In von äußerster Existenznot geprägten Texten legen berühmte Dichter Zeugnis ab von den Übergriffen der Macht und der Freiheit des Geistes. Die Reihe reicht von den alten Opfern der Könige und Ketzerverfolger bis zu den Insassen der Schandlager des 20. Jahrhunderts. Das Entscheidende ist das Kassiber-Wunder, die Fähigkeit von Versen, Mauern zu durchdringen, um die Außen- und Nachwelt zu erreichen: Der deutsche Freund, der Campanellas Gedichte aus dem Neapolitaner Kerker in eine Frankfurter Druckerei schmuggelte, Nadeschda Mandelstam, die die Verse ihres Mannes im Gedächtnis aufbewahrte, die Kladde mit den Moabiter Sonetten in der Tasche des ermordeten Haushofer... François Villon führt, an der Schwelle zur Neuzeit, mit seiner unüberbietbaren Mischung aus Frömmigkeit und schwarzem Galgenhumor diese Anthologie ein. Es folgen, in bunter Reihe, Freigeister, Aristokraten, Glaubensstreiter im Zeichen geistlicher und weltlicher Machtkämpfe. Die Deutschen haben sich in diesen früheren Zeiten nicht bei der Verfolgung von Dichtern hervorgetan. Ihr einziger poetischer Märtyrer, Quirinus Kuhlmann, wurde 1689 in Moskau als Schwarmgeist dem Feuer übergeben. Das änderte sich bekanntlich im 20. Jahrhundert, als sich zwölf Jahre lang der Hass auf das freie Wort sadistisch austoben durfte, und der Leidensdruck in Zuchthaus und Lager manche erst zu Dichtern machte. Stalin und Franco trugen ihr gerüttelt Maß zur Dichtung hinter Gittern und Stacheldraht bei. Das Ende des Weltkriegs bedeutet nicht das Ende dieser traurigen Sequenz: Pound im Pisaner Käfig, Ritsos auf seinen KZ-Inseln, Brodsky in Norinskaja und viele andere weltweit bürgen für eine unheilige Kontinuität.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Die von Werner von Koppenfels herausgegebenen und übersetzten Gedichten aus dem Kerker, verfasst von Maria Stuart oder Erich Mühsam, vom Theologen Fray Luis de León oder Ezra Pound, lassen Angela Schader das Blut in den Adern gefrieren. Da ist vom Pesthauch der feuchten Mauern die Rede, allerdings auch von bacchantischen Fantasien. Wie viel Ironie, Trotz und Stolz so mancher dichtende Gefangene oder gar dem Tod Geweihte noch aufbrachte, erstaunt die Rezensentin. An Form und Gehalt der Texte liest sie den Zeitenwandel ab, lernt über Haftbedingungen und dass Pathos nicht immer fehl am Platz ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.2015Wenn die Sprache den Kerker besiegt
Letzte Instanz: Werner von Koppenfels sammelt poetische Kassiber aus fünf Jahrhunderten
Platon mochte bekanntlich die Dichter nicht; er meinte, sie gefährdeten den Staat. Doch wenigstens heute gelten Dichter als harmlos. "Wir sind zu viele", hat William Butler Yeats über die Zunft gesagt. So haben wir in der sogenannten Lyrikszene wieder jene vierhundert jungen Lyriker, über die schon Brecht spottete. Darüber mag vergessen werden, dass das Dichten ein gefährliches Metier sein kann: die Zahl der Opfer von Exil und Verbannung, Kerker und gewaltsamem Tod ist groß genug. Dichter also als weltliche Märtyrer - Werner von Koppenfels zeigt sie uns in seiner Anthologie "Aus den Kerkern Europas".
In dem Band versammelt er "poetische Kassiber", also in Gefängnissen und Lagern entstandene Gedichte über die Willkür der Macht und die Selbstbehauptung des Geistes. Diese Kassiber reichen von François Villon, der dem Strick knapp entging, bis zu Gertrud Kolmar, die in Auschwitz ermordet wurde. Doch auch der Mussolini-Anbeter Ezra Pound fehlt nicht, den sein Starrsinn in den Gitterkäfig des amerikanischen Strafcamps von Pisa führte. Der Anglist Koppenfels ist für eine solche Sammlung bestens disponiert: als Mitherausgeber großer Anthologien sowie als Übersetzer Emily Dickinsons und des dunklen Briten Geoffrey Hill.
