Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind Tausende Menschen umgekommen, Hunderttausende haben Terror und Zerstörung erlitten, Millionen Bürger sind geflohen. Dennoch: unterstützt vom Westen, halten Staat und Gesellschaft stand. Aus dem Nebel des Krieges entsteht eine neue, ungewisse Zukunft. Die Autorinnen und Autoren des Bandes - Schriftsteller, Wissenschaftlerinnen und Aktivisten, Künstlerinnen und Journalisten - halten die Gleichzeitigkeit fest: die Ruinierung des Lebens und seiner Orte; die zivile und militärische Selbstbehauptung; den Willen, eine neue, friedliche Heimat zu schaffen. Sie beschreiben und analysieren die Situation der traumatisierten Menschen im Krieg - ihre tiefgreifende Veränderung, ihre Fähigkeit, sich in sehr unklaren Zeiten dennoch wiederzufinden.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Das "vielleicht wichtigste Buch zur Gegenwart" der Ukraine liest der schwer beeindruckte Rezensent Marcus Welsch mit diesem Sammelband persönlicher Perspektiven von Ukrainern und Ukrainerinnen auf das Kriegsgeschehen. Zunächst weist der Kritiker auf die hohe literarische Qualität aller hier versammelten Beiträge hin, die er als so erschütternd wie erhellend empfindet. So stockt ihm der Atem, wenn er beispielsweise Kateryna Mishchenkos Schilderung der ersten Kriegstage liest. Doch nicht nur die emotionale Situation der Betroffenen wird in diesem Band eindrücklich geschildert, auch eine soziologisch-politische Perspektive von der Ukraine als außergewöhnlichem "sozialem Mikrokosmos" eröffnet sich dem Kritiker. Positionen westlicher Intellektueller, wie Jürgen Habermas und Judith Butler, werden in verschiedenen Beiträgen erfolgreich auseinandergenommen, lesen wir. Diese Lektüre ist ein absolutes Muss, schließt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.04.2023Leben
im Krieg
In der Anthologie „Aus dem Nebel des Krieges“
erzählen Schriftstellerinnen,
Soziologen, Journalisten aus der Ukraine
VON ALEX RÜHLE
Der junge Journalist Stanislaw Assejew berichtete ab 2015 unter Pseudonym für den proukrainischen Sender Radio Liberty aus dem besetzten Donbass. 2017 verschwand er plötzlich spurlos. Ende 2019 tauchte er wieder auf: Er war zwei Jahre in russischer Lagerhaft gewesen und kam dank eines Gefangenenaustauschs frei. – So etwa würde in einer Meldung klingen, was Assejew widerfahren ist. Das Todesgrauen wäre im Wort „Lagerhaft“ luftdicht verpackt und wegerklärt.
Assejew selbst nennt die Isoljazija, so der Name der Haftanstalt, in der er 28 Monate verbracht hat, „das Donezker Konzentrationslager, ein System zur langsamen und planmäßigen Vernichtung der menschlichen Persönlichkeit“. Er hat täglich am eigenen Leib erfahren oder aus den Nebenzellen mithören müssen, wie dort gefoltert wurde: Stromdrähte an den Genitalien, Vergewaltigung, Sklavenarbeit, Erniedrigungsrituale, so bestialisch, dass die abschließende Ermordung Assejew in manchen Fällen „fast wie ein Akt der Barmherzigkeit vorkam“. Dieses Gefängnis existiert seit 2014, was aber hier im Westen niemand so recht wahrhaben wollte, obwohl das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte dortige Folterungen dokumentiert hat.Assejew hat über seine Zeit in der Isoliazija bereits einen Erzählungsband veröffentlicht. In seinem Essay „Meine Idee von Gerechtigkeit“ erzählt er nun, wie er 2021 in Zusammenarbeit mit dem Recherchekollektiv Bellingcat beweisen konnte, dass Denys Pavlovych, der Kommandant der Isoljazija, seit Frühjahr 2019 unbehelligt in Kiew lebte. Wie das möglich war, ist eine Frage für sich; wichtiger ist in diesem Zusammenhang, wie man reagiert, wenn man so etwas erfährt: „Darin liegt der Schlüssel zu Sieg oder Niederlage in diesem Krieg. … Wenn ein Vergewaltiger, Folterer und Mörder ungeschoren quasi in der Nachbarschaft lebt, wird sein Opfer schwer traumatisiert. Meine Antwort auf diese Situation bestand darin, den Täter zum Sprechen zu bringen.“
Assejew wandte sich an den ukrainischen Geheimdienst, dem es gelang, den Kommandanten festzunehmen. Pavlovych sitzt jetzt seit einem Jahr in einem ukrainischen Sondergefängnis und sagt über seine Verbrechen aus. Die Verhaftung dieses sadistischen Verbrechers veranlasste Assejew wiederum zur Gründung des Justice Initiative Funds, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kriegsverbrecher aufzuspüren und festzunehmen, die sich nach Russland abgesetzt haben, um ihnen eines Tages vor internationalen Gerichten den Prozess zu machen.
Manchmal gelingt es ja, Texte so zusammenzustellen, dass sie tatsächlich ihre Zeit einfangen. Insofern kann man der Lektorin Katharina Raabe und der Schriftstellerin, Verlegerin und Übersetzerin Kateryna Mishchenko nur gratulieren. Die beiden haben ukrainische Wissenschaftlerinnen, Autoren, Aktivisten, Künstlerinnen kurz nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine gebeten, mitten aus ihrem jeweiligen Erleben heraus mitzuschreiben, was ihnen jeweils widerfährt. „Aus dem Nebel des Krieges“, der daraus entstandene Reader, ist schon deshalb lesenswert, weil die meisten der Beiträge versuchen, das kollektive Trauma ähnlich konstruktiv umzumünzen, wie es Assejew in seinem kühlen Bericht tut.
Kateryna Mishchenko erzählt im Vorwort von einem russischen Soldaten, der eine Überwachungskamera aus der ukrainischen Stadt Liman stahl. Seine ukrainischen Besitzer sahen einige Wochen später die Bilder, die sie übertrug. Sie kamen aus einer Wohnung in Burjatien. „In diesem Krieg zu kämpfen“, so Mishchenko, „bedeutet unter anderem, sich die gestohlene Sicht und den eigenen Blick auf die Welt zurückzuholen.“ Autopsie bedeutet wörtlich übersetzt, etwas mit eigenen Augen zu sehen. Dieses Buch ist Autopsie im doppelten Sinne: Es ergibt im Gesamtbild die Obduktion eines geschändeten, zerstörten Landes. Und man kann sich dank der Texte selbst ein Bild davon machen: Die Soziologin Svitlana Matviyenko versucht russische Desinformationspraktiken zu rekonstruieren, indem sie zeigt, wie verschleppte Ukrainer durch immer neue Befragungen, Umverlegungen, Leibesvisitationen mürbe gemacht und ihre Aussagen dann im Fernsehen als Propagandafutter verwendet werden. Während russische Bomben auf Charkiw regnen, diskutiert die Kultur- und Wissenschaftstheoretikerin Iryna Zherebkina mit ihren Studierenden die Texte von Noam Chomsky und Jürgen Habermas, die aus verschiedenen Gründen für die Definition von Kriegszielen Verhandlungen plädieren. Angelina Kariakinas Requiem auf Mariupol erzählt
davon, dass es kein Zufall war, dass diese Stadt komplett zerstört wurde, verteidigte sie sich doch 2014 erfolgreich gegen die
Annexion und wurde so zum doppelten Symbol: Für die Ukrainer war Mariupol ein Ort der Hoffnung, „dass es möglich ist, sich vor dem Krieg zu schützen, den Donbass wieder aufzubauen, in Freiheit und
Sicherheit zu leben.“ Für die Russen aber wurde sie zu einem Ort, den es unbedingt auszulöschen gilt – was ihnen gelungen ist, nach Angaben der Behörden sind heute 95 Prozent des Wohnungsbestandes zerstört.
Alissa Ganijewa, eine in Dagestan geborene Russin, die nach Ausbruch des Krieges nach Kasachstan geflohen ist, überlegt, warum sich sogar ihre oppositionell gesinnten Landsleute so schwer damit tun, die Dinge klar beim Namen zu nennen und statt dessen andauernd nur mit der Suche nach privater Absolution, Selbstrechtfertigung oder Selbstmitleid befasst sind. Ganijewa fing nach der Annexion der Krim an, sich gegen russische Propaganda und Denunziation zu engagieren und unterstützte Aktivisten, die wegen der Teilnahme an ungenehmigten Demonstrationen vor Gericht landeten. Sie sammelt nun all die argumentativen Verteidigungsmuster, die geradezu verblüffend an „Die Unfähigkeit zu trauern“ erinnern, in dem das Psychologenehepaar Mitscherlich die Verdrängungs- und Verleugnungsstrategien ehemaliger Hitler-Anhänger gegenüber den Verbrechen der Nazizeit und ihrer eigenen Verstrickung in Schuld und Mitschuld herausgearbeitet haben.
