Mottenburg nennen die Patienten ihre Lungenheilstätte, in der alle an derselben Krankheit leiden, alle die »Motten« haben. Einer von ihnen ist der achtjährige August, der seine Mutter auf der Flucht aus Ostpreußen verloren hat und selbst verloren wäre, gäbe es da nicht Lilo. Lilo ist siebzehn, sie ist schön, sie wagt es, sich mit der Oberschwester anzulegen, und wenn Lilo seinen Namen ausspricht, klingt er anders als sonst. Mehr als sechzig Jahre danach sind die Erinnerungen an diese Zeit immer noch präsent, kann August darin wie in einem Bilderbuch blättern. 1976 erschien »Kindheitsmuster«, Christa Wolfs großes autobiographisches Buch. Fünfunddreißig Jahre später rückt sie eine Figur daraus in den Mittelpunkt ihrer neuen Erzählung: Wir begegnen dem Jungen August wieder, lesen von einer schwierigen Kindheit im Zeichen von Krieg und Krankheit, aber auch von einem erfüllten Leben, in dem es etwas gegeben hat, das man wohl Glück nennen könnte.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Hymnisch bespricht Rezensent Dietmar Dath Christa Wolfs kurze nachgelassene Erzählung "August", in der sie noch einmal eine Figur aus ihrem 1976 erschienenen Roman "Kindheitsmuster" aufgegriffen hat. Der Kritiker, der bereits dem elternlosen Flüchtlingsjungen beim Überleben in der Nachkriegsgesellschaft und seiner ersten kindlichen Liebe folgte, erlebt in der im Jahre 2011 verfassten Erzählung den nun erwachsenen Protagonisten, der hier nicht nur auf die Liebe zu seiner inzwischen verstorbenen Lebenspartnerin zurückblickt, sondern sich erneut an seine unerwiderte Liebe aus Kindertagen erinnert. Voller Bewunderung stellt der Rezensent fest, wie es Wolf gelungen ist, die beiden Erfahrungen ihres Helden ganz ohne Sentimentalitäten ineinander zu verweben. Ein technisch brillantes, "weises" und tiefgründiges Buch, resümiert der Kritiker, der hier noch einmal den "dankbaren, erfüllten" Ton Christa Wolfs vernimmt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.12.2012Und er spürt es bis heute
Das Erlebte schützt das Erkannte: Christa Wolfs kurze nachgelassene Erzählung "August" ist ein weises Lehrgedicht in Prosa
Der unscheinbare Text sieht und hört alles, erinnert sich und redet darüber ohne Angst davor, sich Wendungen zu erlauben, die man tausendmal gehört hat - weil es ihm gerade darum geht, die Bestechlichkeit der Seele durchs phrasenhaft Immergleiche zu überwinden, in einem Akt der willentlichen Wiederentdeckung des irreduzibel Besonderen: "Ihm fällt auf, dass er in diesen alten Geschichten blättern kann wie in einem Bilderbuch, nichts ist vergessen, kein Bild verblasst. Wenn er will, sieht er alles vor sich, das Schlossinnere, die breite geschwungene Treppe, jeden einzelnen Raum, die Bettenaufteilung in dem Saal, in dem die Lilo lag." Er: Das ist August, nach dem der unscheinbare Text heißt.
Seine Autorin sieht, das ist die poetische Textvoraussetzung, sehr spät noch einmal nach, wie es einer Figur heute geht, die in ihrem Werk schon lange wohnt - seit "Kindheitsmuster" von 1976. Dort umgibt diesen August ein Erzählzusammenhang, den die Autorin seither abgestreift zu haben schien. Der elternlose Flüchtlingsjunge, den sie als Stimme reicher Erfahrung in "August" wiederentdeckt, ist im älteren Text nur in einer Art Halbtotale, gleichsam im Profil zu sehen. Im jüngeren denkt er zurück an die Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als er, elternloser Flüchtlingsjunge, dabei war, wie sich die Nachkriegsgesellschaft zusammenfand, im Mikrokosmos eines Krankenhauses, einer - geschichtsschweres Vokabular hallt nach - "Heilstätte", einer "Mottenburg" für Tuberkulöse und anderweitig Mangelgeschwächte. Augusts Weg von dort und dann nach hier und jetzt ist Christa Wolfs Chiffre fürs Vergehen der Jahre, von denen sie viele, mehr als ein halbes Jahrhundert, an der Seite Gerhard Wolfs verbracht hat, dem ein Envoi im Büchlein dafür dankt - "Was soll ich Dir schenken, mein Lieber, wenn nicht ein paar beschriebene Blätter, in die viel Erinnerung eingeflossen ist, aus der Zeit, als wir uns noch nicht kannten."
