Die Suche nach einer Novelle gerät zu einem Abenteuer der Extraklasse. Sie beginnt im Prag der 1920er Jahre, führt Mitte des 20. Jahrhunderts durch die umkämpften Hügel von Hebron und die Obstgärten um Jaffa und zurück in eine abgedrehte Zukunft wie aus Matrix - «Gib acht, was du träumst!»
Alles beginnt mit der sagenhaften Geschichte des Mannes, dessen Gesicht in Grimm erstarrte. Zuerst hört Uri davon in Israel, von seiner Großmutter Zippora. Später schwärmt die heißgeliebte Julia davon. Als Zippora verstirbt und Julia auf rätselhafte Weise verschwindet, macht Uri sich auf die Suche nach der verschollenen Novelle, nach darin verborgenen Zeichen, weil er die Hoffnung nicht aufgibt, Julia wiederzufinden.
Uris fieberhafte Besessenheit treibt ihn in wildem Zickzackkurs durch Zeiten und Welten, durch das alte Osteuropa, die Levante und das Internet bis an den Rand des Wahnsinns - hinein in ein zutiefst persönliches Geheimnis. Am Ende muss er sich eingestehen, dass zwar alles einen Sinn ergibt, aber nichts passt.
Alles beginnt mit der sagenhaften Geschichte des Mannes, dessen Gesicht in Grimm erstarrte. Zuerst hört Uri davon in Israel, von seiner Großmutter Zippora. Später schwärmt die heißgeliebte Julia davon. Als Zippora verstirbt und Julia auf rätselhafte Weise verschwindet, macht Uri sich auf die Suche nach der verschollenen Novelle, nach darin verborgenen Zeichen, weil er die Hoffnung nicht aufgibt, Julia wiederzufinden.
Uris fieberhafte Besessenheit treibt ihn in wildem Zickzackkurs durch Zeiten und Welten, durch das alte Osteuropa, die Levante und das Internet bis an den Rand des Wahnsinns - hinein in ein zutiefst persönliches Geheimnis. Am Ende muss er sich eingestehen, dass zwar alles einen Sinn ergibt, aber nichts passt.
»Endlich wieder ein Roman aus Israel, in dem die Literatur vom Kopf auf die Füße gestellt wird. Bravo, Uri Jitzchak Katz!« Maxim Biller
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Marko Martin hat Uri Jitchak Katz' monumentalen 500-Seiten-Roman mit Interesse gelesen. Es handelt sich um eine Art Palimpsest: Denn der 1924 in Prag verfasste Text eines Anschel Katz setzt sich im realen, vorliegenden Roman fort, wird um- und weitergeschrieben. Die Haupthandlung spielt im Israel der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wo Anschels Sohn - Großvater einer Figur, die heißt wie der reale Autor - bei einem palästinensischen Vergeltungsschlag ums Leben kommt; Figuren und Namen aus dem Ursprungstext tauchen auf (im Roman-Universum), Reales und Fiktionales wird ununterscheidbar. Die Freude an dieser komplexen Geschichte schwindet laut Rezensent durch die allzu geplante und ihn letztlich erschöpfende Konstruktion; mit Roberto Bolanos Metafiktionen, mit denen Katz' Roman verglichen wurde, kann er Martin zufolge nicht mithalten, zur Lektüre empfehlen würde er ihn dennoch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.05.2024Der innere
Nahostkonflikt
Der absolute Roman – so etwas schreibt
heute keiner mehr? Doch. Der israelische
Autor Uri Jitzchak Katz und sein Debüt.
VON FELIX STEPHAN
Es gibt in der Literatur, wenn man die modernistischen Romane von James Joyce, Michail Bulgakow oder Witold Gombrowicz liest, diese Momente, in denen man denkt: So etwas Kühnes und Abwegiges und Phänomenales würde heute gar nicht mehr verlegt. Und dann blickt man trübsinnig aus dem Fenster auf eine intellektuell verkommene Gegenwart und gleitet sanft in jene samtene Wehmut, in die einen eben nur Klassiker versetzen können und für die man das Buch im Grunde ja auch gekauft hat.
Ansonsten gibt es in dieser Hinsicht eigentlich gar keinen Grund zur Klage, zumal jetzt, da der Roman „Aus dem Nichts kommt die Flut“ des israelischen Schriftstellers Uri Jitzchak Katz erschienen ist. Es handelt sich bei diesem Buch um ein megalomanes, riesenhaftes Kunstwerk, das einen, schon wenn man nur wiedergeben will, worum es darin geht, nötigt, auf Hilfskonstruktionen zurückzugreifen und zum Beispiel die dramaturgische Ordnung des Romans kurz beiseitezulassen, um stattdessen chronologisch vorzugehen.
Die Geschichte sähe dann so aus: Im Prag des frühen 20. Jahrhunderts fassen die Studenten Max Brod, Franz Kafka, Felix Weltsch, Shmuel Hugo Bergmann und Anschel Katz eines Tages den Entschluss, gemeinsam eine Erzählung namens „Der Mann, dem das Gesicht in Grimm erstarrte“ zu schreiben. Sie legen den Titel fest, verteilen untereinander die Kapitel, und dann geht’s auch schon los.
Die Kunde des Wettbewerbs verbreitet sich an der Universität in rasender Geschwindigkeit, und wegen des großen Andrangs öffnen sie ihn schließlich für alle, die bereit sind, die Teilnahmegebühr auf den Tisch zu legen. Die Autorschaft der ursprünglichen Erzählung, die der Freundeskreis zusammen verfasst hat, schreiben sie einem gewissen Pavel Klemzcek zu, einem Studenten, den sie aus der Universität kennen, der ein verbiesterter Antisemit ist und sich so herrlich darüber ärgert, dass sein Name auf einmal in aller Munde ist.
Die Chiffre „Pavel Klemczek“ wird in der Folge zu einem der größten Geheimnisse der europäischen Literaturgeschichte, so erzählt es Uri Jitzchak Katz im Roman: Einerseits scheint er der größte Autor des frühen 20. Jahrhundert zu sein, der Autor, der wie kein Zweiter das Werk Franz Kafkas beeinflusst hat, andererseits gibt es von ihm nur diese eine Erzählung. Ansonsten weiß man nur, dass er zum Frühestmöglichen der NSDAP beigetreten ist.
In ihrer Urfassung handelt die Erzählung „Der Mann, dem das Gesicht in Grimm erstarrte“ von dem leitenden Direktor des Prager Patentamtes, der einen Arzt aufsucht, weil er den grimmigen Ausdruck auf seinem Gesicht nicht mehr loswird. Der Arzt verschreibt ihm eine imaginäre Arznei und rät ihm, ab sofort auf jede Verstellung zu verzichten und nur noch das zu tun, was er wirklich möchte, um auf diese Weise das Gesicht wieder zum Fenster seiner Seele zu machen. Daraufhin schlägt der leitende Direktor seinen Job in den Wind, verlässt seine Frau und versucht, mit seiner Geliebten durchzubrennen.
Als Kafka stirbt, zerstreut sich der Kreis, und einer seiner Mitglieder, Anschel Katz, nimmt die Erzählung mit nach Palästina. Als auch er stirbt, hinterlässt er einen Sohn, Jitzchak Jeschajahu Katz, der 1948 bei der Verteidigung des Kibbuz Kfar Etzion ums Leben kommt, einen Tag vor der Gründung des Staates Israel. Dessen Enkel wiederum ist nun der Autor dieses Romans. Man weiß von ihm nicht viel mehr als die knappen Informationen, die der Verlag bereitstellt: Er ist nicht mehr ganz jung, hat bislang vor allem fürs Fernsehen geschrieben und arbeitet gerade an einem Film, in dem es um den Eurovision Song Contest und schwedische Nazis geht. Außerdem lebt er in Jaffa.
