Marktplatzangebote
9 Angebote ab € 2,50 €
  • Gebundenes Buch

"Aus der Geschichte der Trennungen", der erste Roman des Lyrikers Jürgen Becker, wäre nicht entstanden ohne den Fall der Berliner Mauer vor zehn Jahren, ohne die Wiedervereinigung. Seitdem reist Jörn Winter, ein Mann Ende Sechzig, in jedem Jahr hin und her zwischen Elbe und Oder, Rügen und Thüringer Wald. Magischer Anziehungspunkt ist der in der Mark Brandenburg gelegene Schwieloch-See, wo 1946 seine Mutter ums Leben gekommen ist. Fünfzig Jahre nach ihrem nie geklärten Tod findet er den Weg dorthin. Mit der wiedergefundenen Erinnerung taucht eine Wirklichkeit auf, die Jörn in der Weise…mehr

Produktbeschreibung
"Aus der Geschichte der Trennungen", der erste Roman des Lyrikers Jürgen Becker, wäre nicht entstanden ohne den Fall der Berliner Mauer vor zehn Jahren, ohne die Wiedervereinigung. Seitdem reist Jörn Winter, ein Mann Ende Sechzig, in jedem Jahr hin und her zwischen Elbe und Oder, Rügen und Thüringer Wald. Magischer Anziehungspunkt ist der in der Mark Brandenburg gelegene Schwieloch-See, wo 1946 seine Mutter ums Leben gekommen ist. Fünfzig Jahre nach ihrem nie geklärten Tod findet er den Weg dorthin. Mit der wiedergefundenen Erinnerung taucht eine Wirklichkeit auf, die Jörn in der Weise vergegenwärtigt, wie er sie als kleiner Junge wahrgenommen hat, mit allen Ängsten, Fatalitäten und Faszinationen, die Kriegsgeschehen, Luftangriffe, Jungvolkjahre, Kriegsende, Evakuierungen, Plünderungen, Todesfälle ihm bereitet haben. Traumatisch blieb die Scheidung der Eltern; schockhaft erlebte er die Ablösung der amerikanischen durch die sowjetische Besatzungsmacht in Erfurt, wo der aus dem Rheinland stammende Junge zwischen 1939 und 1947 entscheidende Kinderjahre verbrachte. Nach der Flucht in den Westen lebte Jörn mit dem Rücken zur DDR. Das unverhoffte Wiedersehen mit den Orten und Landschaften der verloren geglaubten Kindheit führt zu einer denkwürdigen Wahrnehmung von Gleichzeitigkeit, von Zusammenhängen und Trennungen deutscher Geschichte. In einem winzigen Dorf im Niederen Fläming, in Wiepersdorf, findet er die Spuren, die zwischen den Zeiten verlaufen. Gespräche mit dem Wirt des Dorfkrugs, einem Mann seines Alters, machen Jörn die Gemeinsamkeiten, vor allem aber die Unterschiede der Erlebnisse und Biographien deutlich. Jörn verspürt eine Entfremdung zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen; zugleich erscheint ihm die Gewissheit, daß in der Verschmelzung von Vergangenheit und Ge genwart die Geschichte der Trennungen aufgehoben wird.
Autorenporträt
Jürgen Becker, geboren 1932 in Köln, machte 1953 Abitur. Nach kurzem, abgebrochenem Studium begann er seine Existenz als freier Schriftsteller. Seinen Lebensunterhalt bestritt er jahrelang mit wechselnden Tätigkeiten, als Arbeiter und Angestellter, als Werbeassistent und Journalist. Er arbeitete für den WDR und in verschiedenen Verlagen. Zwanzig Jahre lang, bis 1993, leitete er die Hörspielredaktion des Deutschlandfunks. Er verfasste Lyrik, Prosa und Hörspiele. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. erhielt er den Preis der Gruppe 47, den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der schönen Künste, das Villa Massimo Stipendium, den Bremer Literaturpreis, den Heinrich Böll Preis und 2006 den Hermann-Lenz-Preis. Jürgen Becker ist Mitglied der Akademie der Künste in Berlin- Brandenburg, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur sowie des PEN-Clubs. 2011 wurde er mit dem Thüringer Literaturpreis ausgezeichnet und 2014 mit dem Georg-Büchner-Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.1999

Gespräch unter Schatten
Jürgen Becker erzählt "Aus der Geschichte der Trennungen" · Von Thomas Wirtz

Es brauchte eine Winternacht im Bergischen Land, damit der Lyriker Jürgen Becker seinem Erzählatem vertraute und zum Roman überlief. Im Jahr 1997 erschien die Erzählung "Der fehlende Rest", in der sich Becker wie an einer Stimmgabel des eigenen Tons versicherte. Das Entscheidende - die Erzählhaltung - wurde hier schon erprobt: Der autobiographische Held Jörn Winter hatte ein Ich von sich abgespalten, diesen "schattenhaften Zuhörer", in dessen leiser Aufmerksamkeit sich der Dunkelpfad in die Vergangenheit betreten ließ. Dieses Ich vermochte durch seine dezente Anwesenheit zu beruhigen, wenn die Weltkriegsbomben zu laut in die jetzige Winternacht einschlugen. Und sein Schweigen verstand der Stockende als Gebot, die Erinnerungsarbeit nicht abzubrechen. Es war dieser Monolog zwischen zweien, der Jörn, das Alter Ego des Autors, in die verschütteten Kellerräume eines früheren Lebens begleitete. Endlich ganz in sie hinabzusteigen war Wunsch und Furcht zugleich.

