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Dreieinhalb Stunden bevor sie, in einem Kofferraum versteckt, in den Westen zu gelangen versucht, geht Judith noch einmal durch die Räume des Hauses, in dem sie aufgewachsen ist. Ihre Mutter ist vor vielen Jahren gestorben, ihr Vater blieb, so hatte man es verabredet, nach einer Besuchsreise in Westberlin. Ruth, ihre Schwester, wurde vor kurzem verhaftet. Allein in ihrem Elternhaus, das inzwischen vom Staat konfisziert wurde, nimmt Judith Abschied von den einzelnen Zimmern und von den Gegenständen, die ihren Alltag prägten. Dabei muß sie unweigerlich an die Geschichten denken, die sich mit…mehr

Produktbeschreibung
Dreieinhalb Stunden bevor sie, in einem Kofferraum versteckt, in den Westen zu gelangen versucht, geht Judith noch einmal durch die Räume des Hauses, in dem sie aufgewachsen ist.
Ihre Mutter ist vor vielen Jahren gestorben, ihr Vater blieb, so hatte man es verabredet, nach einer Besuchsreise in Westberlin. Ruth, ihre Schwester, wurde vor kurzem verhaftet. Allein in ihrem Elternhaus, das inzwischen vom Staat konfisziert wurde, nimmt Judith Abschied von den einzelnen Zimmern und von den Gegenständen, die ihren Alltag prägten. Dabei muß sie unweigerlich an die Geschichten denken, die sich mit ihnen verbinden.
In einer raffinierten Doppelkonstruktion entfaltet der Roman parallel zu Judiths Leben, und sich allmählich mit ihm verknüpfend, die Chronik dieses Ortes in Ostberlin. Aus zwei entgegengesetzten Richtungen wird die Familiengeschichte eingeholt und gespiegelt in den politischen Ereignissen eines halben Jahrhunderts, in den Verhältnissen unter zwei Diktaturen.
Autorenporträt
Katrin Askan, 1966 in Berlin-Ost geboren, studierte nach ihrer Flucht in den Westen Philosophie und Germanistik in Berlin. 1998 erhielt sie den Friedrich-Hölderlin-Förderpreis der Stadt Homburg und 1999 das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln. Sie lebt als Autorin in Köln.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.05.2000

So traurig ist die Kaufhalle
Wäre gerne auch woanders: Katrin Askans dritter Roman

Ost-Berlin 1986. Noch dreieinhalb Stunden hat die zwanzigjährige Judith Zeit, bis sie sich auf den Weg zu einer Raststätte macht, von wo sie ein Schlepper im Kofferraum in den ersehnten Westen bringen soll. Was tut man in dieser Leere des Abschieds von einem Haus, aus dem man nichts mitnehmen kann? Am besten, man erinnert sich, denn Erinnerungen sind die sicherste Konterbande. So ziehen vor Judiths Augen fünfzig Jahre Geschichte ihrer Familie vorüber, der dieses Haus gehört hat. Aus Gegenwart und Vergangenheit entsteht ein Bilderbogen deutschen Durchschnittsdaseins über drei Generationen. Der Großvater ist Polizist, der seine Kinder an Hitlers Geburtstag geboren sehen möchte, die Großmutter Jüdin, deren Abstammung aber verheimlicht werden kann. Dann Krieg, Bombennächte, Flucht, deutsche Teilung, bei der man leider des Hauses wegen in den östlichen Teil gerät, 17. Juni, Mauerbau und der große Sog des Westens. Denn Judith ist die vorletzte der Familie, die sich noch im Staate der Arbeiter und Bauern aufhält; nur Schwester Ruth bleibt zurück, wegen Staatsverleumdung eingesperrt und auf den Freikauf wartend. So wird also in Katrin Askans Roman "Aus dem Schneider" - es ist ihr dritter - ein Familienalbum durchgeblättert, bis die Heldin die Haustür hinter sich ins Schloss zieht auf dem Weg ohne Umkehr.

