"Zu den Zeichen des Zeitalters, dessen Schwelle wir überschritten haben, gehört der gesteigerte Einbruch des Gefährlichen in den Lebensraum", schreibt Ernst Jünger 1931. Die "Materialschlacht" des Ersten Weltkriegs hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein völlig neues Spektrum von Gefahren hervorgebracht. So entsteht der Wunsch nach Panzerung und undurchdringlicher Abschirmung. Noch im Angesicht der Niederlage verkündet Jünger die Geburt eines gestählten "Typus", der für den nächsten Krieg mobil macht und die militärischen Siege der Zukunft erringen soll. Julia Encke zeichnet in ihrem Buch nach, wie in Fotobänden und literarischen Texten der Zwischenkriegszeit diese Mobilmachung zum ästhetischen Programm wird: Der Mensch, der zur Unempfindlichkeit erzogen werden soll, wird mit planmäßig produzierten Schocks und Reizen überfallen. Man will ihn immun machen gegen die drohenden Gefahren eines zukünftigen Kriegs. Wie vergeblich das sein kann, davon erzählen die panischen Figuren bei Kafka, Robert Musils "Fliegerpfeil" und nicht zuletzt die Literatur zum Gaskrieg.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.12.2005AUS DER REDAKTION
Julia Encke, Mitglied dieser Redaktion, hat ein Buch über den Krieg und die Sinne geschrieben. "Augenblicke der Gefahr" handelt von der beispiellosen ästhetischen Mobilmachung in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Fotobände und Literatur zeigen, wie der Mensch mit planmäßig produzierten Schocks und Reizen umzugehen versuchte - und sich für den kommenden Krieg rüstete. Eine Ideologiegeschichte der Heldenästhetik. (Fink-Verlag, 280 Seiten, 36,90 Euro).
F.A.Z.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Julia Encke, Mitglied dieser Redaktion, hat ein Buch über den Krieg und die Sinne geschrieben. "Augenblicke der Gefahr" handelt von der beispiellosen ästhetischen Mobilmachung in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Fotobände und Literatur zeigen, wie der Mensch mit planmäßig produzierten Schocks und Reizen umzugehen versuchte - und sich für den kommenden Krieg rüstete. Eine Ideologiegeschichte der Heldenästhetik. (Fink-Verlag, 280 Seiten, 36,90 Euro).
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.01.2006Weltkrieg im Sinn
Julia Encke über Augen, Ohren und Nasen nach 1914
Was hat eigentlich aus dem Ersten Weltkrieg einen totalen Krieg gemacht? Seit mehr als einem Vierteljahrhundert und der kulturalistischen Wende der Geschichtswissenschaft wird weltweit darüber diskutiert. War der Erste Weltkrieg ein Religionskrieg? Hat er neue Formen der „Brutalisierung” der europäischen Gesellschaften erzeugt? War er der erste „Krieg der Medien”? Sicherlich war er ein „industrialisierter Vernichtungskrieg”, aber war denn wirklich schon die totale Vernichtung im Visier? Um hier klarer zu sehen, ist enge Zusammenarbeit von Geschichts- und Kulturwissenschaften gefordert.
Das vielleicht bislang stärkste Beispiel interdisziplinärer Forschung auf diesem Gebiet ist hier anzuzeigen: Julia Enckes Dissertation über den „Krieg und die Sinne”. Dieses Buch hat zunächst den Vorteil, den Horizont der „kulturalistischen” Kriegs- und Nachkriegsforschung auch für den Nichtspezialisten zu öffnen. Es ist allein schon eine bewundernswerte Leistung, die Vielfalt der Autoren und Forschungsansätze so komplett gesammelt und perspektivisch weitergeführt zu haben.
Neu ist der dezidierte Zugriff auf die Sinnesorgane, deren Beanspruchung beziehungsweise Überforderung zunächst durch den Krieg selber, dann aber auch durch eine regelrechte „Sinn-Gebung” in der Nachkriegszeit erfolgte. Auge, Ohr und Nase waren dem Krieg in erster Linie ausgesetzt, und Julia Encke ist wohl die erste Forscherin, die sich ganz auf die Frage konzentriert, was der Krieg aus unseren Sinnesorganen gemacht hat.
Das erste große Kapitel gilt dem Auge im Krieg. Das Auge war der Schnelligkeit der Ereignisse - besonders der Geschosse - und der Ausdehnung des Schlachtfeldes hoffnungslos unterlegen. Luftfotografie und Periskope sind (noch) nichts als Krücken. Das dem Auge unerschließliche „leere Schlachtfeld” lässt sich beliebig ideologisch möblieren. Das zeigt die Verfasserin anhand des literarischen Werkes von Ernst Jünger. Jüngers Fotoband „Das Antlitz des Weltkrieges” von 1930 ist programmatisch für das Verfahren der ideologischen Bildberichterstattung in den 1920er Jahren, die - so eine der vielen treffenden Formulierungen - der „Retuschierung der Niederlage” zum Ziel hatten.
Die retuschierte Front
Jüngers Bildgeschichte des Weltkriegs ist ein hervorstechendes Exempel einer ganzen Gattung von hochideologischen „soldatischen” Bilderzählungen des Weltkriegs, die der Selbstversicherung der frustrierten „Frontkämpfer” genau- so dienten wie neuer „Wehrhaft-Machung”. Das ist zwar nicht neu, aber hier wirklich dicht beschrieben. Der Rezensent hätte sich nur eine klarere Binnendifferenzierung gewünscht. Ideologisch liegen Klüfte etwa zwischen Schauwecker und Jünger einerseits und „Kamerad im Westen” andererseits. Nicht alle Bildbände dienten gleichermaßen der Feier des „Frontsoldatentums”, ein Terminus, über dessen Signifikanz und Zuordnung damals nicht von ungefähr heftig gestritten wurde. Auch bleibt ein wenig undeutlich, wo eigentlich die Grenze zwischen Bild-Retusche und Fälschung zu ziehen wäre. Wahrscheinlich da, wo in die Rauchwolke über dem brennenden Haus noch Granatsplitter hineingefummelt wurden, um den „gefährlichen Augenblick” des Fotos zu steigern.
Überzeugend ist die scharfe Ablehnung der Ästhetisierung Jüngers etwa durch Karl Heinz Bohrer. Die Autorin zeigt, wie „historisch” Jüngers Texte sind und wie er nicht abließ, durch immer wieder neue Bearbeitungen seiner Texte eine Art „kanonbildende” Erzählung des Kriegserlebnisses zu konstruieren. Allerdings ist auch der Hinweis wichtig, dass Jünger seine Texte nach 1933 strikt entpolitisierte, keine Kompromisse einging mit den Nazis, die versuchten, den soldatischen Militarismus für ihre Ziele zu instrumentalisieren.
Der zweite Teil des Buches - sicherlich der innovativste - handelt vom Hören im Krieg. Es beginnt mit einigen bestens informierenden Seiten über die Facetten des Schützengraben-Krieges und das Maulwurf-Dasein der Soldaten. Der neue Minenkrieg verlangte äußerste Konzentration auf den Hörsinn und gleichzeitig die Vermeidung aller Geräusche, wollte man nicht den ebenfalls stollengrabenden Feind auf sich aufmerksam machen. Wir lesen von der neuen Beanspruchung des Ohres, der Erfindung aller möglichen Hörhilfen; auch die Psychopathologie der Hörschädigungen durch Explosionen oder den Lärm der Geschütze wird anhand der medizinischen und technischen Fachliteratur der 1920er Jahre kenntnisreich beschrieben.
Wichtig im Rahmen einer Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs sind auch die Bemühungen, in die „Kriegsausstellungen” währen und nach dem Krieg dessen erlebte Akustik einzubringen. Davon könnten heutige Museologen, die sich - etwa in Ypern - um „Sonorisierung” der Weltkriegsausstellungen bemühen, einiges lernen . . . Überzeugend ist auch der Versuch, den „Widerhall” solcher Hörerlebnisse in der Literatur der zwanziger Jahre aufzuspüren. Und der Rekurs auf Kafkas „Bau” als extreme Verdichtung des Hörens im Krieg ist ebenso wichtig wie die Darstellung von dessen literarischer Verarbeitung bei Robert Musil. Aber es ist zu befürchten, dass der nicht speziell literaturwissenschaftlich interessierte Leser hier resigniert aufgibt: 20 Seiten Musil sind in diesem Zusammenhang eine Strapaze. Man kann dem geübten Leser nur raten, sich hier und an anderen ins Monografische ausufernden Passagen durch Querlesen zu retten und nicht aufzugeben - denn gerade das Kapitel vom Hören im Krieg bietet eine Fülle von neuen Ergebnissen.