Bei aller analytischen Schärfe geht ein tiefes Zittern durch diese Texte, man spürt ihnen oft an, dass sie auf der Flucht geschrieben wurden, an der Front, in Erwartung neuer Zerstörung. Die Seiten sind feucht von Tränen, „seit Kriegsbeginn habe ich mehr geweint als mein ganzes Erwachsenenleben zuvor“, schreibt der Autor Artem Chapeye, der am 23. Februar 2022 mit seinen Söhnen im Arm einschlief, in dem Zelt, das sie manchmal im Kinderzimmer aufbauten, um in ihrer Hochhauswohnung in Kiew Abenteuerurlaub zu simulieren. Er glaubte nicht daran, dass Russland tatsächlich angreifen würde. Chapeye hat Mahatma Ghandis Texte über die Gewaltfreiheit ins Ukrainische übersetzt und seine Kinder nach Anarchisten benannt. Der Held seines ersten Romans schrieb ein Gedicht, in dem die Zeile vorkam: „Wenn ein Krieg kommt, werde ich Deserteur.“ Dieser Artem Chapeye musste lernen, das all dass „keine Relevanz mehr hat, wenn man seine Kinder unter Bombenlärm weckt.“ Also meldet er sich freiwillig, so wie die meisten seiner Freunde. Walter Kempowski sagte mal in Bezug auf sein großes Erinnerungsprojekt „Echolot“, dieses kollektive Tagebuch aus dem Zweiten Weltkrieg, eine Zeit könne eher durch das „Finden als das Erfinden” authentisch wiedergegeben werden. „Aus dem Nebel des Krieges“ ist ein großer Fund. Gerade weil diese Texte alle so unmittelbar sind, geschrieben aus den Ruinen des bisherigen Lebens, kann man sich nur wundern über deren Dichte. Es ist eines dieser Bücher, die ihre Zeit auf jeder Seite ein und auszuatmen scheinen, als seien sie die Lunge, in der der Sauerstoff unserer Gegenwart verarbeitet wird.
Die Texte sind unmittelbar
aus den Ruinen
des Lebens geschrieben
Katharina Raabe, Kateryna Mishchenko (Hrsg.): Aus dem Nebel des Krieges.
Die Gegenwart der Ukraine. Edition Suhrkamp,
Berlin 2023.
288 Seiten, 20 Euro.
Einer der Texte stammt von einem Pazifisten, der lernen musste, dass „all das keine Relevanz mehr hat, wenn man seine Kinder unter Bombenlärm weckt“, und sich freiwillig meldet: Soldat in Bachmut, Januar 2023.
Foto: AP
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im Krieg
In der Anthologie „Aus dem Nebel des Krieges“
erzählen Schriftstellerinnen,
Soziologen, Journalisten aus der Ukraine
VON ALEX RÜHLE
Der junge Journalist Stanislaw Assejew berichtete ab 2015 unter Pseudonym für den proukrainischen Sender Radio Liberty aus dem besetzten Donbass. 2017 verschwand er plötzlich spurlos. Ende 2019 tauchte er wieder auf: Er war zwei Jahre in russischer Lagerhaft gewesen und kam dank eines Gefangenenaustauschs frei. – So etwa würde in einer Meldung klingen, was Assejew widerfahren ist. Das Todesgrauen wäre im Wort „Lagerhaft“ luftdicht verpackt und wegerklärt.
Assejew selbst nennt die Isoljazija, so der Name der Haftanstalt, in der er 28 Monate verbracht hat, „das Donezker Konzentrationslager, ein System zur langsamen und planmäßigen Vernichtung der menschlichen Persönlichkeit“. Er hat täglich am eigenen Leib erfahren oder aus den Nebenzellen mithören müssen, wie dort gefoltert wurde: Stromdrähte an den Genitalien, Vergewaltigung, Sklavenarbeit, Erniedrigungsrituale, so bestialisch, dass die abschließende Ermordung Assejew in manchen Fällen „fast wie ein Akt der Barmherzigkeit vorkam“. Dieses Gefängnis existiert seit 2014, was aber hier im Westen niemand so recht wahrhaben wollte, obwohl das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte dortige Folterungen dokumentiert hat.Assejew hat über seine Zeit in der Isoliazija bereits einen Erzählungsband veröffentlicht. In seinem Essay „Meine Idee von Gerechtigkeit“ erzählt er nun, wie er 2021 in Zusammenarbeit mit dem Recherchekollektiv Bellingcat beweisen konnte, dass Denys Pavlovych, der Kommandant der Isoljazija, seit Frühjahr 2019 unbehelligt in Kiew lebte. Wie das möglich war, ist eine Frage für sich; wichtiger ist in diesem Zusammenhang, wie man reagiert, wenn man so etwas erfährt: „Darin liegt der Schlüssel zu Sieg oder Niederlage in diesem Krieg. … Wenn ein Vergewaltiger, Folterer und Mörder ungeschoren quasi in der Nachbarschaft lebt, wird sein Opfer schwer traumatisiert. Meine Antwort auf diese Situation bestand darin, den Täter zum Sprechen zu bringen.“
Assejew wandte sich an den ukrainischen Geheimdienst, dem es gelang, den Kommandanten festzunehmen. Pavlovych sitzt jetzt seit einem Jahr in einem ukrainischen Sondergefängnis und sagt über seine Verbrechen aus. Die Verhaftung dieses sadistischen Verbrechers veranlasste Assejew wiederum zur Gründung des Justice Initiative Funds, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kriegsverbrecher aufzuspüren und festzunehmen, die sich nach Russland abgesetzt haben, um ihnen eines Tages vor internationalen Gerichten den Prozess zu machen.
Manchmal gelingt es ja, Texte so zusammenzustellen, dass sie tatsächlich ihre Zeit einfangen. Insofern kann man der Lektorin Katharina Raabe und der Schriftstellerin, Verlegerin und Übersetzerin Kateryna Mishchenko nur gratulieren. Die beiden haben ukrainische Wissenschaftlerinnen, Autoren, Aktivisten, Künstlerinnen kurz nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine gebeten, mitten aus ihrem jeweiligen Erleben heraus mitzuschreiben, was ihnen jeweils widerfährt. „Aus dem Nebel des Krieges“, der daraus entstandene Reader, ist schon deshalb lesenswert, weil die meisten der Beiträge versuchen, das kollektive Trauma ähnlich konstruktiv umzumünzen, wie es Assejew in seinem kühlen Bericht tut.
Kateryna Mishchenko erzählt im Vorwort von einem russischen Soldaten, der eine Überwachungskamera aus der ukrainischen Stadt Liman stahl. Seine ukrainischen Besitzer sahen einige Wochen später die Bilder, die sie übertrug. Sie kamen aus einer Wohnung in Burjatien. „In diesem Krieg zu kämpfen“, so Mishchenko, „bedeutet unter anderem, sich die gestohlene Sicht und den eigenen Blick auf die Welt zurückzuholen.“ Autopsie bedeutet wörtlich übersetzt, etwas mit eigenen Augen zu sehen. Dieses Buch ist Autopsie im doppelten Sinne: Es ergibt im Gesamtbild die Obduktion eines geschändeten, zerstörten Landes. Und man kann sich dank der Texte selbst ein Bild davon machen: Die Soziologin Svitlana Matviyenko versucht russische Desinformationspraktiken zu rekonstruieren, indem sie zeigt, wie verschleppte Ukrainer durch immer neue Befragungen, Umverlegungen, Leibesvisitationen mürbe gemacht und ihre Aussagen dann im Fernsehen als Propagandafutter verwendet werden. Während russische Bomben auf Charkiw regnen, diskutiert die Kultur- und Wissenschaftstheoretikerin Iryna Zherebkina mit ihren Studierenden die Texte von Noam Chomsky und Jürgen Habermas, die aus verschiedenen Gründen für die Definition von Kriegszielen Verhandlungen plädieren. Angelina Kariakinas Requiem auf Mariupol erzählt
davon, dass es kein Zufall war, dass diese Stadt komplett zerstört wurde, verteidigte sie sich doch 2014 erfolgreich gegen die
Annexion und wurde so zum doppelten Symbol: Für die Ukrainer war Mariupol ein Ort der Hoffnung, „dass es möglich ist, sich vor dem Krieg zu schützen, den Donbass wieder aufzubauen, in Freiheit und
Sicherheit zu leben.“ Für die Russen aber wurde sie zu einem Ort, den es unbedingt auszulöschen gilt – was ihnen gelungen ist, nach Angaben der Behörden sind heute 95 Prozent des Wohnungsbestandes zerstört.
