außen. Man spricht deshalb auch vom Augenlicht, und ohne Licht gäbe es nichts. Das ist bei Mensch und Tier im Grunde gleich. Für Menschen und für Tiere sind die anderen Sinnesorgane ebenfalls sehr wichtig. Aber die Augen haben trotzdem immer etwas Besonderes.
Dieter Wiesmüller hat dieses Besondere in sehr schönen, großformatigen Augenbildern von Tieren eingefangen. Sein Bilderbuch kommt als Wahrnehmungsspiel daher. Auf der linken Buchseite prangt in Übergröße ein Auge, und auf der Seite gegenüber sehen wir dann das Bild einer Landschaft, eines Dorfes oder auch nur von ein paar Pilzen mit einem Menschenfuß. Wie paßt das zusammen? Das Auge links gehört einem Tier, und was es mit seinem Auge erblickt, das sehen wir, indem wir uns in seine Perspektive versetzen, auf der rechten Seite. Der kurze Text auf den Doppelseiten verrät nicht, welchem Tier das Auge gehört. Von den Augen selbst können wir so gut wie gar nicht auf ihre Träger schließen, eher schon von den Hautfalten, dem Fell, den Schuppen oder Federn, in die sie eingebettet sind. Mit solchen Hinweisen und über das Bild rechts, zusätzlich aber auch mit Hilfe der mehr oder weniger versteckten Informationen im Text kann man versuchen herauszubekommen, um welches Tier es sich jeweils handelt. Auf der letzten Doppelseite ist links ein Kinderauge gezeichnet. Hinter einem Fenster gegenüber sehen wir alle Tiere, in deren Auge wir uns vertieft haben und mit deren Blick wir ein typisches Bild aus ihrer Umwelt betrachtet haben.
Freilich sehen Tieraugen nicht dasselbe wie Menschenaugen, und das Ganze ist folglich nichts anderes als ein höchst einfallsreiches Augen-Blicks-Märchen. Aber ein Abenteuer ist es auch, weil man sich ganz locker in die Rolle einer Eule, eines Löwen, einer Eidechse oder eines Vogels Strauß versetzen kann. Die herbe, durch viele Ocker- und Brauntöne gewissermaßen daguerreotypisierte Intensität der Augenbilder Wiesmüllers zieht uns in ihren Bann. Mit diesem Buch ist es ihm auf ungewöhnliche Weise gelungen, unser Blickfeld zu erweitern.
WILFRIED VON BREDOW
Dieter Wiesmüller: "Augenblick". Carlsen Verlag, Hamburg 2002. 32 S., geb., 18,- [Euro]. Ab 5 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ungewöhnlich, eindringlich und eine wahre Augen-Weide
Mit offenen Augen durch die Welt gehen, das ist die Devise.
Absolut ungewöhnlich und ungemein faszinierend jedoch wie Illustrator Wiesmüller diesen Grundgedanken umsetzt. Denn auf jeder linken der zwölf Doppelseiten ist ein einziges riesiges Auge zu sehen. Eine formatfüllende Pupille, garniert mit ein wenig Fell, Haar oder Haut – darunter die Rätselfrage nach einem Lebewesen, das genau an dem auf der gegenüberliegenden Seite beschriebenen Ort vorkommt.
In einem Feld, im Wald, auf und am See, auf der Lichtung oder der Savanne und dem Dschungel, aber auch in den Straßen der Stadt, in einem Haus – überall leben sie, die Tiere, die im allerletzten Bild noch einmal alle namentlich aufgerufen werden.
Liebevoll gezeichnet auf der einen Seite und die Augenbilder so genau wie eine Fotografie - mit dieser Kombination ist das vorliegende Bilderbuch ebenso ansprechend wie einzigartig. Beim ersten Durchgang werden kleine Betrachter mit Wonne die gestellten Rätsel lösen, bei jedem weiteren Lesen überwiegt die Freude über das Wiedersehen mit den nun wohlvertrauten Figuren.
(Michaela Pelz)
Mit offenen Augen durch die Welt gehen, das ist die Devise.
Absolut ungewöhnlich und ungemein faszinierend jedoch wie Illustrator Wiesmüller diesen Grundgedanken umsetzt. Denn auf jeder linken der zwölf Doppelseiten ist ein einziges riesiges Auge zu sehen. Eine formatfüllende Pupille, garniert mit ein wenig Fell, Haar oder Haut – darunter die Rätselfrage nach einem Lebewesen, das genau an dem auf der gegenüberliegenden Seite beschriebenen Ort vorkommt.
In einem Feld, im Wald, auf und am See, auf der Lichtung oder der Savanne und dem Dschungel, aber auch in den Straßen der Stadt, in einem Haus – überall leben sie, die Tiere, die im allerletzten Bild noch einmal alle namentlich aufgerufen werden.
Liebevoll gezeichnet auf der einen Seite und die Augenbilder so genau wie eine Fotografie - mit dieser Kombination ist das vorliegende Bilderbuch ebenso ansprechend wie einzigartig. Beim ersten Durchgang werden kleine Betrachter mit Wonne die gestellten Rätsel lösen, bei jedem weiteren Lesen überwiegt die Freude über das Wiedersehen mit den nun wohlvertrauten Figuren.
(Michaela Pelz)
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ein Buch, das durch und durch dem Augen-Blick, dem Sehen, dem Sichtbaren, dem Sichtbarmachen gewidmet ist und eine ganz besondere Konzeption hat, die Elisabeth Hohmeister fasziniert. Auf den linken Buchseiten befänden sich ausschließlich riesengroße Tieraugen, erklärt sie, ganz naturalistisch gezeichnet. Wer nun wissen wolle, zu welchem Tier das Auge gehöre, der könne aus der rechten Buchseite schlussfolgern, von welchem Tier die Rede sei, denn dort sei zu sehen, was die Augen dieser Tiere sehen, ihre natürliche Umgebung, ihren Lebensraum. Die verschiedenen Landschaften, in denen die Tiere zuhause sind, würden häufig von Kindern bevölkert, so Hohmeister, die auf spielerische Weise davon berichteten, was den Tieren in ihrer Umwelt zustößt. Erst am Ende löse sich das Rätsel, welches Auge welchem Tier gehört - so wie man es bislang kannte. Eine seltsam fremde und doch schöne Entdeckungsreise, schließt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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