Aber wie weit ist die Behauptung richtig, dass die Kriegserfahrung zu einem vermehrten gesellschaftlichen Interesse am Hören geführt und somit auch akustische Innovationen gefördert habe? Die Geschichte des Radios und des Lautsprechers, die ab Mitte der zwanziger Jahre das öffentliche Leben neu skandieren, ist leider gar nicht in die Analyse eingebaut worden - sieht man einmal von den interessanten Bemerkungen zum Hörspiel ab. Und auch der Tonfilm, der ja nicht zuletzt die Weltkriegserfahrung Ende der zwanziger Jahre neu fokussierte, bleibt in der Darstellung unberücksichtigt.
Der abschließende, etwas knappere Abschnitt handelt von der Nase, genauer: vom Geruchssinn und dem Gaskrieg. Das beginnt mit einigen wieder glänzend geschriebenen und informativen Seiten über die Geschichte des Gaskrieges. Überzeugend ist auch die Schilderung der Nachwirkungen der Gas-Erfahrung in der Literatur der zwanziger Jahre, bei Kästner, Wells und Canetti. Hebt diese Literatur auf die Schutzlosigkeit des Menschen vor dem „schleichendem Gift” ab, so gab es in jener Zeit eine ganze Palette konkreter Schutzmaßnahmen für den kommenden Krieg, von dem die meisten Experten und Politiker annahmen, dass er ein Gaskrieg werden würde.
Der Rezensent hat dieses Buch aus der Hand gelegt mit dem Gefühl, vielleicht schon jetzt, im Januar, die wichtigste Publikation zum Ersten Weltkrieg des Jahres 2006 - neunzig Jahre nach Verdun und der Somme - gelesen zu haben. Ein mutiges und perspektivisches Buch, voll neuer Ideen, das dem nicht „kulturwissenschaftlich” spezialisierten Leser einiges abverlangt, das aber auf jeden Fall die Forschung über den Ersten Weltkrieg und dessen mentale und kulturelle Nachwirkungen ein großes Stück weiterbringt.
GERD KRUMEICH
JULIA ENCKE: Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne, 1914-1934. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2006. 285 Seiten, 36,90 Euro.
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Julia Encke über Augen, Ohren und Nasen nach 1914
Was hat eigentlich aus dem Ersten Weltkrieg einen totalen Krieg gemacht? Seit mehr als einem Vierteljahrhundert und der kulturalistischen Wende der Geschichtswissenschaft wird weltweit darüber diskutiert. War der Erste Weltkrieg ein Religionskrieg? Hat er neue Formen der „Brutalisierung” der europäischen Gesellschaften erzeugt? War er der erste „Krieg der Medien”? Sicherlich war er ein „industrialisierter Vernichtungskrieg”, aber war denn wirklich schon die totale Vernichtung im Visier? Um hier klarer zu sehen, ist enge Zusammenarbeit von Geschichts- und Kulturwissenschaften gefordert.
Das vielleicht bislang stärkste Beispiel interdisziplinärer Forschung auf diesem Gebiet ist hier anzuzeigen: Julia Enckes Dissertation über den „Krieg und die Sinne”. Dieses Buch hat zunächst den Vorteil, den Horizont der „kulturalistischen” Kriegs- und Nachkriegsforschung auch für den Nichtspezialisten zu öffnen. Es ist allein schon eine bewundernswerte Leistung, die Vielfalt der Autoren und Forschungsansätze so komplett gesammelt und perspektivisch weitergeführt zu haben.