Alissa Ganijewa, eine in Dagestan geborene Russin, die nach Ausbruch des Krieges nach Kasachstan geflohen ist, überlegt, warum sich sogar ihre oppositionell gesinnten Landsleute so schwer damit tun, die Dinge klar beim Namen zu nennen und statt dessen andauernd nur mit der Suche nach privater Absolution, Selbstrechtfertigung oder Selbstmitleid befasst sind. Ganijewa fing nach der Annexion der Krim an, sich gegen russische Propaganda und Denunziation zu engagieren und unterstützte Aktivisten, die wegen der Teilnahme an ungenehmigten Demonstrationen vor Gericht landeten. Sie sammelt nun all die argumentativen Verteidigungsmuster, die geradezu verblüffend an „Die Unfähigkeit zu trauern“ erinnern, in dem das Psychologenehepaar Mitscherlich die Verdrängungs- und Verleugnungsstrategien ehemaliger Hitler-Anhänger gegenüber den Verbrechen der Nazizeit und ihrer eigenen Verstrickung in Schuld und Mitschuld herausgearbeitet haben.
Bei aller analytischen Schärfe geht ein tiefes Zittern durch diese Texte, man spürt ihnen oft an, dass sie auf der Flucht geschrieben wurden, an der Front, in Erwartung neuer Zerstörung. Die Seiten sind feucht von Tränen, „seit Kriegsbeginn habe ich mehr geweint als mein ganzes Erwachsenenleben zuvor“, schreibt der Autor Artem Chapeye, der am 23. Februar 2022 mit seinen Söhnen im Arm einschlief, in dem Zelt, das sie manchmal im Kinderzimmer aufbauten, um in ihrer Hochhauswohnung in Kiew Abenteuerurlaub zu simulieren. Er glaubte nicht daran, dass Russland tatsächlich angreifen würde. Chapeye hat Mahatma Ghandis Texte über die Gewaltfreiheit ins Ukrainische übersetzt und seine Kinder nach Anarchisten benannt. Der Held seines ersten Romans schrieb ein Gedicht, in dem die Zeile vorkam: „Wenn ein Krieg kommt, werde ich Deserteur.“ Dieser Artem Chapeye musste lernen, das all dass „keine Relevanz mehr hat, wenn man seine Kinder unter Bombenlärm weckt.“ Also meldet er sich freiwillig, so wie die meisten seiner Freunde. Walter Kempowski sagte mal in Bezug auf sein großes Erinnerungsprojekt „Echolot“, dieses kollektive Tagebuch aus dem Zweiten Weltkrieg, eine Zeit könne eher durch das „Finden als das Erfinden” authentisch wiedergegeben werden. „Aus dem Nebel des Krieges“ ist ein großer Fund. Gerade weil diese Texte alle so unmittelbar sind, geschrieben aus den Ruinen des bisherigen Lebens, kann man sich nur wundern über deren Dichte. Es ist eines dieser Bücher, die ihre Zeit auf jeder Seite ein und auszuatmen scheinen, als seien sie die Lunge, in der der Sauerstoff unserer Gegenwart verarbeitet wird.
Die Texte sind unmittelbar
aus den Ruinen
des Lebens geschrieben
Katharina Raabe, Kateryna Mishchenko (Hrsg.): Aus dem Nebel des Krieges.
Die Gegenwart der Ukraine. Edition Suhrkamp,
Berlin 2023.
288 Seiten, 20 Euro.
Einer der Texte stammt von einem Pazifisten, der lernen musste, dass „all das keine Relevanz mehr hat, wenn man seine Kinder unter Bombenlärm weckt“, und sich freiwillig meldet: Soldat in Bachmut, Januar 2023.
Foto: AP
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»[D]ie erste groß angelegte literarisch-essayistische Bestandsaufnahme seit Beginn des Krieges.« Paul Ingendaay Frankfurter Allgemeine Zeitung 20230612