Das erste Buch über "Republikflucht" ist älter als Askan selbst; Christa Wolfs "Der geteilte Himmel" erschien 1963. Die Kontroversen darum zeigten damals, wie tief das Thema an den machtgestützten Anspruch und falschen Schein dieser Republik rührte. Jetzt aber, da die Geschichte gerichtet hat, scheint alles Kontroverse in sich zusammengefallen zu sein. Gewiss, Askan berichtet da und dort von den inzwischen allbekannten Schikanen des Stasi-Regimes, den Einbrüchen, Drohungen, der unablässigen Bespitzelung. Aber seltsamerweise erscheint das nur als Bestätigung einer prinzipielleren Abneigung gegen diesen Staat, nicht als deren Grund. Denn der Wunsch, in den Westen zu wollen, wo alles besser ist, beherrscht diese Judith so fraglos, dass selbst die "gleichen Dosen, Gläser, Büchsen" der volkseigenen Kaufhalle sie deprimieren und ihre größte Angst nur die ist, "hierbleiben zu müssen". Erst "drüben" ist man "aus dem Schneider".

Konflikte, wie sie einst Christa Wolfs Manfred und Rita zerrissen, kommen deshalb nicht mehr auf. Judiths Freund Christian aus guter Funktionärsfamilie hat keine Chance bei ihr: "Ich weiß ja, dass ich ihn liebe, dachte ich. Aber dieses Gefühl trägt mich nicht. Nicht dorthin, wohin ich will." Wie auch immer sich die Zeiten verändert haben, so leichthin sollte eine Autorin ihr Geschöpf nicht unwidersprochen von Liebe reden lassen. Oder spricht Askan selbst etwas zu leichthin? Tatsächlich irritiert bei ihr des Öfteren Pauschales und Ungenaues bis in kleine Tatsachen hinein. Nein, den hoch gelobten Käse in Dosen aus dem West-Paket hätte keine DDR-Kontrolle durchgehen lassen; der Versand von Konserven war verboten. Irritierend ist auch der Rat der Kinder an den fluchtbereiten, aber kranken Vater: "Wenn du hierbleibst, musst du arbeiten, bis du umfällst." Durch Arbeitseifer hat sich die DDR nun wahrlich keinen Namen in der Geschichte gemacht. Ein Sanatorium war der "Westen" nun wohl auch nicht einzig und allein.

Askans Roman enthält eine Reihe gut erzählter Miniaturen, Beispiele von Mut und Feigheit, Hoffnung und Verzweiflung. Ein paar Leitmotive binden sie zusammen. Das Haus ist eines, ebenso wie das Versteck von Familiendokumenten oder das Skatspiel, aus dessen Sprache der Titel stammt, der auf die Handwerkertradition der Familie hindeutet. Nur ist nirgends recht zu sehen, ob und wie die Entscheidungen der Gegenwart aus den Erfahrungen der Vergangenheit hervorwachsen. Gleich am Anfang des Buches stehen die bedenkenswerten Sätze: "Ich weiß, dass ich die, die ich sein möchte, nur an einem anderen Ort, unter anderen Bedingungen sein kann. Und dass ich mich vielleicht einmal zurücksehnen werde nach der, die ich hier war, in diesem Haus." Von den Gründen für diese Worte hätte man gern mehr gelesen.

GERHARD SCHULZ.

Katrin Askan: "Aus dem Schneider". Roman. Berlin Verlag, Berlin 2000. 298 S., geb., 39,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die Stärke des Buches liegt nach Gerhard Schulz in erster Linie in den "Miniaturen, Beispielen von Mut und Feigheit, Hoffnung und Verzweiflung". Dabei scheint er etwas überrascht, wenn er feststellt, dass nicht die Bedrohung durch die Stasi der eigentliche Grund für die Flucht in den Westen ist, sondern vielmehr ein Überdruss, ein Gefühl von deprimierender Eintönigkeit. So erscheint ihm die Protagonistin Judith weitaus weniger von "Konflikten (...) zerrissen" als beispielsweise die Figuren aus Christa Wolfs Buch "Der geteilte Himmel". Etwas gestört fühlt sich Schulz von "Pauschalem und Ungenauem", etwa da, wo von Konserven aus West-Paketen die Rede ist (Konserven waren in diesen Paketen verboten), oder dort, wo der Eindruck entsteht, alte, kranke Menschen müssten ausgerechnet in der DDR bis zum "Umfallen" arbeiten. "Ein Sanatorium war der `Westen` nun wohl auch nicht einzig und allein", meint Schulz dazu.

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