Totenklage und Hymnus auf das Leben zugleich
Ein Mann streift klagend durch die Stadt, trauernd um seinen toten Sohn. Andere Leidtragende schließen sich ihm an. Zusammen bilden sie einen vielstimmigen Chor, der all die Fragen besingt, mit denen Verstorbene ihre Angehörigen zurücklassen. David Grossman, einer der bedeutendsten Autoren Israels, legt einige Jahre nach dem Tod seines eigenen Sohnes im Libanonkrieg sein wohl persönlichstes Buch vor.
Ein Mann streift klagend durch die Stadt, trauernd um seinen toten Sohn. Andere Leidtragende schließen sich ihm an. Zusammen bilden sie einen vielstimmigen Chor, der all die Fragen besingt, mit denen Verstorbene ihre Angehörigen zurücklassen. David Grossman, einer der bedeutendsten Autoren Israels, legt einige Jahre nach dem Tod seines eigenen Sohnes im Libanonkrieg sein wohl persönlichstes Buch vor.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Dieses Buch muss als Nachtrag zu David Grossmans vorigem Roman "Eine Frau flieht eine Nachricht" verstanden werden, erklärt Rezensentin Natascha Freundel, noch immer erschüttert von der tragischen Koinzidenz: In jenem Roman erzählte der israelische Schriftsteller von einer Frau, die Mitteilung entkommen will, dass ihr Sohn gefallen ist. Während Grossman dies schrieb, fiel sein eigener Sohn. Nun stimmt er also die Totenklage für seinen eigenen Sohn an, indem er einen ganzen Chor trauernder Eltern eine Stimme verleiht. Zwar droht in den Augen der Rezensentin, diese "mit Pathos aufgeladene Symbolik" durchaus in den Kitsch abzugleiten, doch möchte sie dies dem Autor nicht übelnehmen: "Wer kennt die richtigen Worte für den Tod des eigenen Kindes?"
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.2013Die letzten Erinnerungen
Wenn Kinder vor den Eltern sterben - der israelische Autor David Grossman hat ein bewegendes Buch über die Willkür des Todes geschrieben
Die Stimmen der Trauernden verschmelzen allmählich zu einem Chor der "Gehenden".
"Aus der Zeit fallen" ist Prosa, ist Lyrik, ist Drama - ein Klagegesang, der an antike Tragödien erinnert.
"Am Abend des 12. August 2006, wenige Stunden vor dem Ende des Libanonkriegs, starb mein Sohn Uri zusammen mit den drei Männern seiner Panzerbesatzung durch eine Rakete der Hizbullah", hieß es vor zwei Jahren in der Dankesrede, mit welcher der israelische Schriftsteller David Grossman in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm. "Gerne würde ich Ihnen von Uri erzählen", sagte Grossman, "aber das kann ich nicht. Nur so viel: Stellen Sie sich einen jungen Mann am Anfang seines Lebensweges vor, mit all seinen Hoffnungen, seinem Feuer, seiner Lebensfreude, mit der Arglosigkeit, dem Humor, den Wünschen eines jungen Mannes. So war er. Und so waren Tausende und Abertausende anderer Israelis, Palästinenser, Libanesen, Syrer, Jordanier und Ägypter, die ihr Leben in diesem Konflikt verloren haben und weiterhin verlieren."
Und er erzählte, wie er einen Tag nach der Trauerwoche an seinen Schreibtisch zurückgekehrt war und entdeckt hatte, dass Schreiben der beste Weg war, gegen die Willkür zu kämpfen, die dieser Tod für ihn bedeutete. Es gebe Situationen, in denen die einzige Freiheit, die einem bleibe, die des Beschreibens sei, sagte er. Die Freiheit, mit eigenen Worten das Schicksal zu beschreiben, das über einen verhängt sei.
Wer damals Grossmans Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" schon gelesen hatte, der im selben Jahr erschienen war, ein Roman, so eindrucksvoll und vielstimmig, dass er alles übertraf, was man in den Jahren davor an Romanen sonst noch hatte lesen können, der wusste schon vom Tod des Sohnes. Denn auf eine unheimliche Weise war die Geschichte, die dieses Buch erzählte, noch während Grossman an ihr schrieb, von der Wirklichkeit eingeholt worden: die Geschichte einer Frau, deren Sohn sich freiwillig für den Kriegsdienst verpflichtet und die eine Vorahnung hat, dass er sterben wird; dass die Überbringer der Nachricht seines Todes kommen werden. Eine Nachricht gibt es nur, wenn es einen Empfänger gibt, denkt die Frau und beschließt einfach, nicht zu Hause zu sein. Wenn sie nicht da sei, könne die Hiobsbotschaft nicht ankommen, denkt sie. Im wahren Leben standen dann die Überbringer der Todesnachricht von David Grossmans Sohn Uri vor der Tür in Jerusalem.
"Mit einem Schlag schickte man uns in die Verbannung. / Sie kamen nachts, klopften an unsere Tür, / sagten: Um die und die Uhrzeit, / an dem und dem Ort, wurde Ihr Sohn / auf die und die Art . . .", liest man jetzt in Grossmans neuem Buch "Aus der Zeit fallen", das morgen in der deutschen Übersetzung erscheint. Natürlich denkt man sofort an Uri. An die Nachricht, vor der David Grossman nicht hat fliehen können. Man muss auch deshalb daran denken, weil es hinten auf dem Rücken des Buches dick draufsteht: Nach dem Tod seines Sohnes habe der Autor nun ein "Buch über eine Grenzerfahrung" geschrieben, über den "Verlust eines geliebten Menschen". Das hat er auch. Nur ist es eben nicht Uris und seine Geschichte, oder besser, es bleibt nicht bei dieser. Denn so wenig, wie man "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" im Blick auf seinen Wirklichkeitsbezug gelesen hat, sondern sich lesend gleich verstrickt sah in ein Epos über ein ganzes Land, so wenig nimmt man "Aus der Zeit fallen" als persönliche, vor allem autobiographische Geschichte war. Darin besteht die herausragende Erzählkunst von David Grossman: Er erschafft Echoräume für ganz und gar unterschiedliche Stimmen, von denen die autobiographische nur eine ist. Nur bedingt geht es ihm darum, von der eigenen Geschichte Zeugnis abzulegen, dazu ist er zu bescheiden, zu wenig narzisstisch. Es wäre ihm auch zu wenig. Vielmehr zielt die literarische Verdichtung darauf ab, in der Vielstimmigkeit, die von Flüstertönen bis hin zu umgangssprachlicher Härte reicht, so etwas wie eine Melodie erkennbar zu machen, die alles umfasst.
In "Aus der Zeit fallen" hat er dafür jetzt eine für ihn neue Form gewählt. Eine Art Mischform aus Prosa, Lyrik und Drama. Ein Klagegesang, der aufgrund des ab der Mitte des Buches auftretenden Chors stellenweise an antike Tragödien erinnert, dann aber auch wieder an ein modernes Hörspiel: "Erzählung für Stimmen" heißt im hebräischen Original der Untertitel. Grossman hat in den achtziger Jahren bei "Israel Radio" gearbeitet, als Nachrichtenredakteur und Hörspielautor, bis ihm 1989 gekündigt wurde, weil er Jassir Arafats Ankündigung, einen eigenen Palästinenserstaat zu gründen, als Spitzennachricht bringen wollte. Elemente des Hörspiels findet man seither in nahezu all seinen Romanen. In "Aus der Zeit fallen" beginnt das damit, dass die auftretenden Figuren nach Jahren des Schweigens ihre Stimmen überhaupt erst wiederfinden. Stimmen, die, wenn sie nicht völlig weg waren, bloß noch heiser geklungen haben, "verglimmt zu einem Flüstern".
Es gibt - diesen Satz hört man dahingesagt immer wieder - für Eltern wohl nichts Schlimmeres, als wenn das eigene Kind vor ihnen stirbt. Der Tod des geliebten Kindes ist für sie das größte Unglück. Aber was bedeutet dieser Satz genau? Was macht die Trauer mit Eltern, mit ihrer Beziehung zueinander und zur Welt? Es sind diese Fragen, die David Grossman in "Aus der Zeit fallen" stellt, wenn er zu Beginn, beim gemeinsamen Abendessen, eine Frau auftreten lässt und einen Mann, der mit einem Ruck seinen Teller von sich schiebt und sagt, dass er gehen müsse, "zu ihm, nach dort", weil er, auch nach fünf Jahren, die seit dem Tod des gemeinsamen Sohnes vergangen sind, den "Galgen der Sehnsucht", sein Baumeln "zwischen den Toten und den Lebenden", nicht mehr aushalte. Er geht aus dem Haus, schließt hinter sich die Tür, lässt die Frau im "Hier" zurück.
Das klingt nach einer realistischen Szene. Ein Tisch. Ein Abendessen. Ein Mann, der geht. Indem er sie lyrisch erzählt, kappt Grossman die Verbindung zum psychologischen Realismus aber schon in den ersten Zeilen. Auch verzichtet er auf Orts- und Zeitkoordinaten: Anders als in "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" geht es nicht um Israel, nicht um die politische "Lage", nicht um junge Militärs oder das Gefühl der Bedrohung, dem man in diesem Land nicht entkommt. Sondern um eine mythologische Urszene: um die Reise in die Unterwelt, den Wunsch, Verbindung mit dem geliebten Toten aufzunehmen. Rilkes Gedicht "Orpheus. Eurydike. Hermes" wird an einer Stelle zitiert.
Der Autor, der auf diese Weise eine Topographie vom "Land der Verbannung" anlegt, vom Exil, das über jene verhängt ist, die ihr Kind verloren haben, lässt seinen Mann auf dem Weg in die Unterwelt dabei nicht allein. Gehend begegnet er anderen Männern und Frauen aus allen sozialen Schichten, Eltern, die sein Schicksal teilen: einer Hebamme, deren kleine Tochter gestorben ist, einem Rechenlehrer, dessen Sohn bei einem Streich, der schiefging ("Badewanne, Rasierklinge, durchgeschnittene Adern, beim Spielen"), ums Leben kam, dem "Chronisten der Stadt", dessen Tochter vor seinen eigenen Augen ertrank. Und der Gestalt eines Zentauren, in der griechischen Mythologie ein Mischwesen aus Pferd und Mensch, die Grossman hier aber als halb Schreiber, halb Schreibtisch porträtiert. Also einen mit seinem Schreibtisch zusammengewachsenen Schriftsteller, der versucht, das Unsagbare, das auch über ihn hereinbrach, in Worte zu fassen: "Kneten will ich es, dieses es, ja, das, was wie ein Blitz einschlug und mir alles verbrannt hat, auch die Wörter, verflucht noch mal, die Wörter, die es mir hätten beschreiben können, die hat es auch verbrannt, dieses Monstrum." Ein Aufschrei des Entsetzens angesichts des Todes überall ist "Aus der Zeit fallen" aber nicht. Der lyrische Ton, den Anne Birkenhauer in beeindruckender Weise ins Deutsche übertragen hat, schafft im Gegenteil Distanz und verwandelt die Erzählung in einen Klagegesang, von dem man beim Lesen gerade dort erschüttert wird, wo die Erinnerungen an ein Kind ganz plötzlich konkret werden: "wie er geschwitzt hat, nach dem Spiel, erinnerst du dich, ganz und gar glühend und entflammt".
So verschmelzen die Stimmen der Trauernden allmählich zu einem Chor der "Gehenden". Nur der Zentaur bleibt, auf der Suche nach Wörtern, am Schreibtisch sitzen. "Er ist tot. Er ist tot, doch sein Tod, sein Tod ist nicht tot", begreift am Ende der Mann, der zu Beginn aufbrach, und überlässt die letzten Worte dem Zentauren. Es sind die wohl schönsten Verse in einem weiteren großen Buch von David Grossman: "Und mir bricht es das Herz, mein Augenstern, / wenn ich dran denk, dass ich / - ist's möglich!? - / dass ich dafür die Worte fand."
In seiner Rede zum Friedenspreis hat David Grossman die Rückkehr an den Schreibtisch als Freiheit beschrieben, die ihm blieb, um gegen die Willkür des Todes anzukämpfen. Wie schwer diese Freiheit, sosehr sie Rettung bedeuten mag, zu ertragen ist, darauf deuten diese letzten Worte des Zentauren hin. Sie brechen einem das Herz.
JULIA ENCKE
David Grossman: "Aus der Zeit fallen". Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, Hanser, 128 Seiten, 16,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn Kinder vor den Eltern sterben - der israelische Autor David Grossman hat ein bewegendes Buch über die Willkür des Todes geschrieben
Die Stimmen der Trauernden verschmelzen allmählich zu einem Chor der "Gehenden".
"Aus der Zeit fallen" ist Prosa, ist Lyrik, ist Drama - ein Klagegesang, der an antike Tragödien erinnert.
"Am Abend des 12. August 2006, wenige Stunden vor dem Ende des Libanonkriegs, starb mein Sohn Uri zusammen mit den drei Männern seiner Panzerbesatzung durch eine Rakete der Hizbullah", hieß es vor zwei Jahren in der Dankesrede, mit welcher der israelische Schriftsteller David Grossman in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm. "Gerne würde ich Ihnen von Uri erzählen", sagte Grossman, "aber das kann ich nicht. Nur so viel: Stellen Sie sich einen jungen Mann am Anfang seines Lebensweges vor, mit all seinen Hoffnungen, seinem Feuer, seiner Lebensfreude, mit der Arglosigkeit, dem Humor, den Wünschen eines jungen Mannes. So war er. Und so waren Tausende und Abertausende anderer Israelis, Palästinenser, Libanesen, Syrer, Jordanier und Ägypter, die ihr Leben in diesem Konflikt verloren haben und weiterhin verlieren."
Und er erzählte, wie er einen Tag nach der Trauerwoche an seinen Schreibtisch zurückgekehrt war und entdeckt hatte, dass Schreiben der beste Weg war, gegen die Willkür zu kämpfen, die dieser Tod für ihn bedeutete. Es gebe Situationen, in denen die einzige Freiheit, die einem bleibe, die des Beschreibens sei, sagte er. Die Freiheit, mit eigenen Worten das Schicksal zu beschreiben, das über einen verhängt sei.
Wer damals Grossmans Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" schon gelesen hatte, der im selben Jahr erschienen war, ein Roman, so eindrucksvoll und vielstimmig, dass er alles übertraf, was man in den Jahren davor an Romanen sonst noch hatte lesen können, der wusste schon vom Tod des Sohnes. Denn auf eine unheimliche Weise war die Geschichte, die dieses Buch erzählte, noch während Grossman an ihr schrieb, von der Wirklichkeit eingeholt worden: die Geschichte einer Frau, deren Sohn sich freiwillig für den Kriegsdienst verpflichtet und die eine Vorahnung hat, dass er sterben wird; dass die Überbringer der Nachricht seines Todes kommen werden. Eine Nachricht gibt es nur, wenn es einen Empfänger gibt, denkt die Frau und beschließt einfach, nicht zu Hause zu sein. Wenn sie nicht da sei, könne die Hiobsbotschaft nicht ankommen, denkt sie. Im wahren Leben standen dann die Überbringer der Todesnachricht von David Grossmans Sohn Uri vor der Tür in Jerusalem.
"Mit einem Schlag schickte man uns in die Verbannung. / Sie kamen nachts, klopften an unsere Tür, / sagten: Um die und die Uhrzeit, / an dem und dem Ort, wurde Ihr Sohn / auf die und die Art . . .", liest man jetzt in Grossmans neuem Buch "Aus der Zeit fallen", das morgen in der deutschen Übersetzung erscheint. Natürlich denkt man sofort an Uri. An die Nachricht, vor der David Grossman nicht hat fliehen können. Man muss auch deshalb daran denken, weil es hinten auf dem Rücken des Buches dick draufsteht: Nach dem Tod seines Sohnes habe der Autor nun ein "Buch über eine Grenzerfahrung" geschrieben, über den "Verlust eines geliebten Menschen". Das hat er auch. Nur ist es eben nicht Uris und seine Geschichte, oder besser, es bleibt nicht bei dieser. Denn so wenig, wie man "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" im Blick auf seinen Wirklichkeitsbezug gelesen hat, sondern sich lesend gleich verstrickt sah in ein Epos über ein ganzes Land, so wenig nimmt man "Aus der Zeit fallen" als persönliche, vor allem autobiographische Geschichte war. Darin besteht die herausragende Erzählkunst von David Grossman: Er erschafft Echoräume für ganz und gar unterschiedliche Stimmen, von denen die autobiographische nur eine ist. Nur bedingt geht es ihm darum, von der eigenen Geschichte Zeugnis abzulegen, dazu ist er zu bescheiden, zu wenig narzisstisch. Es wäre ihm auch zu wenig. Vielmehr zielt die literarische Verdichtung darauf ab, in der Vielstimmigkeit, die von Flüstertönen bis hin zu umgangssprachlicher Härte reicht, so etwas wie eine Melodie erkennbar zu machen, die alles umfasst.
In "Aus der Zeit fallen" hat er dafür jetzt eine für ihn neue Form gewählt. Eine Art Mischform aus Prosa, Lyrik und Drama. Ein Klagegesang, der aufgrund des ab der Mitte des Buches auftretenden Chors stellenweise an antike Tragödien erinnert, dann aber auch wieder an ein modernes Hörspiel: "Erzählung für Stimmen" heißt im hebräischen Original der Untertitel. Grossman hat in den achtziger Jahren bei "Israel Radio" gearbeitet, als Nachrichtenredakteur und Hörspielautor, bis ihm 1989 gekündigt wurde, weil er Jassir Arafats Ankündigung, einen eigenen Palästinenserstaat zu gründen, als Spitzennachricht bringen wollte. Elemente des Hörspiels findet man seither in nahezu all seinen Romanen. In "Aus der Zeit fallen" beginnt das damit, dass die auftretenden Figuren nach Jahren des Schweigens ihre Stimmen überhaupt erst wiederfinden. Stimmen, die, wenn sie nicht völlig weg waren, bloß noch heiser geklungen haben, "verglimmt zu einem Flüstern".
Es gibt - diesen Satz hört man dahingesagt immer wieder - für Eltern wohl nichts Schlimmeres, als wenn das eigene Kind vor ihnen stirbt. Der Tod des geliebten Kindes ist für sie das größte Unglück. Aber was bedeutet dieser Satz genau? Was macht die Trauer mit Eltern, mit ihrer Beziehung zueinander und zur Welt? Es sind diese Fragen, die David Grossman in "Aus der Zeit fallen" stellt, wenn er zu Beginn, beim gemeinsamen Abendessen, eine Frau auftreten lässt und einen Mann, der mit einem Ruck seinen Teller von sich schiebt und sagt, dass er gehen müsse, "zu ihm, nach dort", weil er, auch nach fünf Jahren, die seit dem Tod des gemeinsamen Sohnes vergangen sind, den "Galgen der Sehnsucht", sein Baumeln "zwischen den Toten und den Lebenden", nicht mehr aushalte. Er geht aus dem Haus, schließt hinter sich die Tür, lässt die Frau im "Hier" zurück.
Das klingt nach einer realistischen Szene. Ein Tisch. Ein Abendessen. Ein Mann, der geht. Indem er sie lyrisch erzählt, kappt Grossman die Verbindung zum psychologischen Realismus aber schon in den ersten Zeilen. Auch verzichtet er auf Orts- und Zeitkoordinaten: Anders als in "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" geht es nicht um Israel, nicht um die politische "Lage", nicht um junge Militärs oder das Gefühl der Bedrohung, dem man in diesem Land nicht entkommt. Sondern um eine mythologische Urszene: um die Reise in die Unterwelt, den Wunsch, Verbindung mit dem geliebten Toten aufzunehmen. Rilkes Gedicht "Orpheus. Eurydike. Hermes" wird an einer Stelle zitiert.
Der Autor, der auf diese Weise eine Topographie vom "Land der Verbannung" anlegt, vom Exil, das über jene verhängt ist, die ihr Kind verloren haben, lässt seinen Mann auf dem Weg in die Unterwelt dabei nicht allein. Gehend begegnet er anderen Männern und Frauen aus allen sozialen Schichten, Eltern, die sein Schicksal teilen: einer Hebamme, deren kleine Tochter gestorben ist, einem Rechenlehrer, dessen Sohn bei einem Streich, der schiefging ("Badewanne, Rasierklinge, durchgeschnittene Adern, beim Spielen"), ums Leben kam, dem "Chronisten der Stadt", dessen Tochter vor seinen eigenen Augen ertrank. Und der Gestalt eines Zentauren, in der griechischen Mythologie ein Mischwesen aus Pferd und Mensch, die Grossman hier aber als halb Schreiber, halb Schreibtisch porträtiert. Also einen mit seinem Schreibtisch zusammengewachsenen Schriftsteller, der versucht, das Unsagbare, das auch über ihn hereinbrach, in Worte zu fassen: "Kneten will ich es, dieses es, ja, das, was wie ein Blitz einschlug und mir alles verbrannt hat, auch die Wörter, verflucht noch mal, die Wörter, die es mir hätten beschreiben können, die hat es auch verbrannt, dieses Monstrum." Ein Aufschrei des Entsetzens angesichts des Todes überall ist "Aus der Zeit fallen" aber nicht. Der lyrische Ton, den Anne Birkenhauer in beeindruckender Weise ins Deutsche übertragen hat, schafft im Gegenteil Distanz und verwandelt die Erzählung in einen Klagegesang, von dem man beim Lesen gerade dort erschüttert wird, wo die Erinnerungen an ein Kind ganz plötzlich konkret werden: "wie er geschwitzt hat, nach dem Spiel, erinnerst du dich, ganz und gar glühend und entflammt".
So verschmelzen die Stimmen der Trauernden allmählich zu einem Chor der "Gehenden". Nur der Zentaur bleibt, auf der Suche nach Wörtern, am Schreibtisch sitzen. "Er ist tot. Er ist tot, doch sein Tod, sein Tod ist nicht tot", begreift am Ende der Mann, der zu Beginn aufbrach, und überlässt die letzten Worte dem Zentauren. Es sind die wohl schönsten Verse in einem weiteren großen Buch von David Grossman: "Und mir bricht es das Herz, mein Augenstern, / wenn ich dran denk, dass ich / - ist's möglich!? - / dass ich dafür die Worte fand."
In seiner Rede zum Friedenspreis hat David Grossman die Rückkehr an den Schreibtisch als Freiheit beschrieben, die ihm blieb, um gegen die Willkür des Todes anzukämpfen. Wie schwer diese Freiheit, sosehr sie Rettung bedeuten mag, zu ertragen ist, darauf deuten diese letzten Worte des Zentauren hin. Sie brechen einem das Herz.