Auch August, der damals, im Krankenhaus, ein älteres Mädchen traf und sich auf kindliche Art verliebte, hat eine Weile danach eine Lebensbegleiterin gefunden. Sie ist schon gestorben, als die im Juli 2011 aufgeschriebene Geschichte beginnt. Die Liebe als gelebte Gemeinschaft hat die davor erfahrene, unwiederholbar überfordernde nicht ausgelöscht, nicht einmal überschrieben. Die beiden Erfahrungen scheinen vielmehr auf eine mit Worten nie greifbare Art ineinander verwoben: Das stabile Wunder senkt sich gleichsam ins flüchtigste, und dichterisch entspricht dem ganz, dass das kaum Benennbare in diesem Text seine Kraft aus dem klar, oft fast überdeutlich Bestimmten schöpft, aus Eigennamen, Liedertiteln, Ortsbezeichnungen.
"Irgendwann hört jeder seinen Namen wie zum erstenmal" - so steht's in "Kindheitsmuster". Jener Roman holt seine Verfügung übers Material, seine berichtende und urteilende Autorität aus der Fülle seiner Verweise aufs Wissen und Denken - das beginnt mit dem Neruda-Gedicht als Motto und dem berühmten, nicht ausgewiesenen Faulkner-Zitat übers Vergangene als Romananfang und führt bis zu dem schwindelerregenden, an Pascal anknüpfenden Leitgedanken, das Gedächtnis selbst könnte als das spezifisch Menschliche eines Tages im Historischen verschwinden - wenn sich dann niemand mehr daran erinnert, dass es einmal etwas wie "das Gedächtnis" gab, ist dies das schlimmste Sterben, das sich denken lässt.
Liest man "Kindheitsmuster" wieder, von "August" dazu eingeladen, erinnert man sich an die Vorwürfe und den Spott, die Christa Wolf seit den späten achtziger Jahren ertragen musste: Sie sei jemand, der das Begreifen überm Ergreifen vernachlässige, die emotiven Passagen ihrer Bücher überwucherten die beschreibenden und die reflexiven. Es ist nicht wahr - im Gegenteil, von "Kindheitsmuster" bis zu den "Gesammelten Erzählungen" von 1989 findet sich fast zu viel Gedankenprosa, herrscht die transparente, hell rationale Konstruktion, zusammengehalten nicht selten von Maximen, Aphoristischem, sentenziöser Logik, die spricht wie eine ortlose, an niemand Bestimmtes gerichtete Inschrift. "Irgendwann hört jeder seinen Namen wie zum erstenmal."
Dieser Sentenz antwortet in "August" eine kleine Passage, die das Sentenzenmachen einfach los wird, indem sie den hochabstrakten Gedanken liebevoll ins Allerkonkreteste bettet: "Und wie sie dann fragte, wie er heiße, und wie er ihr seinen Namen sagen musste: August. Und wie sie den Namen wiederholte, so dass er ganz anders klang, als wenn ein anderer ihn aussprach, und wie gerne er dann immer seinen Namen aus ihrem Mund hörte. Denn von diesem Tag an hing er an ihr."
Nirgends in "August" begegnen wir den Mängeln, die so viele gegenwärtige Versuche in der ars memoria belasten, dem Sentimentalen, dem Gezierten ("bemerkte die fünfjährige Chantal"), dem Altbackenen oder ihrer aller schädlichstem Gegengift, dem aufgesetzt Lakonischen. Wir sind ganz im Jetzt, wenn August die Passagiere ("eine Gruppe quietschvergnügter Rentner": das Klischee selbst schlägt hier seinen ihm wesensgemäßen Lärm) einer Busfahrt durch die Welt steuert und dabei im Unwiederbringlichen Zuflucht sucht vor dem Gefühl, es bleibe nur noch wenig Zeit, sich zu erinnern - einem Empfinden, das wenig mit dem Altern des sich erinnernden Subjekts zu tun hat und alles mit dem Altern der Welt als solcher.
Es ist das Gefühl, das man spürt, wenn man im Handy-Nummernverzeichnis auf den Namen eines Menschen stößt, der nicht mehr lebt: Man kann da nie mehr anrufen, aber man darf das nicht löschen, und das ist kaum auszuhalten, aber wahr. "August erinnert sich, dass am Abend, als das Hannelörchen gestorben war, die Lilo den Kindern kein Lied zur Guten Nacht sang. Stumm saß sie wie immer auf seinem Bett, und er fragte sie, leise, dass die anderen es nicht hörten: Bist du traurig?, und die Lilo sagte leise: Ja. Und August spürte, und er spürt es bis heute, dass er der Lilo niemals näher kommen würde als in dieser Minute, und er lernte, dass Trauer und Glück miteinander vermischt sein können."
Vor ein paar Jahren durfte der Rezensent in schicklicher Hörweite verfolgen, wie Christa Wolf in einem Berliner Restaurant beim Abendessen mit einem jüngeren Kollegen dessen neuesten Roman besprach, den sie offensichtlich mindestens so sorgfältig gelesen hatte wie das Lektorat des gemeinsamen Verlags: "Also, das Buch hat ein schreckliches Ende. Furchtbar traurig", sagte sie. Als der von diesem Urteil erkennbar bestürzte Kollege den Blick auf seine Nudeln senkte, um seine Dünnhäutigkeit nicht weiter zu entblößen, setzte die Bewunderte mit warmer Stimme hinzu, so billigend wie nachdenklich: "Aber das ist ein Ende. Es hat eins, das ist doch was." In den ersten beiden Sätzen sprach die Leserin, in den beiden andern die Lehrerin.
"August" ist, außer weise und tief, auch eine unaufdringliche Sammlung technischer Feinheiten, die sich die Schriftstellerin erarbeitet hat und die sie hier großzügig weitergibt: Wie klug ist etwa der bewegliche Querschnitt der Erzählzeiten - allein das Händchen dafür, wann und wie man aus dem Imperfekt ins Präsens wechselt und zurück, wo man für solche Scharnierstellen einen Absatz macht und wo nicht, ersetzt als Anschauungsunterricht massivste erzählkundliche Lehrbuchbatterien. Das Sanatorium, den Jungen, die von ihm scheu und sehnsuchtsvoll Geliebte: Sie alle hat es wirklich gegeben. Die Schriftstellerin war, in einem anderen Leben, beteiligt an allen Wahrheiten, von denen sie berichtet. Sie hat sie nicht erschaffen, sondern ist, sagt der dankbare, erfüllte Ton des Textes wie des Briefes, der ihn begleitet, von ihr erschaffen worden, als Person wie als Autorin. Christa Wolfs Erinnerungskunst findet in "August" kein Ende. Sie braucht keins, denn nicht nur das Leben geht weiter, sondern auch seine Wahrheit.
DIETMAR DATH
Christa Wolf: "August". Erzählung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 38 S., br., 14,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Erlebte schützt das Erkannte: Christa Wolfs kurze nachgelassene Erzählung "August" ist ein weises Lehrgedicht in Prosa
Der unscheinbare Text sieht und hört alles, erinnert sich und redet darüber ohne Angst davor, sich Wendungen zu erlauben, die man tausendmal gehört hat - weil es ihm gerade darum geht, die Bestechlichkeit der Seele durchs phrasenhaft Immergleiche zu überwinden, in einem Akt der willentlichen Wiederentdeckung des irreduzibel Besonderen: "Ihm fällt auf, dass er in diesen alten Geschichten blättern kann wie in einem Bilderbuch, nichts ist vergessen, kein Bild verblasst. Wenn er will, sieht er alles vor sich, das Schlossinnere, die breite geschwungene Treppe, jeden einzelnen Raum, die Bettenaufteilung in dem Saal, in dem die Lilo lag." Er: Das ist August, nach dem der unscheinbare Text heißt.
Seine Autorin sieht, das ist die poetische Textvoraussetzung, sehr spät noch einmal nach, wie es einer Figur heute geht, die in ihrem Werk schon lange wohnt - seit "Kindheitsmuster" von 1976. Dort umgibt diesen August ein Erzählzusammenhang, den die Autorin seither abgestreift zu haben schien. Der elternlose Flüchtlingsjunge, den sie als Stimme reicher Erfahrung in "August" wiederentdeckt, ist im älteren Text nur in einer Art Halbtotale, gleichsam im Profil zu sehen. Im jüngeren denkt er zurück an die Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als er, elternloser Flüchtlingsjunge, dabei war, wie sich die Nachkriegsgesellschaft zusammenfand, im Mikrokosmos eines Krankenhauses, einer - geschichtsschweres Vokabular hallt nach - "Heilstätte", einer "Mottenburg" für Tuberkulöse und anderweitig Mangelgeschwächte. Augusts Weg von dort und dann nach hier und jetzt ist Christa Wolfs Chiffre fürs Vergehen der Jahre, von denen sie viele, mehr als ein halbes Jahrhundert, an der Seite Gerhard Wolfs verbracht hat, dem ein Envoi im Büchlein dafür dankt - "Was soll ich Dir schenken, mein Lieber, wenn nicht ein paar beschriebene Blätter, in die viel Erinnerung eingeflossen ist, aus der Zeit, als wir uns noch nicht kannten."
Auch August, der damals, im Krankenhaus, ein älteres Mädchen traf und sich auf kindliche Art verliebte, hat eine Weile danach eine Lebensbegleiterin gefunden. Sie ist schon gestorben, als die im Juli 2011 aufgeschriebene Geschichte beginnt. Die Liebe als gelebte Gemeinschaft hat die davor erfahrene, unwiederholbar überfordernde nicht ausgelöscht, nicht einmal überschrieben. Die beiden Erfahrungen scheinen vielmehr auf eine mit Worten nie greifbare Art ineinander verwoben: Das stabile Wunder senkt sich gleichsam ins flüchtigste, und dichterisch entspricht dem ganz, dass das kaum Benennbare in diesem Text seine Kraft aus dem klar, oft fast überdeutlich Bestimmten schöpft, aus Eigennamen, Liedertiteln, Ortsbezeichnungen.
"Irgendwann hört jeder seinen Namen wie zum erstenmal" - so steht's in "Kindheitsmuster". Jener Roman holt seine Verfügung übers Material, seine berichtende und urteilende Autorität aus der Fülle seiner Verweise aufs Wissen und Denken - das beginnt mit dem Neruda-Gedicht als Motto und dem berühmten, nicht ausgewiesenen Faulkner-Zitat übers Vergangene als Romananfang und führt bis zu dem schwindelerregenden, an Pascal anknüpfenden Leitgedanken, das Gedächtnis selbst könnte als das spezifisch Menschliche eines Tages im Historischen verschwinden - wenn sich dann niemand mehr daran erinnert, dass es einmal etwas wie "das Gedächtnis" gab, ist dies das schlimmste Sterben, das sich denken lässt.
Liest man "Kindheitsmuster" wieder, von "August" dazu eingeladen, erinnert man sich an die Vorwürfe und den Spott, die Christa Wolf seit den späten achtziger Jahren ertragen musste: Sie sei jemand, der das Begreifen überm Ergreifen vernachlässige, die emotiven Passagen ihrer Bücher überwucherten die beschreibenden und die reflexiven. Es ist nicht wahr - im Gegenteil, von "Kindheitsmuster" bis zu den "Gesammelten Erzählungen" von 1989 findet sich fast zu viel Gedankenprosa, herrscht die transparente, hell rationale Konstruktion, zusammengehalten nicht selten von Maximen, Aphoristischem, sentenziöser Logik, die spricht wie eine ortlose, an niemand Bestimmtes gerichtete Inschrift. "Irgendwann hört jeder seinen Namen wie zum erstenmal."