Neu ist der dezidierte Zugriff auf die Sinnesorgane, deren Beanspruchung beziehungsweise Überforderung zunächst durch den Krieg selber, dann aber auch durch eine regelrechte „Sinn-Gebung” in der Nachkriegszeit erfolgte. Auge, Ohr und Nase waren dem Krieg in erster Linie ausgesetzt, und Julia Encke ist wohl die erste Forscherin, die sich ganz auf die Frage konzentriert, was der Krieg aus unseren Sinnesorganen gemacht hat.
Das erste große Kapitel gilt dem Auge im Krieg. Das Auge war der Schnelligkeit der Ereignisse - besonders der Geschosse - und der Ausdehnung des Schlachtfeldes hoffnungslos unterlegen. Luftfotografie und Periskope sind (noch) nichts als Krücken. Das dem Auge unerschließliche „leere Schlachtfeld” lässt sich beliebig ideologisch möblieren. Das zeigt die Verfasserin anhand des literarischen Werkes von Ernst Jünger. Jüngers Fotoband „Das Antlitz des Weltkrieges” von 1930 ist programmatisch für das Verfahren der ideologischen Bildberichterstattung in den 1920er Jahren, die - so eine der vielen treffenden Formulierungen - der „Retuschierung der Niederlage” zum Ziel hatten.
Die retuschierte Front
Jüngers Bildgeschichte des Weltkriegs ist ein hervorstechendes Exempel einer ganzen Gattung von hochideologischen „soldatischen” Bilderzählungen des Weltkriegs, die der Selbstversicherung der frustrierten „Frontkämpfer” genau- so dienten wie neuer „Wehrhaft-Machung”. Das ist zwar nicht neu, aber hier wirklich dicht beschrieben. Der Rezensent hätte sich nur eine klarere Binnendifferenzierung gewünscht. Ideologisch liegen Klüfte etwa zwischen Schauwecker und Jünger einerseits und „Kamerad im Westen” andererseits. Nicht alle Bildbände dienten gleichermaßen der Feier des „Frontsoldatentums”, ein Terminus, über dessen Signifikanz und Zuordnung damals nicht von ungefähr heftig gestritten wurde. Auch bleibt ein wenig undeutlich, wo eigentlich die Grenze zwischen Bild-Retusche und Fälschung zu ziehen wäre. Wahrscheinlich da, wo in die Rauchwolke über dem brennenden Haus noch Granatsplitter hineingefummelt wurden, um den „gefährlichen Augenblick” des Fotos zu steigern.
Überzeugend ist die scharfe Ablehnung der Ästhetisierung Jüngers etwa durch Karl Heinz Bohrer. Die Autorin zeigt, wie „historisch” Jüngers Texte sind und wie er nicht abließ, durch immer wieder neue Bearbeitungen seiner Texte eine Art „kanonbildende” Erzählung des Kriegserlebnisses zu konstruieren. Allerdings ist auch der Hinweis wichtig, dass Jünger seine Texte nach 1933 strikt entpolitisierte, keine Kompromisse einging mit den Nazis, die versuchten, den soldatischen Militarismus für ihre Ziele zu instrumentalisieren.
Der zweite Teil des Buches - sicherlich der innovativste - handelt vom Hören im Krieg. Es beginnt mit einigen bestens informierenden Seiten über die Facetten des Schützengraben-Krieges und das Maulwurf-Dasein der Soldaten. Der neue Minenkrieg verlangte äußerste Konzentration auf den Hörsinn und gleichzeitig die Vermeidung aller Geräusche, wollte man nicht den ebenfalls stollengrabenden Feind auf sich aufmerksam machen. Wir lesen von der neuen Beanspruchung des Ohres, der Erfindung aller möglichen Hörhilfen; auch die Psychopathologie der Hörschädigungen durch Explosionen oder den Lärm der Geschütze wird anhand der medizinischen und technischen Fachliteratur der 1920er Jahre kenntnisreich beschrieben.
