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Erzählt wird von vier jüdischen Frauen, die in ein Arbeitslager im besetzten Polen deportiert wurden. Eine von ihnen, Aurelia Katz, ist schwanger. Gemeinsam gelingt es den Frauen, diese Tatsache zu verheimlichen, die Schwangere zu versorgen und das Kind nach der Geburt aus dem Lager zu schmuggeln und somit zu retten. "Ilona Karmels Figuren sind Menschen, die sich an Beziehungen klammern, was in einem Leben, wo Selbstbezogenheit identisch mit Selbsterhaltung zu sein schien, besonders auffällt. Das Buch geht jedoch davon aus, daß Menschen durch Gemeinsamkeit leben, nicht durch Vereinzelung.…mehr

Produktbeschreibung
Erzählt wird von vier jüdischen Frauen, die in ein Arbeitslager im besetzten Polen deportiert wurden. Eine von ihnen, Aurelia Katz, ist schwanger. Gemeinsam gelingt es den Frauen, diese Tatsache zu verheimlichen, die Schwangere zu versorgen und das Kind nach der Geburt aus dem Lager zu schmuggeln und somit zu retten. "Ilona Karmels Figuren sind Menschen, die sich an Beziehungen klammern, was in einem Leben, wo Selbstbezogenheit identisch mit Selbsterhaltung zu sein schien, besonders auffällt. Das Buch geht jedoch davon aus, daß Menschen durch Gemeinsamkeit leben, nicht durch Vereinzelung. Obwohl Karmel Härte und Grausamkeit mit kompromißloser Genauigkeit beschreibt, handelt ihr Roman doch weithin von Freundschaft, von Gemeinsamkeit unter Frauen." (Ruth Klüger.)
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.1998

Nachricht vom nicht lebbaren Leben
Endlich übersetzt: Ilona Karmels Roman über den Alltag der Arbeitslager / Von Sabine Brandt

Mit fast drei Jahrzehnten Verspätung erreicht uns ein Buch, mit dem wir längst hätten vertraut sein sollen, weil es wie kaum ein anderes literarisches Werk der jüngeren Zeit tief in unser aller Seelen leuchtet und das auf meisterhafte Weise tut. Der Roman "Aurelia Katz und die anderen", erstmals im Jahre 1969 in Amerika erschienen, ist weit mehr als ein Memento für den Holocaust. Seine Autorin Ilona Karmel, 1925 in Krakau geboren, hat die Lager durchlitten, in denen nach eine Definition der berüchtigten Wannsee-Konferenz die Juden "der natürlichen Verminderung durch Arbeit" ausgesetzt wurden. Doch formuliert sie weder politische Anklagen noch moralische Verdikte und schreibt niemandem seine Parteinahme vor. Sie präsentiert uns einfach eine Handvoll Menschen in der Extremsituation der Lager und verwickelt uns in deren Alltag. Sie tut, was Sache jedes wahrhaften Schriftstellers ist, sie erzählt eine Geschichte, spannend und bewegend.

Daß auch das Grauen seinen Alltag haben kann, ist eine herzbeklemmende Lehre. Wie gewöhnt man sich an ein Dasein in Hunger und Schmutz, an totale Würde-und Rechtlosigkeit, an die Rolle einer verabscheuten Ratte in der Falle? Man gewöhnt sich nicht, sagt Ilona Karmel, man lernt höchstens, mit dem Schrecken umzugehen, dem man nicht entrinnen kann. Den Figuren des Romans scheint selbst ein unerträglich reduziertes Leben noch kostbar, sie haben ja nur dieses eine. Überleben ist alles, man darf nicht aufhören zu hoffen, daß der Albtraum irgendwann, irgendwie ein Ende nimmt. Die Kraft, aus der sich ihr bißchen Hoffnung nährt, beziehen sie aus den Trümmern dessen, was einmal ihre Persönlichkeit ausmachte.

Die Autorin hat jede der Lagerfrauen mit einer Identität ausgestattet, auf deren Ursprung der Originaltitel des Romans hinweist: "An Estate of Memory", also ein Gut oder ein Besitz von Erinnerung. Jede Gefangene birgt in sich Bilder einer anderen Zeit, in der sie Frau, Mutter, Tochter, Freundin war, in der sie etwas wünschen oder ablehnen, durchsetzen oder verfehlen durfte. Alle sind im Grunde Leute aus dem Dutzend, ragen nicht über den Durchschnitt hinaus. Gerade deshalb will es uns vorkommen, als seien wir ihnen längst begegnet, bevor die Romanautorin von ihnen erzählte. Von Buchseite zu Buchseite rücken sie uns näher.

Keine der Gefangenen war jemals in Auschwitz, Treblinka, Majdanek oder kennt jemanden, der dort war. Die Vernichtungsstätten wirken aus der Ferne in das Arbeitslager hinein. Flüsterbotschaften nähren die permanente Angst, die wie ein Krebs an den Gefährdeten frißt. Lange vor den Körpern verrotten die Seelen. An den Lagerfrauen wird ein Mord auf Raten verübt, der nicht weniger furchtbar ist als der Augenblicksmord vor dem Erschießungskommando oder im Gas. Insofern ist die von Ilona Karmel erzählte Geschichte ein klassischer Holocaust-Bericht. Aber sie ist weit mehr, weil es ihr gelingt, die Opfer dieser speziellen Verfolgung mit allen Opfern aller jemals verübten Gewalt zu verbinden. Ob verfluchte Rassen oder verdammte Klassen, verhaßte Ethnien oder verpönte Andersgläubige - wer immer einer Ideologie in die Quere geriet, findet in den Lagerfrauen seine Inkarnation.

Vier Hauptfiguren tragen die Handlung des Romans. Da ist Aurelia Katz, deren Name den deutschen Titel prägt, eine schon ältere Kleinbürgerin, die eine Massenerschießung überlebte. In der Lagerhölle muß sie gewahren, daß die letzte Umarmung ihres inzwischen verschollenen Mannes ihr eine Schwangerschaft hinterließ. Da ist die halbwüchsige Alinka, die gemeinsam mit Aurelia aus dem Massengrab entkam und sich im Arbeitslager fragt, wofür das gut war. Das Mädchen Tola, eine Art jüdisches Patrizierkind, registriert angeekelt die Umkehrung aller Werte, die einst ihrem Zuhause sein vornehmes Gepräge gaben. Die idealistische Gutsbesitzerin Barbara schließlich verzichtet in einer Aufwallung von Solidarität auf die national-polnische Mimikry, die sie bisher vor dem Ärgsten schützte, und stellt sich dem allgemein jüdischen Schicksal.

Wären nicht ihre Erinnerungen, ihr "Estate of Memory", sie alle würden wohl bald zu einem formlosen Etwas verkommen, zu einer kollektiven Bestätigung dessen, was ihre Verfolger unter "Jude" verstehen. Aus den Splittern der Vergangenheit, solange sie bewahrt werden, wächst immer wieder eine Vorstellung, wie die Zukunft auszusehen habe. Man muß es nur fertigbringen, sie auch zu erleben. Bis dahin gilt es, sich aneinanderzuklammern, bei den jeweils anderen, wenn schon nicht Schutz, so doch Trost zu finden. "Zusammen! Zusammen!" rufen die vier Hauptfiguren, bettelt jede Gefangene, die zu irgend etwas kommandiert wird, was sie von den Schicksalsgenossinnen zu trennen droht. Eine verschworene Gemeinschaft also? Ach nein, so weit reicht es nicht. Alle haben denselben Hunger und dieselbe Angst, aber kein gemeinsames Ziel und schon gar keinen gemeinsamen Plan. Sie bilden ein Bündel gleichartiger und doch vereinzelter Schicksale.

Deshalb ist es auch möglich, daß sie einander Feind werden, wenn die Umstände es nahelegen und die Zumutungen des Lagerlebens sie überfordern. Dreckfresserei und Schmutz, Läuse und Seuchen, die mörderische Maloche und die entsetzliche Enge in den Baracken wetzen mit der Zeit den Schutzschild Vergangenheit dünn. Die Freundesbande halten den unerträglichen Belastungen nicht stand. Barbara bereut ihr Bekenntnis zu ihrer verfolgten Rasse und hat leider recht damit, denn sie hat sich den Untergang eingehandelt. Aurelia läßt sich verfallen bis in den Tod. Tola macht eine fragwürdige Karriere als "Anweiserin", als Befehle speiende, prügelnde Hilfskraft der deutschen Lagerherren. Noch am wenigsten schockiert die Entwicklung Alinkas, weil dem um seine Jugend betrogenen Mädchen nichts weiter einfällt, als sich feindselig vom Rest der Welt abzuschotten.

Ilona Karmel verzichtet auf Vorbildfiguren. Es wäre einfach gewesen, dem Grauen, das Menschen über Menschen zu bringen vermögen, mit Helden zu begegnen. Aber Helden sind nicht die Regel, historische Katastrophen erzeugen eher Angst, Verwirrung, Lähmung. Moralisches Handeln unter amoralischen Voraussetzungen zu verlangen ist allzu oft auch nur eine Form von Vergewaltigung, zumindest aber riecht es nach Pharisäertum. Die entscheidende Forderung muß anders lauten, nämlich: Niemand darf Menschen in Lagen zwingen, die ihre Kraft und ihren guten Willen grausam überfordern.

Der Roman geht davon aus, daß genau dieses Verbrechen immer wieder verübt wird. Gibt es keinen Lichtblick? Ab und zu scheint einer aufzuleuchten. So zum Beispiel, wenn Aurelias Kind geboren wird und die anderen drei Frauen ein wenig dazu beitragen können, daß es überlebt. Die sonst so egozentrische Tola bringt sogar einen deutschen Wachsoldaten dazu, das Baby aus dem Lager zu schaffen und in die Obhut der zwei alten Polen zu geben, die Barbaras Landgut verwalten. Und am mörderischen Kriegsende rettet Tola die unbedachte Alinka um den Preis des eigenen Lebens. Aber keine der singulären Guttaten vermittelt grundsätzliche Gewißheiten über die Stabilität menschlicher Charaktere in Grenzsituationen. Also kommt alles darauf an, jede Annäherung an solche Grenzen zu vermeiden. Das ist die Botschaft des Romans.

Ilona Karmel: "Aurelia Katz und die anderen". Roman. Mit einem Nachwort von Ruth Klüger. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dieter Turck. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1997. 525 S., geb., 49,80 DM.

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