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Als Valéry Barre 1890 in Frankreich den Zug besteigt, will er seine neueste Erfindung zum Patent anmelden. Er hat den ersten Film der Welt gedreht. Das 20. Jahrhundert steht vor der Tür: Neue technische Ideen und Utopien schießen ins Kraut, gleichzeitig glauben die Menschen noch an Hellseher und Gedankenleser. Auf einmal ist Barre spurlos verschwunden. Während sein Sohn dem Vater in Europa und Amerika nachspürt, lässt sich Thomas Edison die Erfindung des Films patentieren. Edisons Frau wiederum scheint mehr an Barre junior interessiert. Marente de Moor hat einen fulminanten Roman geschrieben,…mehr

Produktbeschreibung
Als Valéry Barre 1890 in Frankreich den Zug besteigt, will er seine neueste Erfindung zum Patent anmelden. Er hat den ersten Film der Welt gedreht. Das 20. Jahrhundert steht vor der Tür: Neue technische Ideen und Utopien schießen ins Kraut, gleichzeitig glauben die Menschen noch an Hellseher und Gedankenleser. Auf einmal ist Barre spurlos verschwunden. Während sein Sohn dem Vater in Europa und Amerika nachspürt, lässt sich Thomas Edison die Erfindung des Films patentieren. Edisons Frau wiederum scheint mehr an Barre junior interessiert. Marente de Moor hat einen fulminanten Roman geschrieben, der nicht nur den Wettlauf ehrgeiziger Erfinder, sondern ein ganzes Zeitalter porträtiert.
Autorenporträt
Marente de Moor, 1972 in Den Haag geboren, lebte nach ihrem Studium der Slawistik mehrere Jahre in St. Petersburg, wo sie als Korrespondentin für niederländische und russische Medien arbeitete. Für ihren Roman "Die niederländische Jungfrau" (Suhrkamp, 2011) wurde sie mit dem AKO-Literaturpreis und dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet. Ihr Werk wurde bisher in über fünfzehn Sprachen übersetzt. Bei Hanser erschienen zuletzt ihre viel gelobten Romane Aus dem Licht (2019) und Phon (2021), für den sie den Jan-Wolkers-Preis und den Ferdinand-Bordewijk-Preis für das beste niederländischsprachige Prosawerk erhielt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2019

Der Pionier, der aus dem Zug stieg und verschwand
Marente de Moor findet den Mann, der das Kino erfand

Ein erster Satz wie ein Sog, dem man sich gerne überlässt: "Am 16. September 1890 stieg ein Mann in den Zug von Dijon nach Paris, danach hörte man nie wieder etwas von ihm." Der Mann heißt hier Valéry Barre, und er hat vermutlich den ersten Film der Geschichte gedreht, vor Edison, vor den Brüdern Lumière oder den Brüder Skladanowsky. Hier, das ist in dem Roman "Aus dem Licht". Die Niederländerin Marente de Moor hat ihn geschrieben, und im knappen Nachwort steht, dass dieser erste Film namens "Roundhay Garden Scene" 1888 von Louis Aimé Augustin Le Prince aufgenommen wurde. Zwei Sekunden des Films sind erhalten, man kann sie bei Youtube anschauen. Und das Modell für Valéry Barre ist dieser Louis Aimé Augustin Le Prince, den die Geschichtsschreibung vergaß und dessen Spur sich tatsächlich nach dem 16. September 1890 verlor.

Das hat schon zu wilden Gerüchten geführt, bevor es die große Gerüchtemaschine Internet gab. Der Brite Christopher Rawlence hat vor fast dreißig Jahren ermittelt. Seinem Buch "The Missing Reel" (auf Deutsch: "Warum verschwand Augustin Le Prince? Die mysteriöse Geschichte des Erfinders der bewegten Bilder", 1991) ließ er einen Film gleichen Titels folgen. Er sprach mit Nachkommen Le Prince', er erhielt Einsicht ins Tagebuch von dessen Ehefrau, die der festen Überzeugung war, Thomas Alva Edison habe mit dem Verschwinden zu tun, seit der nicht lange danach sein Patent für den Kinetographen einreichte.