In einem der zahlreichen Handlungsstränge versucht dieser Uri Jitzchak Katz, ein Vorwort zur ersten Ausgabe der Erzählung „Der Mann, dem das Gesicht in Grimm erstarrte“ zu formulieren, das er erstmals in gedruckter und vollständiger Form herausbringen möchte. Aber weil er sich nicht kurzfassen kann, wird dieses Vorwort immer länger und nimmt bald die Gestalt eines autofiktionalen Romans an.
Das ist ungefähr die Ausgangslage. Aber schon vor einiger Zeit hat der israelische Literaturkritiker Tzur Ehrlich von der nationalreligiösen israelischen Zeitung Makor Rischon einmal versucht, die Anzahl der Handlungsstränge in diesem Roman zu sortieren, und sie aufwendig ausgezählt. Am Ende stand da die Zahl Sechs, aber auch in dieser Angelegenheit dürfte das letzte Wort noch nicht gesprochen sein. Die Geschichte von dem „Mann, dem das Gesicht in Grimm erstarrte“, wird im Laufe des Romans in immer neuen Varianten immer wieder neu erzählt – als Science-Fiction-Roman, in dem Cyborgs die Menschheit in Reservationen halten, oder in einer arabischen Abwandlung als Geschichte „des Kalifen, der immer zornig war“. Mal kommen im Zuge literaturgeschichtlicher Recherchen neue Kapitel hinzu, mal wird eine bis dahin völlig unbekannte Erzählung entdeckt, die ein Londoner Kritiker für den Wettbewerb geschrieben hatte, viele Jahre später, als schon alle Beteiligten tot waren.
Zum Anspruch dieses Buchs, der „absolute Roman“ zu sein und alle theoretischen möglichen Romane bereits zu enthalten, indem er gewissermaßen den Prozess der fortschreitenden Literaturgeschichte selbst nachahmt, gehört, dass diese Erzählungen und Stränge jeweils den Stilen echter literarischer Traditionen nachempfunden sind: Die tschechische Variante ist also eine böhmische Groteske, die arabische Variante eine reich ornamentierte Ableitung der „Märchen aus 1001 Nacht“. An einer Stelle wird im Stile des „Braven Soldaten Schwejk“ erzählt, wie eine israelische Einheit bei einem simulierten Giftgasangriff beinahe mehrere Tote zu vermelden hat, obwohl es ja gar kein Gas gab. Es stellen sich nur alle so ungeschickt an, dass ihre Gasmasken kaputtgehen und sie in panischer Todesangst anfangen, übereinander herzufallen.Man kann den Roman als eine Borgesianische Parabel auf die jüdisch-biblische Erzähltradition an sich lesen. Der Roman verschränkt die Familiengeschichte des Erzählers Uri Jitzchak Katz mit der Geschichte der jüdischen Literatur, mit ihren Wurzeln in Osteuropa, ihren Verschränkungen und Kreuzungen mit der arabischen Literatur, ihrem alttestamentarischen Referenzrahmen. Wie die Bibel ist auch „Der Mann, dem das Gesicht in Grimm erstarrte“ das Ergebnis eines kollektiven Schreibaktes, aus dem sich im Zuge der Jahrhunderte ungefähr so viele neue Erzählungen ableiteten, wie zuvor in sie eingeflossen waren.
Aber im Kern geht es um den Zionismus und um den Kampf, der um Israels Seele tobt. Der Basler Judaist Alfred Bodenheimer hat kürzlich geschrieben, man müsse den Roman vor dem Hintergrund einer demografischen Entwicklung sehen, die seit einigen Jahren das Gesicht Israels verändere. Während sich die Elite des Landes bislang als Teil der europäischen, abendländischen Kultur verstanden hat, nähme der Einfluss der Israelis heute zu, deren Wurzeln in Nordafrika und den arabischen Ländern liegen. Je mehr sich Israel jedoch in ein Land des Nahen Ostens verwandele, desto milder blickten die westlich geprägten Teile des Landes auf das alte Europa.
Im Zuge einer Entwicklung, die Bodenheimer den „umgekehrten Zionismus“ nennt, wird Europa für viele Israelis wieder zum Sehnsuchtsort. Auch Uri Jitzchak Katz verflucht an einer Stelle seinen Urgroßvater dafür, dass dieser Europa je verlassen hat und er deswegen jetzt in dieser zerrütteten Weltregion leben müsse, die nur Leid und Traumata hervorbringe.
Der Nahostkonflikt beginnt für Uri Jitzchak Katz bei den Selbstbildern. Identität aber ist bei ihm vor allem das Ergebnis einer erzählerischen Tradition, die wahnsinnig unübersichtlich ist. Die Überlieferung ist unzuverlässig, und die Einflüsse und Vorbilder kommen aus der ganzen Welt.
Der Roman löst für Israel das auf, was Jan Assmann einst die „mosaische Unterscheidung“ genannt hat: die Trennung zwischen Juden und Gojim, zwischen Muslimen und Ungläubigen, zwischen Christen und Heiden – jene Trennung also, die seit Anbeginn der Zeiten kulturelle Räume durchschneidet und immer beides stiftet, so Assmann, Bedeutung und Gewalt.
Uri Jitzchak Katz:
Aus dem Nichts kommt die Flut. Roman. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Hoffmann und Campe, Hamburg 2024.
576 Seiten, 26 Euro.
Uri Jitzchak Katz erzählt von dem Kampf, der um Israels Seele tobt: Straßenszene in Jerusalem.
Foto: B. Zawrzel/Imago
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Nahostkonflikt
Der absolute Roman – so etwas schreibt
heute keiner mehr? Doch. Der israelische
Autor Uri Jitzchak Katz und sein Debüt.
VON FELIX STEPHAN
Es gibt in der Literatur, wenn man die modernistischen Romane von James Joyce, Michail Bulgakow oder Witold Gombrowicz liest, diese Momente, in denen man denkt: So etwas Kühnes und Abwegiges und Phänomenales würde heute gar nicht mehr verlegt. Und dann blickt man trübsinnig aus dem Fenster auf eine intellektuell verkommene Gegenwart und gleitet sanft in jene samtene Wehmut, in die einen eben nur Klassiker versetzen können und für die man das Buch im Grunde ja auch gekauft hat.
Ansonsten gibt es in dieser Hinsicht eigentlich gar keinen Grund zur Klage, zumal jetzt, da der Roman „Aus dem Nichts kommt die Flut“ des israelischen Schriftstellers Uri Jitzchak Katz erschienen ist. Es handelt sich bei diesem Buch um ein megalomanes, riesenhaftes Kunstwerk, das einen, schon wenn man nur wiedergeben will, worum es darin geht, nötigt, auf Hilfskonstruktionen zurückzugreifen und zum Beispiel die dramaturgische Ordnung des Romans kurz beiseitezulassen, um stattdessen chronologisch vorzugehen.
Die Geschichte sähe dann so aus: Im Prag des frühen 20. Jahrhunderts fassen die Studenten Max Brod, Franz Kafka, Felix Weltsch, Shmuel Hugo Bergmann und Anschel Katz eines Tages den Entschluss, gemeinsam eine Erzählung namens „Der Mann, dem das Gesicht in Grimm erstarrte“ zu schreiben. Sie legen den Titel fest, verteilen untereinander die Kapitel, und dann geht’s auch schon los.
Die Kunde des Wettbewerbs verbreitet sich an der Universität in rasender Geschwindigkeit, und wegen des großen Andrangs öffnen sie ihn schließlich für alle, die bereit sind, die Teilnahmegebühr auf den Tisch zu legen. Die Autorschaft der ursprünglichen Erzählung, die der Freundeskreis zusammen verfasst hat, schreiben sie einem gewissen Pavel Klemzcek zu, einem Studenten, den sie aus der Universität kennen, der ein verbiesterter Antisemit ist und sich so herrlich darüber ärgert, dass sein Name auf einmal in aller Munde ist.
Die Chiffre „Pavel Klemczek“ wird in der Folge zu einem der größten Geheimnisse der europäischen Literaturgeschichte, so erzählt es Uri Jitzchak Katz im Roman: Einerseits scheint er der größte Autor des frühen 20. Jahrhundert zu sein, der Autor, der wie kein Zweiter das Werk Franz Kafkas beeinflusst hat, andererseits gibt es von ihm nur diese eine Erzählung. Ansonsten weiß man nur, dass er zum Frühestmöglichen der NSDAP beigetreten ist.
In ihrer Urfassung handelt die Erzählung „Der Mann, dem das Gesicht in Grimm erstarrte“ von dem leitenden Direktor des Prager Patentamtes, der einen Arzt aufsucht, weil er den grimmigen Ausdruck auf seinem Gesicht nicht mehr loswird. Der Arzt verschreibt ihm eine imaginäre Arznei und rät ihm, ab sofort auf jede Verstellung zu verzichten und nur noch das zu tun, was er wirklich möchte, um auf diese Weise das Gesicht wieder zum Fenster seiner Seele zu machen. Daraufhin schlägt der leitende Direktor seinen Job in den Wind, verlässt seine Frau und versucht, mit seiner Geliebten durchzubrennen.
Als Kafka stirbt, zerstreut sich der Kreis, und einer seiner Mitglieder, Anschel Katz, nimmt die Erzählung mit nach Palästina. Als auch er stirbt, hinterlässt er einen Sohn, Jitzchak Jeschajahu Katz, der 1948 bei der Verteidigung des Kibbuz Kfar Etzion ums Leben kommt, einen Tag vor der Gründung des Staates Israel. Dessen Enkel wiederum ist nun der Autor dieses Romans. Man weiß von ihm nicht viel mehr als die knappen Informationen, die der Verlag bereitstellt: Er ist nicht mehr ganz jung, hat bislang vor allem fürs Fernsehen geschrieben und arbeitet gerade an einem Film, in dem es um den Eurovision Song Contest und schwedische Nazis geht. Außerdem lebt er in Jaffa.
In einem der zahlreichen Handlungsstränge versucht dieser Uri Jitzchak Katz, ein Vorwort zur ersten Ausgabe der Erzählung „Der Mann, dem das Gesicht in Grimm erstarrte“ zu formulieren, das er erstmals in gedruckter und vollständiger Form herausbringen möchte. Aber weil er sich nicht kurzfassen kann, wird dieses Vorwort immer länger und nimmt bald die Gestalt eines autofiktionalen Romans an.
Das ist ungefähr die Ausgangslage. Aber schon vor einiger Zeit hat der israelische Literaturkritiker Tzur Ehrlich von der nationalreligiösen israelischen Zeitung Makor Rischon einmal versucht, die Anzahl der Handlungsstränge in diesem Roman zu sortieren, und sie aufwendig ausgezählt. Am Ende stand da die Zahl Sechs, aber auch in dieser Angelegenheit dürfte das letzte Wort noch nicht gesprochen sein. Die Geschichte von dem „Mann, dem das Gesicht in Grimm erstarrte“, wird im Laufe des Romans in immer neuen Varianten immer wieder neu erzählt – als Science-Fiction-Roman, in dem Cyborgs die Menschheit in Reservationen halten, oder in einer arabischen Abwandlung als Geschichte „des Kalifen, der immer zornig war“. Mal kommen im Zuge literaturgeschichtlicher Recherchen neue Kapitel hinzu, mal wird eine bis dahin völlig unbekannte Erzählung entdeckt, die ein Londoner Kritiker für den Wettbewerb geschrieben hatte, viele Jahre später, als schon alle Beteiligten tot waren.