Und auch der Mitspieler versicherte sich Becker in dieser Nacht: der Waldbröler Welt des Vaters, deren Langsamkeit sich sein Charakter angepasst hatte, die großstädtische Herkunft der Mutter aus Köln, die mit dem Asphalt auch das Abenteuer betreten hatte, schließlich Verwandte, denen die Zeitereignisse tief in die Haut drangen. Sie alle traten damals schon zögernd auf, sobald Fotografien oder Alltagsverrichtungen sie anriefen. Nur Jörn verließ nicht den vertrauten Platz am Ofen, als wagte er sich noch nicht in die arrangierte Erzählwelt hinein, ein vorsichtiges Atemholen, das die Begegnung mit diesen Schatten aus dem Totenreich verzögerte. Das "Versteck, das ich selber war", schien Zuflucht und Bedrängnis in einem. Das Innehalten war der eine Moment befreiender Angst vor dem Aufbruch.

Es folgte tatsächlich "Aus der Geschichte der Trennungen", der Roman, keine sentimentalische Rückkehr in die kindliche Heimat, sondern die Begehung eines Friedhofs. Seine zentrale Gedenkstätte ist der Schwieloch-See in der Mark Brandenburg, wo Jörns Mutter 1946 aus dem Leben schied, nachdem sie ihren Sohn in einer Scheidung verloren hatte. An dieser Tat hängt das "Geschichtennetz", von dem Jörn sich mehr gefangen als getragen fühlt, ein lebensgeschichtlicher Notnagel, der im eigenen Seelenfleisch eingeschlagen blieb. Von hier aus beginnt er nach Öffnung der Mauer seine Wanderungen durch die Mark Brandenburg, besucht er Erfurt, in dem er während des Krieges lebte, und wird Gast der Familie Demuth, deren Vater Wirt, Schmied und vor allem Altersgenosse ist. Ihnen bei der Arbeit zuzuschauen ist das Nadelöhr, durch das der Weg in die eigene Vergangenheit führt.

Denn der Niedere Fläming, den jeder andere Reisende schnell durchfährt, weil er "nischt wie Jejend" in ihm findet, lässt den Blick unabgelenkt. Jedes Requisit dieser leeren Landschaft ist ein Ereignis, dem die Erinnerung nicht unaufmerksam ausweichen kann. Ein Segelflieger verwandelt sich in einen russischen Bomber, das Geräusch langsam herabfallender Dachziegel und berstender Fenster. Ein verlassenes Militärgelände der NVA baut der Blick zurück in eine Erfurter Wehrmachtskaserne, deren steinerne Adler über dem Tor in einer Nacht abgeschlagen wurden und mit denen ein ganzes Reich stürzte. Ruinen reihen sich zum stillen "Schattenzug der Faszination", weil in ihre Risse das Moos der Geschichte eingezogen ist. Jürgen Becker hat auch in seinem Roman eine wunderbare Anhänglichkeit an die Dinge bewahrt, die nur dem Untätigen zum Lebensspiegel werden. Wie die andere Archäologie der Psychoanalyse das freie Assoziieren vor Zeichnungen kennt und doch nur im Vorhof der Sexualität fängt, so entwickelt Becker das Verfahren des freien Sammelns, um sich an den Dingen selbst zu erklären. Die Bescheidenheit dieses Erzählers ist seine Stärke, eine Hoffnung, im Alltag den Ideologien zu entkommen.

Dass der Weltkrieg erst 1989 endete, "war für mich der Satz der Stunde, der Epoche, und auf einmal war sie vorbei". Erst in der Dämmerung fliegt die philosophische Eule, erst mit dem Tod beginnt das Erzählen. Und dennoch können die Projekte, mit denen die älteren Autoren jetzt zeitgleich hervortreten, unterschiedlicher nicht sein. Günter Grass orchestriert sein Jahrhundert zu einer Arienrevue, in der die Bravourstücke einander jagen. Es ist dies ein versprengter Rest aus Haupt- und Staatsaktionen, der den Höhepunkt als literarische Daseinsform gewählt hat. Auch Jürgen Beckers Erzählton scheint altmodisch, aber es ist eine Beharrlichkeit der Selbstqual, die der Wahrheit des Getöns misstraut. Sein Roman ist so überkommen wie das Bürgertum, dessen Verschwinden er in Dingen und Worten nachsieht. Man kann einwenden, dass eine schneller getaktete Gegenwart mit dieser Langsamkeit verpasst wird. Jürgen Becker würde diesen Verlust kaum beklagen, weil er sich um den Besitz schon nicht bemüht hat. Seinem Leser aber bliebe eine Trauer vorenthalten, die er am Ende des Romans nicht missen möchte. Ist Ehrlichkeit jemals eine Tugend der Literatur gewesen - nicht die platte des Stoffes, die enervierende des Autors, sondern die quälend hartnäckige des Buches selbst -, dann wäre "Aus der Geschichte der Trennungen" zu vertrauen.

Jürgen Becker: "Aus der Geschichte der Trennungen". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 337 S., geb., 39,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr