Provokativer könnte ein poetischer Buchtitel nicht sein, und doch lässt der Dichter an einem nicht zweifeln: »Ganz insgesamt wird das, was man die Realität nennt, überschätzt.« Und so steuert er im ersten Teil seines Buches mit aller Kraft der Imagination konsequent hinein in die Sturmzone jener Realität, die den meisten als das Maß aller Dinge erscheint.
Als welthistorisches Ereignis zeigt sich der Widerspruch zwischen Realität und Traum im Untergang eines Staates, der DDR, und den Metamorphosen seiner Gesellschaft bis heute. An den Gegensätzen von Freiheit und Solidarität auf der einen Seite, Hass und Spaltung auf der anderen, an Deutschland und Europa entwickelt der Autor im zweiten Teil seine Idee eines phantasiegeleiteten Widerstands gegen den Fetisch kruder Realität.
Wo aber lägen Traum und Wirklichkeit näher beisammen als in der Kunst? In einer dritten Sektion wendet sich der Autor jenen Dichtern und Philosophen zu, an deren Ästhetiken und Ideen er die eigenen Vorstellungen geschärft hat. Der Bogen spannt sich von der Antike bis in die Gegenwart, von Ovid über Pascal und Descartes bis Celan.
Durs Grünbeins neues Buch ist eine über Leitmotive miteinander verbundene Sammlung von Schriften verschiedener Genres: aus Aufsätzen, Reflexionen, Reden, Traumnotizen, Vorträgen, Sprechertexten und Gedichten. Ihr Ursprung verdankt sich der speziellen Arbeitsweise des Dichters. Aus der sammelnden und ordnenden Kartei seiner Stichworte ist ein Fundbuch hervorgegangen, das sich auf jeder Seite gewinnbringend aufschlagen lässt.
Als welthistorisches Ereignis zeigt sich der Widerspruch zwischen Realität und Traum im Untergang eines Staates, der DDR, und den Metamorphosen seiner Gesellschaft bis heute. An den Gegensätzen von Freiheit und Solidarität auf der einen Seite, Hass und Spaltung auf der anderen, an Deutschland und Europa entwickelt der Autor im zweiten Teil seine Idee eines phantasiegeleiteten Widerstands gegen den Fetisch kruder Realität.
Wo aber lägen Traum und Wirklichkeit näher beisammen als in der Kunst? In einer dritten Sektion wendet sich der Autor jenen Dichtern und Philosophen zu, an deren Ästhetiken und Ideen er die eigenen Vorstellungen geschärft hat. Der Bogen spannt sich von der Antike bis in die Gegenwart, von Ovid über Pascal und Descartes bis Celan.
Durs Grünbeins neues Buch ist eine über Leitmotive miteinander verbundene Sammlung von Schriften verschiedener Genres: aus Aufsätzen, Reflexionen, Reden, Traumnotizen, Vorträgen, Sprechertexten und Gedichten. Ihr Ursprung verdankt sich der speziellen Arbeitsweise des Dichters. Aus der sammelnden und ordnenden Kartei seiner Stichworte ist ein Fundbuch hervorgegangen, das sich auf jeder Seite gewinnbringend aufschlagen lässt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.04.2019Zu viel blieb auf der Strecke
Durs Grünbeins Aufsätze, Notate und Träume
Ein „Fundbuch“ stellt der Verlag in Aussicht, leider aber eines, in dem man etwas Entscheidendes nicht findet, nämlich die Anlässe, zu denen die Stücke dieser „leitmotivisch verflochtene(n) Sammlung von Aufsätzen, Reflexionen, Reden, Traumnotizen, Vorträgen, Sprechertexten und Gedichten“ geschrieben wurden. Durs Grünbein ist ein viel beschäftigter öffentlicher Intellektueller, er nimmt Preise entgegen oder hält Preisreden auf andere, er gehört der einen oder anderen Dichtervereinigung an und schreibt noch im Landeanflug zur Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Sarajevo an einem Gedicht. Da möchte man doch gerne wissen, auf welches Ereignis hin oder auf wessen Einladung die Texte dieses Bandes verfasst wurden. Ohne diese Angaben erweckt das vorliegende Gebinde den trügerischen Eindruck eines autonom entworfenen Textganzen.
Das wäre nicht nötig gewesen, weil man viele von Grünbeins Texten auch dann mit Gewinn läse, wenn vermerkt wäre, dass die Erstveröffentlichung an anderer Stelle erfolgte. Einen wesentlichen Teil des Buches nehmen Essays und Kritiken zur Literatur ein. Ovid, Kleist, Rilke, Jünger, Pound, Eliot, Pasolini, Bobrowski, Christensen – Grünbein begibt sich nicht mit irgendwem ins Gespräch, sondern mit den Großen. Er habe, schreibt er in einer einleitenden „Fußnote zu mir selbst“, „die Straße der modernen Poesie an ihrem oberen Ende betreten“, das soll heißen dort, wo die feinen Adressen schon den Supermärkten und Waschstraßen Platz machen.
Von dort aber hat sich Grünbein bald die besseren Lagen erschlossen. Ob dies dann noch die Straße der modernen Poesie war, bleibt strittig, jedenfalls säumen zunehmend auch römische Villen den Weg von Grünbeins Lyrik. Damals, am Anfang, habe er feststellen müssen, „dass zuletzt beinahe alles auf der Strecke geblieben war“: Versformen, Strophen, Spannungsbögen, „schließlich die Poesie selbst“. Die Autoren, mit denen Grünbein kritisch im Gespräch ist, repräsentieren die Fülle der überlieferten Poesie. In deren Nachfolge sieht sich der Dichter selbst. Das ist weniger Anmaßung als ein legitimer Anspruch: keine Nachahmung, kein Klassizismus, sondern ein Weiterarbeiten im Geiste und auf den Spuren der Älteren.
Dann ereilt den Dichter natürlich hin und wieder eine Abendeinladung. Ein Kulturveranstalter hat sich eine Reihe zum Thema Mittelmeer ausgedacht, also hält Grünbein einen Vortrag mit dem Titel „Die Akademie des Meeres“, worin es um vieles, von der minoischen Inselkultur bis zu den „Flüchtlingsströme(n) aus den Ländern Schwarzafrikas“, geht. Wenn Grünbein will, kann er bildungsbürgerlich tönen wie Peter Bamm, der unsere Eltern einst an die „Küsten des Lichts“ entführte.
Vielleicht ist es keine gute Idee, solche Gebrauchstexte dann noch einmal zwischen Buchdeckel zu bringen, wo sie dann eine Wirkung entfalten, die dem Ganzen abträglich ist. Andererseits liest man Grünbeins auch schon anderswo gedruckte Nachbemerkung zu seinem Dresdner Auftritt mit Uwe Tellkamp im März 2018 mit Gewinn. Man kann die heterogenen Bestandteile dieses Buches nicht über einen Kamm scheren: Manches ist gut, anderes kann man sich ersparen.
Aber in der Hauptsache soll es ja, dem Titel zufolge, um Träume gehen, um die Traumkartei, worin der Dichter die seltsamen Begebenheiten seiner Nächte verzeichnet. Dieser Teil füllt dann nur einige Dutzend Seiten im ersten Teil des Buches. „Ganz insgesamt wird das, was man die Realität nennt, überschätzt“, meint Grünbein. „Ganz insgesamt“ dürfte das seit Freuds Traumdeutung zwar eigentlich niemandem mehr passieren, aber Grünbein findet, ganz „Poeta Doctus“, Freud habe in seinem Drang nach den Mechanismen, der Materialität und der „Arbeit“ des Traums dessen Poesie vernachlässigt. Ja, Freud und sein Bruder Marx, die beiden „realitätsgierigen Agnostiker“, hätten uns mit ihren Diagnosen regelrecht aus dem Traumreich ausgeschlossen und zum Leben in der Realität verurteilt.
Darüber müsste man länger sprechen, aber der Dichter ist für solche Ansichten argumentativ nicht zu belangen. Wenn Träume, für ihn und für uns alle, so wichtig sind, wie Grünbein postuliert, dann träumt er in seiner Kartei noch immer entschieden zu wenig und stellt zu viele steile Thesen in den Wachraum, die bei Tageslicht besehen nicht überzeugen können. Weil aber Durs Grünbeins Traumkartei ein Work in Progress ist, darf man hoffen und muss man wünschen, dass seine Träume immer besser, tiefer und reicher werden und es eines Tages ein Buch geben wird, das nichts anderes enthalten wird als große Träume aus Grünbeins Kartei.
CHRISTOPH BARTMANN
„Ganz insgesamt wird
das, was man die Realität
nennt, überschätzt.“
Durs Grünbein: Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 574 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Durs Grünbeins Aufsätze, Notate und Träume
Ein „Fundbuch“ stellt der Verlag in Aussicht, leider aber eines, in dem man etwas Entscheidendes nicht findet, nämlich die Anlässe, zu denen die Stücke dieser „leitmotivisch verflochtene(n) Sammlung von Aufsätzen, Reflexionen, Reden, Traumnotizen, Vorträgen, Sprechertexten und Gedichten“ geschrieben wurden. Durs Grünbein ist ein viel beschäftigter öffentlicher Intellektueller, er nimmt Preise entgegen oder hält Preisreden auf andere, er gehört der einen oder anderen Dichtervereinigung an und schreibt noch im Landeanflug zur Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Sarajevo an einem Gedicht. Da möchte man doch gerne wissen, auf welches Ereignis hin oder auf wessen Einladung die Texte dieses Bandes verfasst wurden. Ohne diese Angaben erweckt das vorliegende Gebinde den trügerischen Eindruck eines autonom entworfenen Textganzen.
Das wäre nicht nötig gewesen, weil man viele von Grünbeins Texten auch dann mit Gewinn läse, wenn vermerkt wäre, dass die Erstveröffentlichung an anderer Stelle erfolgte. Einen wesentlichen Teil des Buches nehmen Essays und Kritiken zur Literatur ein. Ovid, Kleist, Rilke, Jünger, Pound, Eliot, Pasolini, Bobrowski, Christensen – Grünbein begibt sich nicht mit irgendwem ins Gespräch, sondern mit den Großen. Er habe, schreibt er in einer einleitenden „Fußnote zu mir selbst“, „die Straße der modernen Poesie an ihrem oberen Ende betreten“, das soll heißen dort, wo die feinen Adressen schon den Supermärkten und Waschstraßen Platz machen.
Von dort aber hat sich Grünbein bald die besseren Lagen erschlossen. Ob dies dann noch die Straße der modernen Poesie war, bleibt strittig, jedenfalls säumen zunehmend auch römische Villen den Weg von Grünbeins Lyrik. Damals, am Anfang, habe er feststellen müssen, „dass zuletzt beinahe alles auf der Strecke geblieben war“: Versformen, Strophen, Spannungsbögen, „schließlich die Poesie selbst“. Die Autoren, mit denen Grünbein kritisch im Gespräch ist, repräsentieren die Fülle der überlieferten Poesie. In deren Nachfolge sieht sich der Dichter selbst. Das ist weniger Anmaßung als ein legitimer Anspruch: keine Nachahmung, kein Klassizismus, sondern ein Weiterarbeiten im Geiste und auf den Spuren der Älteren.
Dann ereilt den Dichter natürlich hin und wieder eine Abendeinladung. Ein Kulturveranstalter hat sich eine Reihe zum Thema Mittelmeer ausgedacht, also hält Grünbein einen Vortrag mit dem Titel „Die Akademie des Meeres“, worin es um vieles, von der minoischen Inselkultur bis zu den „Flüchtlingsströme(n) aus den Ländern Schwarzafrikas“, geht. Wenn Grünbein will, kann er bildungsbürgerlich tönen wie Peter Bamm, der unsere Eltern einst an die „Küsten des Lichts“ entführte.
Vielleicht ist es keine gute Idee, solche Gebrauchstexte dann noch einmal zwischen Buchdeckel zu bringen, wo sie dann eine Wirkung entfalten, die dem Ganzen abträglich ist. Andererseits liest man Grünbeins auch schon anderswo gedruckte Nachbemerkung zu seinem Dresdner Auftritt mit Uwe Tellkamp im März 2018 mit Gewinn. Man kann die heterogenen Bestandteile dieses Buches nicht über einen Kamm scheren: Manches ist gut, anderes kann man sich ersparen.
Aber in der Hauptsache soll es ja, dem Titel zufolge, um Träume gehen, um die Traumkartei, worin der Dichter die seltsamen Begebenheiten seiner Nächte verzeichnet. Dieser Teil füllt dann nur einige Dutzend Seiten im ersten Teil des Buches. „Ganz insgesamt wird das, was man die Realität nennt, überschätzt“, meint Grünbein. „Ganz insgesamt“ dürfte das seit Freuds Traumdeutung zwar eigentlich niemandem mehr passieren, aber Grünbein findet, ganz „Poeta Doctus“, Freud habe in seinem Drang nach den Mechanismen, der Materialität und der „Arbeit“ des Traums dessen Poesie vernachlässigt. Ja, Freud und sein Bruder Marx, die beiden „realitätsgierigen Agnostiker“, hätten uns mit ihren Diagnosen regelrecht aus dem Traumreich ausgeschlossen und zum Leben in der Realität verurteilt.
Darüber müsste man länger sprechen, aber der Dichter ist für solche Ansichten argumentativ nicht zu belangen. Wenn Träume, für ihn und für uns alle, so wichtig sind, wie Grünbein postuliert, dann träumt er in seiner Kartei noch immer entschieden zu wenig und stellt zu viele steile Thesen in den Wachraum, die bei Tageslicht besehen nicht überzeugen können. Weil aber Durs Grünbeins Traumkartei ein Work in Progress ist, darf man hoffen und muss man wünschen, dass seine Träume immer besser, tiefer und reicher werden und es eines Tages ein Buch geben wird, das nichts anderes enthalten wird als große Träume aus Grünbeins Kartei.
CHRISTOPH BARTMANN
„Ganz insgesamt wird
das, was man die Realität
nennt, überschätzt.“
Durs Grünbein: Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 574 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Angelika Overath lernt mit Durs Grünbein Poesie als Lebenselixier schätzen. Ob der Autor nun zum Widerspruch anregt oder zum ehrfürchtigen Schweigen und Staunen über so viel Bildung, Overath folgt ihm gern. Miniaturen, Dichter- und Philosophen-Porträts machen das Buch für die Rezensentin zum Werkstatt-Tagebuch. Darüber hinaus lernt sie den Autor als Aufklärer kennen und schätzen - in Kritiken, Feuilletons, Traumtheorien, angenehm unnostalgischen DDR-Erinnerungen und in der Auseinandersetzung mit Pegida und Uwe Tellkamp. Schade, dass der Band keine Drucknachweise enthält, findet Overath.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.05.2019Habe ich schon erwähnt, dass ich gelegentlich tauche?
Funksignale aus dem Innersten eines einzelnen Lebens, die oft trösten können: Poetisches, Politisches und Persönliches von Durs Grünbein
In der Literaturszene des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts stieg ein junger Mann kometenhaft auf. Er stammte aus der gerade verschwundenen DDR. 1995 erhielt der Dresdner Durs Grünbein nicht nur den Huchel-Preis, die höchste Auszeichnung für deutschsprachige Lyrik. Im selben Jahr wurde er mit dem Büchner-Preis bedacht. Damit schlug er Hans Magnus Enzensberger, der den Büchner-Preis auch sehr jung erhielt, aber erst mit vierunddreißig Jahren; Grünbein war ein Jahr jünger.
Seither hat sich Durs Grünbein als produktiver und vielseitiger Autor in allen Genres erwiesen. Früh polarisierte er: Die einen sahen in ihm einen Poeta doctus und bewunderten seine Gelehrsamkeit, die anderen meinten, er pokere mit Bildungsgut, auch da, wo hinter dem Einsatz kein verlässliches Blatt stand. Als ob sich die Grenzen auf diesen Feldern so eindeutig ziehen ließen. Und spannend waren Grünbeins Spiele immer.
Mit "Aus der Traum (Kartei)" legt der Suhrkamp Verlag nun einen gut 550 Seiten starken Band vor, der den Autor feiert und ihm zugleich ein wenig Unrecht tut. Denn das Buch versammelt ja nicht, wie der Untertitel ankündigt, "Aufsätze und Notate", sondern Vor- und Nachwörter, Katalogbeiträge, Feuilletons, Kritiken sowie allerlei Splitter der unterschiedlichsten Sprechweisen (vom Gedicht bis zur Laudatio), die an unterschiedlichen Orten zu lesen oder zu hören waren. Das ist nicht schlimm. Das ist sogar gut! Denn gerade solche Gelegenheits- oder Auftragsarbeiten, beiläufige Anmerkungen am Wegesrand, enthalten oft in nuce Herzgedanken eines Autors, schlank gefasst, originell, mit dem Charme der kleinen Zweckgebundenheit. Nur: warum das nicht zugeben?
Es gibt für die mehr als fünfzig Stücke nur in zwei Fällen Drucknachweise, "Oktoberfilm" wird erklärt als: "Sprechtext für die Dokumentation ,Oktoberfilm', Dresden 1989, in der Regie von Ralf Kukula, Balance Film GmbH 2009". Und "Asbest" ist ein Katalogbeitrag zur Ausstellung ",Neobiota' (Fragmente des Mißverstehens: Peking) der Künstler Christine de la Garenne und Via Lewandowsky im ZKM Karlsruhe 2006". Von "Afrikanischer Traum" erfährt man, dass er aus einem Senegal-Tagebuch des Jahres 1992 stammt. Ansonsten weiß der Leser nicht, wie alt der Text ist, den er vor sich hat, und auch nicht, in welchem Zusammenhang er einmal stand. Das wäre aber interessant. Immer wieder kommt es zu Irritationen. Etwa wenn wir in "Die Akademie des Meeres" von den "Flüchtlingsströmen aus den Ländern Schwarzafrikas" lesen.
Die Recherche ergab: Der Text war Grünbeins Rede zur Eröffnung der Berliner Tagung "Das weiße Meer. Literatur rund um das Mittelmeer" im Mai 2013. Deshalb ist nicht von Flüchtlingen aus Syrien die Rede, die etwa ab 2015 nach Europa kamen und heute das Gesicht vieler Städte mitprägen.
"Aus der Traum (Kartei)" ist in fünf Abteilungen unterschiedlicher Länge gegliedert. Das erste, rund hundert Seiten lange Kapitel widmet sich dem Traum. Es geht um Traumtheorien, Gedanken zum Traum zwischen Freud und Foucault, aber Durs Grünbein erzählt auch eigene Träume. Im Traum, notiert er, "öffnet sich, so plötzlich, wie der Pfau sein Rad schlägt, der große Fächer der Psyche". Und was sagt es uns über die Seele des Autors, wenn seine Töchter beim Aquarellieren das steigende Wasser in der Wohnung nicht bemerken und dann wie Nixen durch die Oberlichter ins Freie schwimmen?
Schön auch noch einmal der romantische Gedanke, dass das Gedicht in seiner Poetologie der Freiheit des Traums verschwistert ist. Aber jeder träumt als ein Einzelner, das verbindet ihn mit dem Schreibenden: "Wer dichtet, ist jemand, der per se einsam ist - habituell einsam, konfessionell einsam, professionell einsam." Auch wenn das Schimmern zwischen solidaire und solitaire (Albert Camus) vielleicht komplizierter sein mag, bleibt das erklärte Pathos berührend, wie auch das Bekenntnis: "Mich haben Gedichte gerade darum, als Funksignale aus dem Innersten eines einzelnen Lebens, oft trösten können." Durs Grünbein möchte persönlich sein; erzählen durch welche (Lese-)Erfahrungen er zu dem geworden ist, als der er heute lebt und schreibt. Und so ist sich der 57 Jahre alte Autor in gewisser Weise schon historisch. Bedingt auch durch seine Biographie. Zu seiner Geschichte gehört die Kindheit und Jugend in der DDR und seine Auseinandersetzung mit dem untergegangenen Staat und den Menschen, die blieben. Ihnen ist das zweite Kapitel (etwa 100 Seiten) gewidmet. Nichts wäre Grünbein ferner als Ostalgie. Und wir lesen Texte, geschrieben mit unheimlicher Verve und der Wut eines in der Diktatur Gequälten, der spät genug, geprägt genug, entkam. Grünbein erinnert sich an das Latrinenputzen in der Militärzeit (die Armee habe ihn zum Schreiben gebracht), an Zeiten des wachsenden Widerstands der Bürger; er erzählt von seiner Inhaftierung (Prügel, Schläge in die Kniekehlen), schließlich von den Choreographien um den Fall der Mauer. Es sind Erinnerungen, szenisch zurückgeblendet. Hautnah sein Erstaunen, seine Empörung über die Pegida-Bewegung und die neue Rechte in Dresden ("Aufbruch in die politische Kälte") oder seine Auseinandersetzung mit Uwe Tellkamp. Im Unterschied zum Schriftstellerkollegen erweist sich Grünbein als unbeirrbarer Aufklärer, der, wie er es formuliert, Meinung von Gesinnung, Tatsachen von Lügen und moralische Erwägungen von Affekt unterscheiden kann.
Seine ethische Wünschelrute bleibt die Poesie. Ihr gehört das dritte Kapitel und Hauptstück des Buchs (fast 300 Seiten). Hier arbeitet die Aufmerksamkeit des Lyrikers, der die Nagelprobe auf Kollegen macht. Das Kapitel enthält vielleicht das schönste Porträt, das über Imre Kertész geschrieben wurde. Und ein wunderbares Diktum zu einer umstrittenen literarischen Ausnahmefigur: "Stefan George war der bedeutendste Dichter des Frühmittelalters im zwanzigsten Jahrhundert." (Der Text stammt offensichtlich aus einer unschuldigeren Zeit, als man über Georges Lyrik noch sprechen konnte, ohne zu diskutieren, ob die Männer des Kreises miteinander schliefen und warum sie, anders als die Amsterdamer Runde um Wolfgang Frommel, vor dem Missbrauch wohl zögerten.)
Grünbein feiert Inger Christensen, bei der sich "Sprachanalytik und poetische Intuition zu einer Art sechstem Gegenwartssinn verbinden", und kämpft mit Ezra Pound. Er zeichnet ein Doppelporträt der Antipoden Gottfried Benn und Paul Celan. Er skizziert, welche Gedichte ihn wann geprägt haben. Man kann dieses Kapitel auch als das großzügige Werkstatt-Tagebuch eines Dichters lesen.
Im vierten Kapitel werden Pascal, der Philosoph, der das Ich-Sagen lieber vermeiden wollte, und Descartes, mit dem das moderne Ich begann, vorgestellt. Während der Pascal-Text einen erzählenden Duktus hat ("Pascal zog seine goldene Uhr aus der Rocktasche, zog sie auf, verzog ein wenig den schmalen Mund und schluckte einen Gedanken hinunter, der in ihm aufgestiegen war aus dem Magen"), ist der Descartes-Text eine Selbstinterpretation von Grünbeins Langgedicht "Vom Schnee", dieser schönen Engführung von Winter, Philosophenporträt, Ich-Erkundung und Gedankengestöber zum kreativen Bewusstsein.
Drei Stücke bilden das Schlusskapitel: eine Miniatur über die gute Selbsttötung, Studien zum Leben einer Stubenfliege (die die Messlatte von Musils "Fliegenpapier" nicht erreichen) und der Ausflug auf die kleine Insel Ventotene im Tyrrhenischen Meer.
Sicher lässt sich das alles über das Passepartout-Wort "Traum" zusammenbringen. Und manchmal erreicht - wie in einer Traumcollage - die Dichte der Namensnennungen (Schriftsteller, Philosophen, Ethnologen, Politiker) auf einer Seite das gute Dutzend. Je nach Selbstsicherheit und Stimmung des Lesenden kann das anregend sein. Oder entmutigend. Im ersten Fall wird er bei manch steilen Thesen öfter das Wort zum Widerspruch erheben mögen, im zweiten, wie ein Schulkind, lieber schweigen. Was die Sammlung sicher zusammenhält, ist der Glaube an das Menschenrecht der Freiheit und das Lebensglück, das die Poesie schenken kann. Und im Träumen, so Grünbein, ist schließlich jeder ein Dichter.
ANGELIKA OVERATH
Durs Grünbein:
"Aus der Traum" (Kartei). Aufsätze und Notate.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 573 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Funksignale aus dem Innersten eines einzelnen Lebens, die oft trösten können: Poetisches, Politisches und Persönliches von Durs Grünbein
In der Literaturszene des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts stieg ein junger Mann kometenhaft auf. Er stammte aus der gerade verschwundenen DDR. 1995 erhielt der Dresdner Durs Grünbein nicht nur den Huchel-Preis, die höchste Auszeichnung für deutschsprachige Lyrik. Im selben Jahr wurde er mit dem Büchner-Preis bedacht. Damit schlug er Hans Magnus Enzensberger, der den Büchner-Preis auch sehr jung erhielt, aber erst mit vierunddreißig Jahren; Grünbein war ein Jahr jünger.
Seither hat sich Durs Grünbein als produktiver und vielseitiger Autor in allen Genres erwiesen. Früh polarisierte er: Die einen sahen in ihm einen Poeta doctus und bewunderten seine Gelehrsamkeit, die anderen meinten, er pokere mit Bildungsgut, auch da, wo hinter dem Einsatz kein verlässliches Blatt stand. Als ob sich die Grenzen auf diesen Feldern so eindeutig ziehen ließen. Und spannend waren Grünbeins Spiele immer.
Mit "Aus der Traum (Kartei)" legt der Suhrkamp Verlag nun einen gut 550 Seiten starken Band vor, der den Autor feiert und ihm zugleich ein wenig Unrecht tut. Denn das Buch versammelt ja nicht, wie der Untertitel ankündigt, "Aufsätze und Notate", sondern Vor- und Nachwörter, Katalogbeiträge, Feuilletons, Kritiken sowie allerlei Splitter der unterschiedlichsten Sprechweisen (vom Gedicht bis zur Laudatio), die an unterschiedlichen Orten zu lesen oder zu hören waren. Das ist nicht schlimm. Das ist sogar gut! Denn gerade solche Gelegenheits- oder Auftragsarbeiten, beiläufige Anmerkungen am Wegesrand, enthalten oft in nuce Herzgedanken eines Autors, schlank gefasst, originell, mit dem Charme der kleinen Zweckgebundenheit. Nur: warum das nicht zugeben?
Es gibt für die mehr als fünfzig Stücke nur in zwei Fällen Drucknachweise, "Oktoberfilm" wird erklärt als: "Sprechtext für die Dokumentation ,Oktoberfilm', Dresden 1989, in der Regie von Ralf Kukula, Balance Film GmbH 2009". Und "Asbest" ist ein Katalogbeitrag zur Ausstellung ",Neobiota' (Fragmente des Mißverstehens: Peking) der Künstler Christine de la Garenne und Via Lewandowsky im ZKM Karlsruhe 2006". Von "Afrikanischer Traum" erfährt man, dass er aus einem Senegal-Tagebuch des Jahres 1992 stammt. Ansonsten weiß der Leser nicht, wie alt der Text ist, den er vor sich hat, und auch nicht, in welchem Zusammenhang er einmal stand. Das wäre aber interessant. Immer wieder kommt es zu Irritationen. Etwa wenn wir in "Die Akademie des Meeres" von den "Flüchtlingsströmen aus den Ländern Schwarzafrikas" lesen.
Die Recherche ergab: Der Text war Grünbeins Rede zur Eröffnung der Berliner Tagung "Das weiße Meer. Literatur rund um das Mittelmeer" im Mai 2013. Deshalb ist nicht von Flüchtlingen aus Syrien die Rede, die etwa ab 2015 nach Europa kamen und heute das Gesicht vieler Städte mitprägen.
"Aus der Traum (Kartei)" ist in fünf Abteilungen unterschiedlicher Länge gegliedert. Das erste, rund hundert Seiten lange Kapitel widmet sich dem Traum. Es geht um Traumtheorien, Gedanken zum Traum zwischen Freud und Foucault, aber Durs Grünbein erzählt auch eigene Träume. Im Traum, notiert er, "öffnet sich, so plötzlich, wie der Pfau sein Rad schlägt, der große Fächer der Psyche". Und was sagt es uns über die Seele des Autors, wenn seine Töchter beim Aquarellieren das steigende Wasser in der Wohnung nicht bemerken und dann wie Nixen durch die Oberlichter ins Freie schwimmen?
Schön auch noch einmal der romantische Gedanke, dass das Gedicht in seiner Poetologie der Freiheit des Traums verschwistert ist. Aber jeder träumt als ein Einzelner, das verbindet ihn mit dem Schreibenden: "Wer dichtet, ist jemand, der per se einsam ist - habituell einsam, konfessionell einsam, professionell einsam." Auch wenn das Schimmern zwischen solidaire und solitaire (Albert Camus) vielleicht komplizierter sein mag, bleibt das erklärte Pathos berührend, wie auch das Bekenntnis: "Mich haben Gedichte gerade darum, als Funksignale aus dem Innersten eines einzelnen Lebens, oft trösten können." Durs Grünbein möchte persönlich sein; erzählen durch welche (Lese-)Erfahrungen er zu dem geworden ist, als der er heute lebt und schreibt. Und so ist sich der 57 Jahre alte Autor in gewisser Weise schon historisch. Bedingt auch durch seine Biographie. Zu seiner Geschichte gehört die Kindheit und Jugend in der DDR und seine Auseinandersetzung mit dem untergegangenen Staat und den Menschen, die blieben. Ihnen ist das zweite Kapitel (etwa 100 Seiten) gewidmet. Nichts wäre Grünbein ferner als Ostalgie. Und wir lesen Texte, geschrieben mit unheimlicher Verve und der Wut eines in der Diktatur Gequälten, der spät genug, geprägt genug, entkam. Grünbein erinnert sich an das Latrinenputzen in der Militärzeit (die Armee habe ihn zum Schreiben gebracht), an Zeiten des wachsenden Widerstands der Bürger; er erzählt von seiner Inhaftierung (Prügel, Schläge in die Kniekehlen), schließlich von den Choreographien um den Fall der Mauer. Es sind Erinnerungen, szenisch zurückgeblendet. Hautnah sein Erstaunen, seine Empörung über die Pegida-Bewegung und die neue Rechte in Dresden ("Aufbruch in die politische Kälte") oder seine Auseinandersetzung mit Uwe Tellkamp. Im Unterschied zum Schriftstellerkollegen erweist sich Grünbein als unbeirrbarer Aufklärer, der, wie er es formuliert, Meinung von Gesinnung, Tatsachen von Lügen und moralische Erwägungen von Affekt unterscheiden kann.
Seine ethische Wünschelrute bleibt die Poesie. Ihr gehört das dritte Kapitel und Hauptstück des Buchs (fast 300 Seiten). Hier arbeitet die Aufmerksamkeit des Lyrikers, der die Nagelprobe auf Kollegen macht. Das Kapitel enthält vielleicht das schönste Porträt, das über Imre Kertész geschrieben wurde. Und ein wunderbares Diktum zu einer umstrittenen literarischen Ausnahmefigur: "Stefan George war der bedeutendste Dichter des Frühmittelalters im zwanzigsten Jahrhundert." (Der Text stammt offensichtlich aus einer unschuldigeren Zeit, als man über Georges Lyrik noch sprechen konnte, ohne zu diskutieren, ob die Männer des Kreises miteinander schliefen und warum sie, anders als die Amsterdamer Runde um Wolfgang Frommel, vor dem Missbrauch wohl zögerten.)
Grünbein feiert Inger Christensen, bei der sich "Sprachanalytik und poetische Intuition zu einer Art sechstem Gegenwartssinn verbinden", und kämpft mit Ezra Pound. Er zeichnet ein Doppelporträt der Antipoden Gottfried Benn und Paul Celan. Er skizziert, welche Gedichte ihn wann geprägt haben. Man kann dieses Kapitel auch als das großzügige Werkstatt-Tagebuch eines Dichters lesen.
Im vierten Kapitel werden Pascal, der Philosoph, der das Ich-Sagen lieber vermeiden wollte, und Descartes, mit dem das moderne Ich begann, vorgestellt. Während der Pascal-Text einen erzählenden Duktus hat ("Pascal zog seine goldene Uhr aus der Rocktasche, zog sie auf, verzog ein wenig den schmalen Mund und schluckte einen Gedanken hinunter, der in ihm aufgestiegen war aus dem Magen"), ist der Descartes-Text eine Selbstinterpretation von Grünbeins Langgedicht "Vom Schnee", dieser schönen Engführung von Winter, Philosophenporträt, Ich-Erkundung und Gedankengestöber zum kreativen Bewusstsein.
Drei Stücke bilden das Schlusskapitel: eine Miniatur über die gute Selbsttötung, Studien zum Leben einer Stubenfliege (die die Messlatte von Musils "Fliegenpapier" nicht erreichen) und der Ausflug auf die kleine Insel Ventotene im Tyrrhenischen Meer.
Sicher lässt sich das alles über das Passepartout-Wort "Traum" zusammenbringen. Und manchmal erreicht - wie in einer Traumcollage - die Dichte der Namensnennungen (Schriftsteller, Philosophen, Ethnologen, Politiker) auf einer Seite das gute Dutzend. Je nach Selbstsicherheit und Stimmung des Lesenden kann das anregend sein. Oder entmutigend. Im ersten Fall wird er bei manch steilen Thesen öfter das Wort zum Widerspruch erheben mögen, im zweiten, wie ein Schulkind, lieber schweigen. Was die Sammlung sicher zusammenhält, ist der Glaube an das Menschenrecht der Freiheit und das Lebensglück, das die Poesie schenken kann. Und im Träumen, so Grünbein, ist schließlich jeder ein Dichter.
ANGELIKA OVERATH
Durs Grünbein:
"Aus der Traum" (Kartei). Aufsätze und Notate.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 573 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»In Grünbeins dritter großer Aufsatzsammlung finden der Lyriker und der Essayist sowohl räumlich als auch stilistisch neu zusammen. So sehr die Texte Zeugnisse präziser Lektüren sind, so sehr gehen sie aus von der Selbsterforschung ihres Autors.« Bastian Reinert Der Tagesspiegel 20190402