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Der Schriftsteller Gérard de Nerval gehörte zur französischen Romantik und war mit Victor Hugo, Théophile Gautier und Heinrich Heine befreundet. Stets in Geldnöten und zunehmend von Wahnvorstellungen gequält veröffentlichte er vor allem Reiseberichte und Erzählungen und war als Übersetzer aus dem Deutschen tätig. Sein bis heute bekanntestes Werk ist die wie ein Traum des Ich-Erzählers aufgebaute Erzählung "Aurelia", die Geschichte einer fatalen Liebe, deren phantastisch-sprunghafte Erzähltechnik Baudelaire und die Surrealisten nachhaltig beeinflusste.

Produktbeschreibung
Der Schriftsteller Gérard de Nerval gehörte zur französischen Romantik und war mit Victor Hugo, Théophile Gautier und Heinrich Heine befreundet. Stets in Geldnöten und zunehmend von Wahnvorstellungen gequält veröffentlichte er vor allem Reiseberichte und Erzählungen und war als Übersetzer aus dem Deutschen tätig. Sein bis heute bekanntestes Werk ist die wie ein Traum des Ich-Erzählers aufgebaute Erzählung "Aurelia", die Geschichte einer fatalen Liebe, deren phantastisch-sprunghafte Erzähltechnik Baudelaire und die Surrealisten nachhaltig beeinflusste.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.01.2017

Der romantische Tausendfüßler
Gérard de Nervals Roman "Aurelia" ist ein Schwergewicht der französischen Literatur, doch in deutscher Übersetzung nimmt man ihn zu leicht

"Aurelia oder Der Traum und das Leben" ist eines der großen Nachtstücke der Weltliteratur. In diesem eigenartigen Werk, das in den Dunkelzonen zwischen Erfahrungsbericht und Erzählung sprießt, schildert Gérard de Nerval, bürgerlich Gérard Labrunie, seine Erlebnisse während jener geistigen Umnachtungen, die er im Abstand von etwas mehr als zehn Jahren erlitt. Mit der literarischen Darstellung der Krisen von 1841 und 1853/54 wollte der Schriftsteller ihnen literarischen und existentiellen Sinn abringen - ein Versuch, der umso verzweifelter erscheint, als Nerval sich in der Nacht vom 25. auf den 26. Januar 1855 in einer Pariser Gasse erhängte, kurz bevor der zweite Teil von "Aurelia" in der "Revue de Paris" veröffentlicht wurde.

Es ist typisch für Nerval, dass der Leser der Tragik nachforschen muss: So ernst die Themen, so enigmatisch seine Symbolwelt, so leicht oft der Ton. Nerval, ein großer Mittler zwischen Deutschland und Frankreich, steht zwar erstens in der Tradition des "Faust", den er 1827 übersetzte, und der Werke E. T. A. Hoffmanns oder Jean Pauls. Auch sucht er zweitens wie viele Romantiker mit Nachdruck nach einem Weg zum Glauben. Freilich behandelt er die düstere Wucht seiner Themen beziehungsweise den Ernst seiner Suche mit dem Detachement des Ancien Régime und der Ironie des Aufklärers. Biographisch-geographische Streifzüge wie "Promenaden und Erinnerungen" wirken auf den ersten Blick beiläufig, synästhetische Träumereien wie das Gedicht "Fantaisie" streifen Abgründe sanft wie eine Feder. Selbst in "Aurelia" scheint Nerval mitunter Konversation zu betreiben.

Der Leser hingegen hat scharfe Klippen zu umschiffen. Die erste - die Wahnsinnsfalle - stellt Nerval selbst auf: "Dabei weiß ich nicht, warum ich mich des Ausdrucks Krankheit bediene, denn niemals habe ich mich - soweit es mich selbst betrifft - wohler gefühlt." Aussagen wie diese können zur Verherrlichung des Wahnsinns im Sinne einer Vernunftkritik verführen, dabei strafen die Zwangsjackenepisode oder bedrückend-apokalyptische Visionen jede Verniedlichung Lügen. Zweitens lädt Nerval wie wenige andere dazu ein, Werk und Person zu verwechseln, und die biographische Falle meidet man nur, wenn man zwar existentielle Bezüge aufgreift, dabei aber deren ästhetische Funktion in Rechnung stellt.

Die dritte Falle geht aus der zweiten hervor: Nervals Visionen nähren sich so offensichtlich aus denselben Quellen wie sein Werk, dass die Grenzen verschwimmen. Er berichtet von einer nächtlichen Vision, in der eine Göttin zu ihm spricht: "Ich bin die gleiche wie Maria, die gleiche wie deine Mutter und auch die gleiche, welche du in allen Gestalten immer geliebt hast." Dieser Privatsynkretismus, in dem religiöse Gestalten teils okkulter Herkunft mit intimen Motiven verschmelzen, ist typisch für Nervals Werk: Er macht die hermetische Modernität seiner Dichtung aus, wie Karlheinz Stierle gezeigt hat, und prägt Nervals Haltung zum Orient. In der ägyptischen Göttin Isis meint er, die Matrix alles Weiblichen zu erkennen.

Gerade aus der scheinbaren Untrennbarkeit von Werk und Wahnsinn zieht der "romantische Tausendfüßler", wie Nerval "Aurelia" in einem Brief an Franz Liszt genannt hat, seine Faszination für die Avantgarden. In der Tat gibt es Szenen, die radikal modern wirken, mitunter gar auf aktuelle Filmbilderwelten vorauszuweisen scheinen. Nerval berichtet von einem Traum, welcher in der Wohnung "meines Ahnherren" spielt: "Drei Frauen arbeiteten in diesem Raum und stellten ohne völlige Ähnlichkeit Verwandte und Jugendfreundinnen dar. Es schien, als ob jede von ihnen die Züge mehrerer dieser Personen trüge. Die Umrisse ihrer Gesichter verwandelten sich wie eine Lampenflamme, und jeden Augenblick ging etwas von der einen in die andere über." Eine Identitätsvervielfältigung und -auflösung, die vor Wahn und Genie gespenstisch leuchtet.

Nervals nächtliche Tableaus scheinen revolutionär, sind aber im Kontext zeitgenössischer Forschungen zu sehen. Generell scheint Nerval der Medizin nicht feindlich gegenübergestanden zu haben; er hat sich für die psychiatrische Sicht auf Grenzzustände interessiert. Vermutlich stand er in Kontakt mit dem Arzt Moreau de Tours, seinerzeit eine Autorität auf dem Gebiet. In der Bewertung des Wahns trennen sich Dichter und Wissenschaftler, in seiner Beschreibung gibt es jedoch aufschlussreiche Ähnlichkeiten; beide nehmen an, dass Wahn und Traum als psychische Phänomene gleich strukturiert sind.

Zu diesem wie zu anderen Kontexten wird man in der vorliegenden Ausgabe nicht fündig: Sie ist eine un- oder schlecht inspirierte Reprise. Das zeigt bereits die Wahl, sie in der Reihe "Bibliothek der Nacht", die phantastischer Literatur gewidmet ist, zu publizieren: Phantastisch ist "Aurelia" nur, wenn man den Begriff so breittritt, dass er jede Form irrationaler Erfahrung meint. Sodann handelt es sich um die nur leicht modifizierte Wiederaufnahme der Übersetzung von Ernst Wiegand Junker (Reclam, 1971), die auf einer Nerval-Ausgabe von 1961 basiert. In den vergangenen 55 Jahren ist allerdings in Frankreich eine neue Nerval-Ausgabe in der Pléiade-Reihe erschienen sowie eine Werkausgabe bei Garnier; beide tragen den durch den frühen Tod des Autors bedingten editorischen Unsicherheiten Rechnung.

Die deutsche Übersetzung tut das nicht, und das Buch begnügt sich zudem mit zwölf spärlichen Anmerkungen - die Pléiade-Ausgabe bietet allein zu den ersten zwei Seiten mehr. Solche Exzesse müssen nicht nachvollzogen werden, dennoch ist zum Beispiel wissenswert, wann und wo Nerval seine Krisen erleidet, dass er zur Zeit der Niederschrift bei Émile Blanche in Passy in Behandlung ist, "Aurelia" auch zu therapeutischen Zwecken verfasst. Schweigen hierzu - wie zu den zahllosen Anspielungen, die neben Apuleius, Vergil, Dante, Swedenborg oder Jean Paul auch obskure Autoren und Künstler evozieren. Das Nachwort von Thomas Ballhausen, der nicht einmal weiß, dass man die particule nobiliaire nur bei einsilbigen Namen verwendet ("de Thou", aber eben nicht "de Nerval"), begnügt sich nach dem biographischen Minimum damit, über Derrida und Lukrez zu schwadronieren. Schade: "Aurelia" ist grandios, und die deutsche Leserschaft hätte eine kundige Neuausgabe verdient.

NIKLAS BENDER

Gérard de Nerval: "Aurelia oder Der Traum und das Leben". Roman.

Aus dem Französischen von Ernst W. Junker, bearbeitet und mit einem Nachwort von Thomas Ballhausen. Edition atelier, Wien 2016. 128 S., geb., 16,95 [Euro].

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