Wichtig im Rahmen einer Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs sind auch die Bemühungen, in die „Kriegsausstellungen” währen und nach dem Krieg dessen erlebte Akustik einzubringen. Davon könnten heutige Museologen, die sich - etwa in Ypern - um „Sonorisierung” der Weltkriegsausstellungen bemühen, einiges lernen . . . Überzeugend ist auch der Versuch, den „Widerhall” solcher Hörerlebnisse in der Literatur der zwanziger Jahre aufzuspüren. Und der Rekurs auf Kafkas „Bau” als extreme Verdichtung des Hörens im Krieg ist ebenso wichtig wie die Darstellung von dessen literarischer Verarbeitung bei Robert Musil. Aber es ist zu befürchten, dass der nicht speziell literaturwissenschaftlich interessierte Leser hier resigniert aufgibt: 20 Seiten Musil sind in diesem Zusammenhang eine Strapaze. Man kann dem geübten Leser nur raten, sich hier und an anderen ins Monografische ausufernden Passagen durch Querlesen zu retten und nicht aufzugeben - denn gerade das Kapitel vom Hören im Krieg bietet eine Fülle von neuen Ergebnissen.
Aber wie weit ist die Behauptung richtig, dass die Kriegserfahrung zu einem vermehrten gesellschaftlichen Interesse am Hören geführt und somit auch akustische Innovationen gefördert habe? Die Geschichte des Radios und des Lautsprechers, die ab Mitte der zwanziger Jahre das öffentliche Leben neu skandieren, ist leider gar nicht in die Analyse eingebaut worden - sieht man einmal von den interessanten Bemerkungen zum Hörspiel ab. Und auch der Tonfilm, der ja nicht zuletzt die Weltkriegserfahrung Ende der zwanziger Jahre neu fokussierte, bleibt in der Darstellung unberücksichtigt.
Der abschließende, etwas knappere Abschnitt handelt von der Nase, genauer: vom Geruchssinn und dem Gaskrieg. Das beginnt mit einigen wieder glänzend geschriebenen und informativen Seiten über die Geschichte des Gaskrieges. Überzeugend ist auch die Schilderung der Nachwirkungen der Gas-Erfahrung in der Literatur der zwanziger Jahre, bei Kästner, Wells und Canetti. Hebt diese Literatur auf die Schutzlosigkeit des Menschen vor dem „schleichendem Gift” ab, so gab es in jener Zeit eine ganze Palette konkreter Schutzmaßnahmen für den kommenden Krieg, von dem die meisten Experten und Politiker annahmen, dass er ein Gaskrieg werden würde.
Der Rezensent hat dieses Buch aus der Hand gelegt mit dem Gefühl, vielleicht schon jetzt, im Januar, die wichtigste Publikation zum Ersten Weltkrieg des Jahres 2006 - neunzig Jahre nach Verdun und der Somme - gelesen zu haben. Ein mutiges und perspektivisches Buch, voll neuer Ideen, das dem nicht „kulturwissenschaftlich” spezialisierten Leser einiges abverlangt, das aber auf jeden Fall die Forschung über den Ersten Weltkrieg und dessen mentale und kulturelle Nachwirkungen ein großes Stück weiterbringt.
GERD KRUMEICH
JULIA ENCKE: Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne, 1914-1934. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2006. 285 Seiten, 36,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Beeindruckt zeigt sich Rezensent Gerd Krumeich von der Dissertation seiner Kollegin Julia Encke über den "Krieg und die Sinne", die der Frage nachgeht, was der Krieg aus unseren Sinnesorganen gemacht hat. Vor allem das Kapitel über das Hören im Krieg erscheint ihm überaus innovativ und aufschlussreich. Als "bestens informierend" lobt er Enckes Ausführungen über die verschiedenen Facetten des Schützengraben-Krieges und das Maulwurf-Dasein der Soldaten, über die neue Beanspruchung des Ohres, die Erfindung aller möglichen Hörhilfen und die Psychopathologie der Hörschädigungen durch Explosionen oder den Lärm der Geschütze. Aber auch in den Kapiteln über das Auge und das Sehen im Krieg sowie über die Nase und das Riechen findet Krumeich höchst informative und "glänzend geschriebene" Passagen. Insgesamt würdigt er die Arbeit als ein "mutiges und perspektivisches Buch", das die Forschung über den Ersten Weltkrieg und dessen mentale und kulturelle Nachwirkungen ein großes Stück weiterbringe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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