Das Frontispiz ist quasi die didaktische Allegorie für dessen zentrale Aussage. Es ist ein Kupfer aus Friedrich von der Trencks "merkwürdiger Lebensgeschichte" von 1787 und zeigt den Dichter in schweren Ketten, auf dem eigenen Grabstein stehend, jedoch in freier und aufrechter Haltung. Dieser Trenck, Ordonanzoffizier des preußischen Königs Friedrich II., wurde zum Justizopfer, wie es sie auch in der Aufklärung gab. Vermutlich wegen einer Liebesaffäre mit Amalie, der Schwester des Königs, saß er zehn Jahre in der Feste Magdeburg und kam erst auf Fürsprache der österreichischen Kaiserin Maria Theresias frei. Im Gedicht "Todesgedanken im Kerker" hat er mit seinem Leben bereits abgeschlossen: "Des Kerkers Türen öffnen sich: / der Tod kommt und errettet mich - / ich habe schon gesieget." Sprache hat die Fähigkeit, Mauern zu durchdringen.
Koppenfels eröffnet seine Sammlung mit Gedichten François Villons, der als Mitglied einer Diebesbande zum Galgen verurteilt, doch später begnadigt wurde. Damit trat nicht ein, was sein eigenes Epitaph vorauseilend befürchtet: "an einem klafterlangen Strick gehenkt / spürt bald mein Hals, wie schwer mein Hintern wiegt." Man liest das in der Übersetzung K. L. Ammers, die bekanntlich Brecht sehr beeinflusste. Der Ruhm dieser Verse hindert Koppenfels nicht daran, hier - wie auch in anderen Texten - Besserungen anzubringen. So etwa in einer Ballade mit dem Refrain "wollt ihr, daß seine Marter ewig währt". Wo K. L. Ammer unscharf von Schweinen redet, "die in Haufen / bei einem Lärm, eins hinterm andern, laufen", setzt Koppenfels das prägnante Verspaar "wie's selbst die Schweine machen, die in Haufen, / wenn eines schreit, sogleich zu Hilfe laufen".
Solche Bänkeltöne werden später selten. Der Großteil der Anthologie hält sich an die Zeugnisse von Existenznot unter den Übergriffen der Macht. Ergreifend ist eine Gedichtfolge aus dem Umkreis der unglücklichen schottischen Königin Maria Stuart. Sie beginnt mit dem anrührenden Sonett "Abschied von der Welt", das Maria in Erwartung ihrer Hinrichtung schrieb. Dichter aus ihrem Umkreis sahen in Maria "eine Märtyrerin des Glaubens". So schrieb Chidiock Tichborne, Teilnehmer an der missglückten Verschwörung zu ihrer Befreiung, ein Gedicht "Am Vorabend seiner Hinrichtung". Robert Southwell, der als jesuitischer Seelsorger der Königin nach dreijähriger Kerkerhaft durch Hängen und Vierteilen umkam, überschrieb ein Gedicht: "Dum morior, Orior: Ich erstehe, da ich vergehe." Ähnliche Zeugnisse für die moralische Widerständigkeit der Dichter und die ästhetische ihrer Sprache reichen von Agrippa d'Aubigné und Tommaso Campanella bis zu Schubart und Wilde. Sie belegen das Credo des Herausgebers: "In extremis wächst dem Wort des Dichters eine eigene Dringlichkeit zu."
Im zwanzigsten Jahrhundert ist das Leiden millionenfach und allgemein geworden, der individuelle Terror zur allgemeinen Vernichtungsmaschinerie. Wenn der Glaubensrückhalt fehlt, bleibt dem Dichter einzig die Instanz der Sprache. Ossip Mandelstam, der wegen eines satirischen Stalin-Gedichts in sowjetischen Lagern schmachtete und an Entkräftung starb, schrieb: "die Lippen rühren sich, ihr könnt sie mir nicht nehmen."
Zu den großen Stimmen - also auch zu Achmatowa, Brodsky und Kolmar, zu Ezra Pound und Jannis Ritsos - fügt von Koppenfels die Zeugnisse einiger wenig bekannter Autoren; so von Ilse Blumenthal-Weiss, die Theresienstadt, oder Franz Hackel, der Auschwitz überlebte. Sie belegen, dass Sprache Überstehen möglich machen konnte - auch für den später erfolgreichen Walter Kempowski. Von einem sowjetischen Militärgericht zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, musste er acht Jahre in Bautzen absitzen. Seine Gedichte wurden erst postum veröffentlicht. Dort findet man Zeilen wie diese: "Den Kopf gepreßt zwischen die Gitter, / die quellenden Wolken! / Hoch oben zwei Vögel, / kreisend. / Keiner stürzt ab." So auch nicht, der solches schreibt. Die Sprache besiegt den Kerker. Es ist das "Kassiber-Wunder", von dem Werner von Koppenfels' schöne Anthologie spricht.
HARALD HARTUNG
"Aus den Kerkern Europas". Poetische Kassiber von François Villon bis Ezra Pound. Ausgewählt und mit zahlreichen Neuübersetzungen herausgegeben von Werner von Koppenfels. Verlag C. H. Beck, München 2014. 136 S., br., 16,95 [Euro].
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Letzte Instanz: Werner von Koppenfels sammelt poetische Kassiber aus fünf Jahrhunderten
Platon mochte bekanntlich die Dichter nicht; er meinte, sie gefährdeten den Staat. Doch wenigstens heute gelten Dichter als harmlos. "Wir sind zu viele", hat William Butler Yeats über die Zunft gesagt. So haben wir in der sogenannten Lyrikszene wieder jene vierhundert jungen Lyriker, über die schon Brecht spottete. Darüber mag vergessen werden, dass das Dichten ein gefährliches Metier sein kann: die Zahl der Opfer von Exil und Verbannung, Kerker und gewaltsamem Tod ist groß genug. Dichter also als weltliche Märtyrer - Werner von Koppenfels zeigt sie uns in seiner Anthologie "Aus den Kerkern Europas".
In dem Band versammelt er "poetische Kassiber", also in Gefängnissen und Lagern entstandene Gedichte über die Willkür der Macht und die Selbstbehauptung des Geistes. Diese Kassiber reichen von François Villon, der dem Strick knapp entging, bis zu Gertrud Kolmar, die in Auschwitz ermordet wurde. Doch auch der Mussolini-Anbeter Ezra Pound fehlt nicht, den sein Starrsinn in den Gitterkäfig des amerikanischen Strafcamps von Pisa führte. Der Anglist Koppenfels ist für eine solche Sammlung bestens disponiert: als Mitherausgeber großer Anthologien sowie als Übersetzer Emily Dickinsons und des dunklen Briten Geoffrey Hill.
Das Frontispiz ist quasi die didaktische Allegorie für dessen zentrale Aussage. Es ist ein Kupfer aus Friedrich von der Trencks "merkwürdiger Lebensgeschichte" von 1787 und zeigt den Dichter in schweren Ketten, auf dem eigenen Grabstein stehend, jedoch in freier und aufrechter Haltung. Dieser Trenck, Ordonanzoffizier des preußischen Königs Friedrich II., wurde zum Justizopfer, wie es sie auch in der Aufklärung gab. Vermutlich wegen einer Liebesaffäre mit Amalie, der Schwester des Königs, saß er zehn Jahre in der Feste Magdeburg und kam erst auf Fürsprache der österreichischen Kaiserin Maria Theresias frei. Im Gedicht "Todesgedanken im Kerker" hat er mit seinem Leben bereits abgeschlossen: "Des Kerkers Türen öffnen sich: / der Tod kommt und errettet mich - / ich habe schon gesieget." Sprache hat die Fähigkeit, Mauern zu durchdringen.
Koppenfels eröffnet seine Sammlung mit Gedichten François Villons, der als Mitglied einer Diebesbande zum Galgen verurteilt, doch später begnadigt wurde. Damit trat nicht ein, was sein eigenes Epitaph vorauseilend befürchtet: "an einem klafterlangen Strick gehenkt / spürt bald mein Hals, wie schwer mein Hintern wiegt." Man liest das in der Übersetzung K. L. Ammers, die bekanntlich Brecht sehr beeinflusste. Der Ruhm dieser Verse hindert Koppenfels nicht daran, hier - wie auch in anderen Texten - Besserungen anzubringen. So etwa in einer Ballade mit dem Refrain "wollt ihr, daß seine Marter ewig währt". Wo K. L. Ammer unscharf von Schweinen redet, "die in Haufen / bei einem Lärm, eins hinterm andern, laufen", setzt Koppenfels das prägnante Verspaar "wie's selbst die Schweine machen, die in Haufen, / wenn eines schreit, sogleich zu Hilfe laufen".
Solche Bänkeltöne werden später selten. Der Großteil der Anthologie hält sich an die Zeugnisse von Existenznot unter den Übergriffen der Macht. Ergreifend ist eine Gedichtfolge aus dem Umkreis der unglücklichen schottischen Königin Maria Stuart. Sie beginnt mit dem anrührenden Sonett "Abschied von der Welt", das Maria in Erwartung ihrer Hinrichtung schrieb. Dichter aus ihrem Umkreis sahen in Maria "eine Märtyrerin des Glaubens". So schrieb Chidiock Tichborne, Teilnehmer an der missglückten Verschwörung zu ihrer Befreiung, ein Gedicht "Am Vorabend seiner Hinrichtung". Robert Southwell, der als jesuitischer Seelsorger der Königin nach dreijähriger Kerkerhaft durch Hängen und Vierteilen umkam, überschrieb ein Gedicht: "Dum morior, Orior: Ich erstehe, da ich vergehe." Ähnliche Zeugnisse für die moralische Widerständigkeit der Dichter und die ästhetische ihrer Sprache reichen von Agrippa d'Aubigné und Tommaso Campanella bis zu Schubart und Wilde. Sie belegen das Credo des Herausgebers: "In extremis wächst dem Wort des Dichters eine eigene Dringlichkeit zu."
Im zwanzigsten Jahrhundert ist das Leiden millionenfach und allgemein geworden, der individuelle Terror zur allgemeinen Vernichtungsmaschinerie. Wenn der Glaubensrückhalt fehlt, bleibt dem Dichter einzig die Instanz der Sprache. Ossip Mandelstam, der wegen eines satirischen Stalin-Gedichts in sowjetischen Lagern schmachtete und an Entkräftung starb, schrieb: "die Lippen rühren sich, ihr könnt sie mir nicht nehmen."
Zu den großen Stimmen - also auch zu Achmatowa, Brodsky und Kolmar, zu Ezra Pound und Jannis Ritsos - fügt von Koppenfels die Zeugnisse einiger wenig bekannter Autoren; so von Ilse Blumenthal-Weiss, die Theresienstadt, oder Franz Hackel, der Auschwitz überlebte. Sie belegen, dass Sprache Überstehen möglich machen konnte - auch für den später erfolgreichen Walter Kempowski. Von einem sowjetischen Militärgericht zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, musste er acht Jahre in Bautzen absitzen. Seine Gedichte wurden erst postum veröffentlicht. Dort findet man Zeilen wie diese: "Den Kopf gepreßt zwischen die Gitter, / die quellenden Wolken! / Hoch oben zwei Vögel, / kreisend. / Keiner stürzt ab." So auch nicht, der solches schreibt. Die Sprache besiegt den Kerker. Es ist das "Kassiber-Wunder", von dem Werner von Koppenfels' schöne Anthologie spricht.
HARALD HARTUNG
"Aus den Kerkern Europas". Poetische Kassiber von François Villon bis Ezra Pound. Ausgewählt und mit zahlreichen Neuübersetzungen herausgegeben von Werner von Koppenfels. Verlag C. H. Beck, München 2014. 136 S., br., 16,95 [Euro].
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