Rawlence neigte eher zu der Annahme, Le Prince habe Selbstmord begangen, weil er wohl kurz vorm Bankrott stand. Dass Le Prince' Beitrag 1995, zum hundertsten Jubiläum des Kinos, angemessen gewürdigt worden wäre, hat allerdings auch Rawlence' Erinnerungsarbeit nicht erreicht. Spätere Spurensucher spekulierten dann über einen Auftragskiller im Dienste Edisons oder, etwas prosaischer, über einen Taxifahrer, der Le Prince nach dessen Ankunft in Paris ausgeraubt und in die Seine geworfen haben soll. Anhänger dieser Version sahen sich bestätigt von einem Foto, das 2003 im Archiv der Pariser Polizei auftauchte und einen 1890 ertrunkenen Mann zeigt. Er soll Le Prince ähneln, heißt es dazu sehr wolkig.

Marente de Moor, übrigens die Tochter der Schriftstellerin Margriet de Moor, muss sich an diesem Spiel nicht beteiligen. Sie muss sich auch gar nicht festlegen, was genau denn nun mit Le Prince alias Barre wirklich geschah, als er aus dem Zug stieg. Ihre Erzählung geht einen anderen Weg. In vier Kapiteln mit wechselnden Perspektiven folgt sie dem Erfinder, nachdem er in einem Provinzkaff namens V. ausgestiegen ist, und seinen Gedanken, "die ihm wie Fledermäuse durch den Kopf (schossen)". Sie lässt Edisons zweite Ehefrau Mina im Jahr 1902 in Amerika auf Barres Sohn Guy treffen, begleitet Guy ein Jahr zuvor bei der Suche nach seinem Vater, um schließlich Mina noch einmal das Wort zu geben.

Zwischendurch sind immer wieder kleine Textblöcke eingerückt, die sich lesen wie Reklame aus Zeitungen der Jahrhundertwende und gewissermaßen die Science-Fiction von gestern vergegenwärtigen. Da werden olfaktorische Lupen, ein Antiphon oder ein Pantograf und deren wundersame Wirkungen angepriesen. Diese Einschübe vermischen sich mit den Verfahren und Apparaten, von denen im übrigen Text die Rede ist und die sich dem überschäumenden Erfindergeist der Epoche verdanken: Optogramme, Retro-Psychokinese und andere Seltsamkeiten.

Der Effekt, den Marente de Moor durch diese Erzählweise erzielt, ist, dass einem das Seltsame und Skurrile völlig selbstverständlich erscheinen. Auch der Kinematograph ist ja nur eine unter vielen Merkwürdigkeiten. Wer mal in einem Filmmuseum staunend vor den alten Apparaten gestanden hat, weiß, dass deren Namen wie Zootrop, Kinetoskop, Bioskop, Zaubertrommel oder das fotografische Gewehr immer auch Ausdruck einer vorweggenommenen Erfüllung von Wünschen waren, denen das reale Gerät noch hinterherlief. So beschreibt der Roman auch eine Welt, in der noch weitgehend ungeschieden ist, was Wissenschaft und was Scharlatanerie, was Quacksalberei und was seriöse Erkenntnis ist. Und es ist ja historisch belegt, dass damals in Europa und Amerika parallel an mehr als hundert Maschinen gearbeitet wurde, die alle die Aufnahme, Wiedergabe und Projektion bewegter Bilder integrieren sollten.

Auch ein französisches Pendant zu Eadweard Muybridge taucht auf, der die einzelnen Phasen im Bewegungsablauf eines galoppierenden Pferdes aufnahm und mit seinem Zoopraxiskop die Aufnahmen in Bewegung versetzte. In einer solchen Atmosphäre wundert man sich ebenso wenig über Gedankenleser und Gedankendiebe, Hellseher und andere Spiritisten, die von einem herrschenden Diskurs nicht a priori ausgeschlossen sind. Am Ende ist das gar nicht so weit entfernt von einem Science-Fiction-Film wie "Inception", der im Jahr 2010 davon träumte, im Unterbewusstsein auf Raubzüge zu gehen und Ideen zu entwenden.

Marente de Moor lässt diesen anarchischen Zustand des Diskurses sehr gut anschaulich werden. Valéry Barres Vorstellung ist nicht allein von schrankenlosem Erfinderoptimismus erfüllt. Der Mann, der mit unbewegten Bildern, als Maler der damals so beliebten Panoramen, begann, hat nicht nur das technische Problem, wie man ein Trägermaterial findet, das weder brennt wie Papier, schmilzt wie Gelatine noch bricht wie Glas - "und trotzdem durchsichtig genug war, um die Bilder zu projizieren".

Ihm fehlt jedoch nicht nur Zelluloid. Er hat zugleich das Gefühl, seine Idee sei "gefährlich", "vielleicht war sie gar nicht von dieser Welt". Im Gegensatz zu späteren Zeiten ist aus der Gedanken- und Vorstellungswelt jener Zeit der Animismus nicht ganz verschwunden. "Warum so tun, als wäre etwas noch lebendig?", sagt Barres Freund Roussin. Für Barre selbst ist es ganz selbstverständlich zu denken: "Zwölf Bilder pro Sekunde reichen nicht aus, um Tote zum Leben zu erwecken." Und seinen Apparat, der Kamera und Projektor in einem sein soll, nennt er "Koboldmaki", weil die Linse an die riesigen Augen der kleinen Primaten erinnert.

Dass die Phantasiegebilde der Erfinder oft nicht weit entfernt waren von handfesten Wahngebilden, dass die Angst, es könne einem jemand zuvorkommen oder sogar die Idee stehlen, nicht sonderlich gesund war, wird im Roman an Barres Entschluss sichtbar, einfach auszusteigen. Wie auch an Thomas Alva Edisons von Obsessionen beherrschtem Alltag, der bei nachlassendem Gehör im Dunkeln sitzt, voller Misstrauen bei gleichzeitiger unerschütterlicher Überzeugung, der Welt die Zukunft zu bringen.

Bei ihrem Blick zurück in eine vergangene Zukunft übertreibt es Marente de Moor manchmal ein bisschen mit den Analogien zur Gegenwart - nicht weil sie, was eher lustig ist, einen jungen Mann "Tesla" nennt. Sondern weil sie in den weit ausgreifenden Phantasien und Phantasmen Barres den Eindruck entstehen lässt, hier habe jemand, wie nebulös auch immer, Internet und soziale Medien antizipiert. Barre sorgt sich, dass wir "unser Gedächtnis einer Maschine überlassen" oder in einem Weltall leben, "in dem wir einander sehen und hören, Zeit und Raum überwinden können". Dass man in den Tropen der Kulturkritik um 1900 die Skepsis gegenüber Big Data vorgeformt fände, ist dann doch eine sehr kühne Erfindung. Aber sie ist natürlich erlaubt, wenn man nicht einfach einen musealen historischen Roman schreiben will.

"Aus dem Licht" ist am überzeugendsten, wenn es um Barre und dessen Sohn geht. Die Ich-Erzählung von Mina Edison wirkt trotz des ironischen Blicks auf das Erfindergenie ein wenig beliebig und bekommt erst Kontur, als Barres Sohn im Hause Edison auftaucht, mit Mina flirtet und sich schließlich zu erkennen gibt. So erinnert der Roman an eine verschollene Pioniergestalt, die aus der Geschichte herausgekürzt wurde. Und zugleich ist das Buch eine faszinierende Erzählung darüber, wie eine Wahrnehmung der Welt sich dadurch veränderte, dass die Bilder in Bewegung gerieten; wie sich diese Welt beschleunigte und nicht nur ihre Wahrnehmung, wie sich Farben, Ordnungen und Zusammenhänge wandelten: "Monets diffuses Violett und Cadmiumgelb waren verschwunden, jetzt war die Welt tiefschwarz und weiß, bleischwer und gestochen scharf wie die Eisenkonstruktion dieses Bahnhofs."

Von ganz ferne erinnert das, so wie sich eine Vignette zu einem riesigen Panorama verhält, an Thomas Pynchons Roman "Gegen den Tag": ein Blick auf ein Inventar der Möglichkeiten zu einem bestimmten historischen Moment, als Wissenschaft, Spekulation und Obskurantismus noch ohne feste Hierarchien koexistierten. Von heute allerdings kann man nicht auf diese Zeit voller Zukunft und technischer Errungenschaften schauen, ohne daran zu denken, dass neben dem, was man so nachlässig "Fortschritt" nennt, zwei verheerende Weltkriege vor ihr lagen. Und daran hätte sich auch nichts geändert, wenn Louis Aimé Augustin Le Prince eines Tages wieder aufgetaucht wäre.

PETER KÖRTE

Marente de Moor: "Aus dem Licht". Roman. Aus dem Niederländischen von Bettina Bach. Hanser, 320 Seiten, 23 Euro

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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension

Rezensent Peter Körte freut sich, dass Marente de Moor, Tochter der Schriftstellerin Margriet de Moor, den vergessenen Filmpionier Louis Aimé Augustin Le Prince mit diesem Roman noch einmal zum Leben erweckt. Dass Le Prince, bei de Moor: Valery Barré, einst spurlos verschwand, interessiert die Autorin weniger. Vielmehr konzentriert sie sich auf dessen Erfindungsreichtum und "Fantasiegebilde", würzt die Geschichte mit allerlei Science-Fiction-Einfällen und schafft es, die Skurrilitäten jener geradezu anarchischen Epoche plötzlich völlig normal erscheinen zu lassen, staunt der Kritiker. Dass de Moor bisweilen die Analogien zur Gegenwart ein wenig überreizt, verzeiht der Kritiker gern: Viel zu schön erzählt sie, wie sich die Wahrnehmung der Welt veränderte, als die Bilder in Bewegung gerieten, schließt er.

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"[E]in großartiger Roman über den technischen Aufbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts." Irene Prugger, Wiener Zeitung, 17.08.19

"[E]in beeindruckendes Gemälde jener Zeit, als die Moderne mit Technik, Maschinen und Massengesellschaft machtvoll aufzog. [...] Mit viel Einfühlungsvermögen skizziert Marente de Moor eine Welt, die sich an der Nahtstelle zwischen Alt und Neu bewegte... Unwillkürlich zieht man den Vergleich zur Gegenwart mit seiner Inflation von Bildern. [...] Eine herausragende Autorin." Michael Hirz, Kölner Stadt-Anzeiger, 05.04.19

[E]ine faszinierende Erzählung darüber, wie die Wahrnehmung der Welt sich dadurch veränderte, dass die Bilder in Bewegung gerieten; wie sich diese Welt beschleunigte und nicht nur ihre Wahrnehmung, wie sich Farben, Ordnungen und Zusammenhänge wandelten." Peter Körte, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.03.19

"Marente de Moor [...] hat einen wunderbaren Erzählton. Ruhig, leichtfüßig, transparent evoziert sie Bilderdes Unheimlichen und Schattenhaften. [...] Ein spannender, schlauer, verführerischer Roman über das allmähliche Verschwinden der Einbildungskraft im Zuge der Industrialisierung." Meike Feßmann, Süddeutsche Zeitung, 19.02.19