Zum Anspruch dieses Buchs, der „absolute Roman“ zu sein und alle theoretischen möglichen Romane bereits zu enthalten, indem er gewissermaßen den Prozess der fortschreitenden Literaturgeschichte selbst nachahmt, gehört, dass diese Erzählungen und Stränge jeweils den Stilen echter literarischer Traditionen nachempfunden sind: Die tschechische Variante ist also eine böhmische Groteske, die arabische Variante eine reich ornamentierte Ableitung der „Märchen aus 1001 Nacht“. An einer Stelle wird im Stile des „Braven Soldaten Schwejk“ erzählt, wie eine israelische Einheit bei einem simulierten Giftgasangriff beinahe mehrere Tote zu vermelden hat, obwohl es ja gar kein Gas gab. Es stellen sich nur alle so ungeschickt an, dass ihre Gasmasken kaputtgehen und sie in panischer Todesangst anfangen, übereinander herzufallen.Man kann den Roman als eine Borgesianische Parabel auf die jüdisch-biblische Erzähltradition an sich lesen. Der Roman verschränkt die Familiengeschichte des Erzählers Uri Jitzchak Katz mit der Geschichte der jüdischen Literatur, mit ihren Wurzeln in Osteuropa, ihren Verschränkungen und Kreuzungen mit der arabischen Literatur, ihrem alttestamentarischen Referenzrahmen. Wie die Bibel ist auch „Der Mann, dem das Gesicht in Grimm erstarrte“ das Ergebnis eines kollektiven Schreibaktes, aus dem sich im Zuge der Jahrhunderte ungefähr so viele neue Erzählungen ableiteten, wie zuvor in sie eingeflossen waren.
Aber im Kern geht es um den Zionismus und um den Kampf, der um Israels Seele tobt. Der Basler Judaist Alfred Bodenheimer hat kürzlich geschrieben, man müsse den Roman vor dem Hintergrund einer demografischen Entwicklung sehen, die seit einigen Jahren das Gesicht Israels verändere. Während sich die Elite des Landes bislang als Teil der europäischen, abendländischen Kultur verstanden hat, nähme der Einfluss der Israelis heute zu, deren Wurzeln in Nordafrika und den arabischen Ländern liegen. Je mehr sich Israel jedoch in ein Land des Nahen Ostens verwandele, desto milder blickten die westlich geprägten Teile des Landes auf das alte Europa.
Im Zuge einer Entwicklung, die Bodenheimer den „umgekehrten Zionismus“ nennt, wird Europa für viele Israelis wieder zum Sehnsuchtsort. Auch Uri Jitzchak Katz verflucht an einer Stelle seinen Urgroßvater dafür, dass dieser Europa je verlassen hat und er deswegen jetzt in dieser zerrütteten Weltregion leben müsse, die nur Leid und Traumata hervorbringe.
Der Nahostkonflikt beginnt für Uri Jitzchak Katz bei den Selbstbildern. Identität aber ist bei ihm vor allem das Ergebnis einer erzählerischen Tradition, die wahnsinnig unübersichtlich ist. Die Überlieferung ist unzuverlässig, und die Einflüsse und Vorbilder kommen aus der ganzen Welt.
Der Roman löst für Israel das auf, was Jan Assmann einst die „mosaische Unterscheidung“ genannt hat: die Trennung zwischen Juden und Gojim, zwischen Muslimen und Ungläubigen, zwischen Christen und Heiden – jene Trennung also, die seit Anbeginn der Zeiten kulturelle Räume durchschneidet und immer beides stiftet, so Assmann, Bedeutung und Gewalt.
Uri Jitzchak Katz:
Aus dem Nichts kommt die Flut. Roman. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Hoffmann und Campe, Hamburg 2024.
576 Seiten, 26 Euro.
Uri Jitzchak Katz erzählt von dem Kampf, der um Israels Seele tobt: Straßenszene in Jerusalem.
Foto: B. Zawrzel/Imago
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