JULIA ENCKE
David Grossman: "Aus der Zeit fallen". Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, Hanser, 128 Seiten, 16,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Die Bücher David Grossmans, so unterschiedlich sie sind, machen begreiflich, was es bedeutet, in Israel seine Heimat zu haben, und wie allgegenwärtig dort Verlust und Trauer sind." Claudia Voigt, Der Spiegel, 28.01.13
"Der Zusammenhang zwischen Grossmans Tragödie und diesem Buch ist so ungeheuerlich, dass der Außenstehende kaum mehr als seinen Umriss wahrnehmen kann. Kein Kommentar wird solchem Unglück gerecht. Nur David Grossman selbst darf ihm noch etwas hinzufügen." Jakob Hessing, Die Welt, 09.02.13
"Jeder, der nach dem Tod eines geliebten Menschen dessen Stimme noch einmal gehört hat, wird Grossman für dieses Buch dankbar sein." Natascha Freundel, Frankfurter Rundschau, 28.01.13
"Die Welt dieses Werks ist eine Zwischenwelt, ein bisschen Märchenreich, ein bisschen Mittelalter, ein ortloser Raum, mythisch und dunkel." Uwe Stolzmann, Neue Zürcher Zeitung, 20.06.2013
"In 'Aus der Zeit fallen' hat der israelische Autor den Schicksalsschlag auf atemberaubende Weise verarbeitet. Das Buch ist Totenklage trauernder Eltern, vielstimmiges Oratorium und Hymne an das Leben zugleich." Valeria Heintges, Focus, 26.01.13
"Grossmans Buch ist ein ergreifende, erschütternde Trauer-Arbeit." Britta Heidemann, Westdeutsche Allgemeine, 28.01.13
"'Aus der Zeit fallen' ist ein berührend wahres Buch vom Schock der Todesnachricht über den schmerzhaften Prozess, sie zu begreifen und sie als Teil des Lebens anzuerkennen." Elke Schröder, Neue Osnabrücker Zeitung, 30.01.13
"'Aus der Zeit fallen' ist kein Buch über den Tod, sondern ein vielstimmiges, wahrhaftiges und poetisches Werk über die Trauer, und die ist den Lebenden vorbehalten." Felicitas von Lovenberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.02.13
"Ein bewegendes Buch über die Willkür des Todes." Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 27.01.13
"Jeder, der nach dem Tod eines geliebten Menschen dessen Stimme noch einmal gehört hat, wird Grossman für dieses Buch dankbar sein." Natscha Freundel, Frankfurter Rundschau, 28.01.13
"Der Zusammenhang zwischen Grossmans Tragödie und diesem Buch ist so ungeheuerlich, dass der Außenstehende kaum mehr als seinen Umriss wahrnehmen kann. Kein Kommentar wird solchem Unglück gerecht. Nur David Grossman selbst darf ihm noch etwas hinzufügen." Jakob Hessing, Die Welt, 09.02.13
"Jeder, der nach dem Tod eines geliebten Menschen dessen Stimme noch einmal gehört hat, wird Grossman für dieses Buch dankbar sein." Natascha Freundel, Frankfurter Rundschau, 28.01.13
"Die Welt dieses Werks ist eine Zwischenwelt, ein bisschen Märchenreich, ein bisschen Mittelalter, ein ortloser Raum, mythisch und dunkel." Uwe Stolzmann, Neue Zürcher Zeitung, 20.06.2013
"In 'Aus der Zeit fallen' hat der israelische Autor den Schicksalsschlag auf atemberaubende Weise verarbeitet. Das Buch ist Totenklage trauernder Eltern, vielstimmiges Oratorium und Hymne an das Leben zugleich." Valeria Heintges, Focus, 26.01.13
"Grossmans Buch ist ein ergreifende, erschütternde Trauer-Arbeit." Britta Heidemann, Westdeutsche Allgemeine, 28.01.13
"'Aus der Zeit fallen' ist ein berührend wahres Buch vom Schock der Todesnachricht über den schmerzhaften Prozess, sie zu begreifen und sie als Teil des Lebens anzuerkennen." Elke Schröder, Neue Osnabrücker Zeitung, 30.01.13
"'Aus der Zeit fallen' ist kein Buch über den Tod, sondern ein vielstimmiges, wahrhaftiges und poetisches Werk über die Trauer, und die ist den Lebenden vorbehalten." Felicitas von Lovenberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.02.13
"Ein bewegendes Buch über die Willkür des Todes." Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 27.01.13
"Jeder, der nach dem Tod eines geliebten Menschen dessen Stimme noch einmal gehört hat, wird Grossman für dieses Buch dankbar sein." Natscha Freundel, Frankfurter Rundschau, 28.01.13