Dieser Sentenz antwortet in "August" eine kleine Passage, die das Sentenzenmachen einfach los wird, indem sie den hochabstrakten Gedanken liebevoll ins Allerkonkreteste bettet: "Und wie sie dann fragte, wie er heiße, und wie er ihr seinen Namen sagen musste: August. Und wie sie den Namen wiederholte, so dass er ganz anders klang, als wenn ein anderer ihn aussprach, und wie gerne er dann immer seinen Namen aus ihrem Mund hörte. Denn von diesem Tag an hing er an ihr."
Nirgends in "August" begegnen wir den Mängeln, die so viele gegenwärtige Versuche in der ars memoria belasten, dem Sentimentalen, dem Gezierten ("bemerkte die fünfjährige Chantal"), dem Altbackenen oder ihrer aller schädlichstem Gegengift, dem aufgesetzt Lakonischen. Wir sind ganz im Jetzt, wenn August die Passagiere ("eine Gruppe quietschvergnügter Rentner": das Klischee selbst schlägt hier seinen ihm wesensgemäßen Lärm) einer Busfahrt durch die Welt steuert und dabei im Unwiederbringlichen Zuflucht sucht vor dem Gefühl, es bleibe nur noch wenig Zeit, sich zu erinnern - einem Empfinden, das wenig mit dem Altern des sich erinnernden Subjekts zu tun hat und alles mit dem Altern der Welt als solcher.
Es ist das Gefühl, das man spürt, wenn man im Handy-Nummernverzeichnis auf den Namen eines Menschen stößt, der nicht mehr lebt: Man kann da nie mehr anrufen, aber man darf das nicht löschen, und das ist kaum auszuhalten, aber wahr. "August erinnert sich, dass am Abend, als das Hannelörchen gestorben war, die Lilo den Kindern kein Lied zur Guten Nacht sang. Stumm saß sie wie immer auf seinem Bett, und er fragte sie, leise, dass die anderen es nicht hörten: Bist du traurig?, und die Lilo sagte leise: Ja. Und August spürte, und er spürt es bis heute, dass er der Lilo niemals näher kommen würde als in dieser Minute, und er lernte, dass Trauer und Glück miteinander vermischt sein können."
Vor ein paar Jahren durfte der Rezensent in schicklicher Hörweite verfolgen, wie Christa Wolf in einem Berliner Restaurant beim Abendessen mit einem jüngeren Kollegen dessen neuesten Roman besprach, den sie offensichtlich mindestens so sorgfältig gelesen hatte wie das Lektorat des gemeinsamen Verlags: "Also, das Buch hat ein schreckliches Ende. Furchtbar traurig", sagte sie. Als der von diesem Urteil erkennbar bestürzte Kollege den Blick auf seine Nudeln senkte, um seine Dünnhäutigkeit nicht weiter zu entblößen, setzte die Bewunderte mit warmer Stimme hinzu, so billigend wie nachdenklich: "Aber das ist ein Ende. Es hat eins, das ist doch was." In den ersten beiden Sätzen sprach die Leserin, in den beiden andern die Lehrerin.
"August" ist, außer weise und tief, auch eine unaufdringliche Sammlung technischer Feinheiten, die sich die Schriftstellerin erarbeitet hat und die sie hier großzügig weitergibt: Wie klug ist etwa der bewegliche Querschnitt der Erzählzeiten - allein das Händchen dafür, wann und wie man aus dem Imperfekt ins Präsens wechselt und zurück, wo man für solche Scharnierstellen einen Absatz macht und wo nicht, ersetzt als Anschauungsunterricht massivste erzählkundliche Lehrbuchbatterien. Das Sanatorium, den Jungen, die von ihm scheu und sehnsuchtsvoll Geliebte: Sie alle hat es wirklich gegeben. Die Schriftstellerin war, in einem anderen Leben, beteiligt an allen Wahrheiten, von denen sie berichtet. Sie hat sie nicht erschaffen, sondern ist, sagt der dankbare, erfüllte Ton des Textes wie des Briefes, der ihn begleitet, von ihr erschaffen worden, als Person wie als Autorin. Christa Wolfs Erinnerungskunst findet in "August" kein Ende. Sie braucht keins, denn nicht nur das Leben geht weiter, sondern auch seine Wahrheit.
DIETMAR DATH
Christa Wolf: "August". Erzählung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 38 S., br., 14,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.12.2012Etwas Glück nennen können
Selbstporträt mit plumpem Jungen: Christa Wolfs letzte Erzählung „August“
Zwei Städtereisen: Die erste hat die Schriftstellerin Christa Wolf bereits vor Jahrzehnten akribisch in den Straßenatlas der Weltliteratur eingraviert, die zweite dann einige Monate vor ihrem Tod im Dezember 2011 nachgetragen. Die große erste Reise lenkte durch Christa Wolfs „Kindheitsmuster“ von 1976. Zu ihr brach an einem glutheißen Samstag Anfang der siebziger Jahre eine 42-jährige Frau auf, den Kopf der schlafenden Tochter auf dem Schoß, vorne ihr Mann und ihr Bruder. Die vier waren unterwegs von Ostberlin ins polnische Gorzów Wielkopolski, das früher Landsberg an der Warthe hieß – hier aber nur als „G.“ und „L.“ eingetragen ist, denn mit derartigem Anspruch auf Allgemeingültigkeit chiffrierte Christa Wolf ihren eigenen Geburtsort.
„Kindheitsmuster“, diese Riesenwühlarbeit hinein in eine Kindheits-Indoktrinierung in der Nazi-Zeit, muss in den Siebzigerjahren für viele so etwas wie ein schwergängiger Zauberschlüssel zur Frage nach autoritärer Erziehung und den Denkverkrustungen im eigenen Kopf gewesen sein. Liest man das Buch als nach seinem Erscheinen Geborener heute zum ersten Mal, dann wundert man sich über das verbissene Selbstquälertum, mit dem ununterbrochen die Relativität alles Erlebten bewiesen werden soll, und ebenso über den skrupulösen Weichzeichner, sobald dieses Erlebte den eigenen sozialistischen Alltag betrifft. Aber man bewundert auch die dokumentarische Inbrunst, mit der da in immer neuen Selbstverhören die allmähliche Abrichtung und Panzerung einer ganzen Generation nachvollzogen wird. „Es sollte“, heißt es einmal über Christa Wolfs Roman-Spiegelbild als heranwachsendes Mädchen, „niemals mehr irgendeinem Menschen möglich sein, sie ernstlich zu treffen.“
Zwei Städtereisen, die zweite ist ungleich kleiner, freundlicher, unverbissener. Unternommen wird sie in der jetzt posthum veröffentlichten Erzählung Christa Wolfs von einem Mann, der keine Panzerung benötigte, den niemand jemals ernstlich treffen wollte. August, ein Busfahrer im Rentenalter, kutschiert um das Jahr 2005 herum eine Reisegruppe von Prag zurück nach Berlin. Auch seine Tour gerät zu einer Erinnerungsreise hinab in die Monate nach Kriegsende, und August ist dabei nicht irgendeine Figur, denn er hat schon einmal seinen Auftritt gehabt, bloß damals fast unbemerkt von seiner eigenen Erfinderin. Auf einer einzigen Seite am Ende von „Kindheitsmuster“ keuchte er heran, viele Jahre jünger, kleiner und schwächer als die sechzehnjährige Verkörperung Christa Wolfs, die in den Nachkriegswirren in einer Lungenheilstätte mithalf. „Ein plumper, vierschrötiger, schwerfälliger Junge“, hieß es damals knapp über August, und dass der Ausdruck seiner Augen den anderen Kindern und Erwachsenen Lust gemacht habe, „ihn zu quälen“. Woraufhin die Erzählerin schon wieder das Interesse an ihm verlor und sich anderem zuwandte.
Anders als Christa Wolf und ihr „Kindheitsmuster“-Spiegelbild gehört dieser August nicht dem Jahrgang 1929 an, machte kein Wechselbad in Autoritätsstrukturierung und Autoritätsverlust mit. Er war bei Kriegsende stattdessen einfach nur ein Würmchen und nahezu ohne Bewusstsein, erinnert sich jetzt in der Erzählung gerade einmal an den Urmoment, wie er auf der Flucht aus dem Osten seine Mutter verlor und in die Heilstätte geriet. Wenn er nun eine Lebenszeit später seinen Reisebus mit der schlafenden Touristen-Seniorengruppe durch die Nacht hindurch auf Berlin zusteuert, dann liegt hinter ihm ein schlichtes, gerades Leben ohne große Höhen und Tiefen.
In einem Akt nachgetragener poetischen Gerechtigkeit darf jetzt er seine Sicht der Dinge auftischen, sich an die Frau erinnern, die in „Kindheitsmuster“ so verhärtet und gefühlsarm über ihn geurteilt hatte – und beschreibt die Sanftheit und den Optimismus ihrer Handlungen in der Anstalt. Es liegt viel Zukunft vor den beiden in Augusts Erinnerungsfetzen, zwei ganze kommende Leben. Am Ende dieser gelösten, versöhnten letzten Erzählung von Christa Wolf entlässt August seine Generationsgenossen aus dem Reisebus und fährt nach Hause. Er schließt seine einsame Wohnung auf und empfindet dabei etwas, das wohl ebenso für ihn wie für die Frau gilt, der er ein einziges Mal kurz begegnet ist: „Dankbarkeit dafür, daß es in seinem Leben etwas gegeben hat, was er, wenn er es ausdrücken könnte, Glück nennen würde.“
FLORIAN KESSLER
Viel Zukunft ist in Augusts
Erinnerungsfetzen, zwei ganze
kommende Leben
Christa Wolfs nachgelassene Erzählung ist eine Aussöhnung mit der eigenen Biografie: Unser Bild zeigt die Schriftstellerin 1983 in Berlin.
FOTO: AKG-IMAGES
Christa Wolf: August.
Erzählung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 39 Seiten,
14,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Selbstporträt mit plumpem Jungen: Christa Wolfs letzte Erzählung „August“
Zwei Städtereisen: Die erste hat die Schriftstellerin Christa Wolf bereits vor Jahrzehnten akribisch in den Straßenatlas der Weltliteratur eingraviert, die zweite dann einige Monate vor ihrem Tod im Dezember 2011 nachgetragen. Die große erste Reise lenkte durch Christa Wolfs „Kindheitsmuster“ von 1976. Zu ihr brach an einem glutheißen Samstag Anfang der siebziger Jahre eine 42-jährige Frau auf, den Kopf der schlafenden Tochter auf dem Schoß, vorne ihr Mann und ihr Bruder. Die vier waren unterwegs von Ostberlin ins polnische Gorzów Wielkopolski, das früher Landsberg an der Warthe hieß – hier aber nur als „G.“ und „L.“ eingetragen ist, denn mit derartigem Anspruch auf Allgemeingültigkeit chiffrierte Christa Wolf ihren eigenen Geburtsort.
„Kindheitsmuster“, diese Riesenwühlarbeit hinein in eine Kindheits-Indoktrinierung in der Nazi-Zeit, muss in den Siebzigerjahren für viele so etwas wie ein schwergängiger Zauberschlüssel zur Frage nach autoritärer Erziehung und den Denkverkrustungen im eigenen Kopf gewesen sein. Liest man das Buch als nach seinem Erscheinen Geborener heute zum ersten Mal, dann wundert man sich über das verbissene Selbstquälertum, mit dem ununterbrochen die Relativität alles Erlebten bewiesen werden soll, und ebenso über den skrupulösen Weichzeichner, sobald dieses Erlebte den eigenen sozialistischen Alltag betrifft. Aber man bewundert auch die dokumentarische Inbrunst, mit der da in immer neuen Selbstverhören die allmähliche Abrichtung und Panzerung einer ganzen Generation nachvollzogen wird. „Es sollte“, heißt es einmal über Christa Wolfs Roman-Spiegelbild als heranwachsendes Mädchen, „niemals mehr irgendeinem Menschen möglich sein, sie ernstlich zu treffen.“
Zwei Städtereisen, die zweite ist ungleich kleiner, freundlicher, unverbissener. Unternommen wird sie in der jetzt posthum veröffentlichten Erzählung Christa Wolfs von einem Mann, der keine Panzerung benötigte, den niemand jemals ernstlich treffen wollte. August, ein Busfahrer im Rentenalter, kutschiert um das Jahr 2005 herum eine Reisegruppe von Prag zurück nach Berlin. Auch seine Tour gerät zu einer Erinnerungsreise hinab in die Monate nach Kriegsende, und August ist dabei nicht irgendeine Figur, denn er hat schon einmal seinen Auftritt gehabt, bloß damals fast unbemerkt von seiner eigenen Erfinderin. Auf einer einzigen Seite am Ende von „Kindheitsmuster“ keuchte er heran, viele Jahre jünger, kleiner und schwächer als die sechzehnjährige Verkörperung Christa Wolfs, die in den Nachkriegswirren in einer Lungenheilstätte mithalf. „Ein plumper, vierschrötiger, schwerfälliger Junge“, hieß es damals knapp über August, und dass der Ausdruck seiner Augen den anderen Kindern und Erwachsenen Lust gemacht habe, „ihn zu quälen“. Woraufhin die Erzählerin schon wieder das Interesse an ihm verlor und sich anderem zuwandte.
Anders als Christa Wolf und ihr „Kindheitsmuster“-Spiegelbild gehört dieser August nicht dem Jahrgang 1929 an, machte kein Wechselbad in Autoritätsstrukturierung und Autoritätsverlust mit. Er war bei Kriegsende stattdessen einfach nur ein Würmchen und nahezu ohne Bewusstsein, erinnert sich jetzt in der Erzählung gerade einmal an den Urmoment, wie er auf der Flucht aus dem Osten seine Mutter verlor und in die Heilstätte geriet. Wenn er nun eine Lebenszeit später seinen Reisebus mit der schlafenden Touristen-Seniorengruppe durch die Nacht hindurch auf Berlin zusteuert, dann liegt hinter ihm ein schlichtes, gerades Leben ohne große Höhen und Tiefen.
In einem Akt nachgetragener poetischen Gerechtigkeit darf jetzt er seine Sicht der Dinge auftischen, sich an die Frau erinnern, die in „Kindheitsmuster“ so verhärtet und gefühlsarm über ihn geurteilt hatte – und beschreibt die Sanftheit und den Optimismus ihrer Handlungen in der Anstalt. Es liegt viel Zukunft vor den beiden in Augusts Erinnerungsfetzen, zwei ganze kommende Leben. Am Ende dieser gelösten, versöhnten letzten Erzählung von Christa Wolf entlässt August seine Generationsgenossen aus dem Reisebus und fährt nach Hause. Er schließt seine einsame Wohnung auf und empfindet dabei etwas, das wohl ebenso für ihn wie für die Frau gilt, der er ein einziges Mal kurz begegnet ist: „Dankbarkeit dafür, daß es in seinem Leben etwas gegeben hat, was er, wenn er es ausdrücken könnte, Glück nennen würde.“
FLORIAN KESSLER
Viel Zukunft ist in Augusts
Erinnerungsfetzen, zwei ganze
kommende Leben
Christa Wolfs nachgelassene Erzählung ist eine Aussöhnung mit der eigenen Biografie: Unser Bild zeigt die Schriftstellerin 1983 in Berlin.
FOTO: AKG-IMAGES
Christa Wolf: August.
Erzählung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 39 Seiten,
14,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Christa Wolfs nachgelassene Erzählung ist eine Aussöhnung mit der eigenen Biografie.« Florian Kessler Süddeutsche Zeitung 20121203
»Ein halbes Jahr vor ihrem Tod schenkte die große deutsche Schriftstellerin ihrem Mann eine anrührende Kurzerzählung - ein Geschenk auch für uns Leser.«