Als Gerichtsreporter kannte jeder Rudolf Hirsch, auch mit seinen publizistischen und literarischen Arbeiten erreichte er ein großes Publikum. Die eigene, bewegende Lebensgeschichte aber blieb er vorerst seinen Lesern schuldig. Erst auf Drängen seiner Freunde schrieb er sie auf: ein bewegendes Zeugnis über das Leben eines Juden und Kommunisten im 20. Jahrhundert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.07.2003Die schwere Last an den Sohlen
Von Deutschland desillusioniert: Rudolf Hirschs Erinnerungen
Im Werk der Exil-Dichterin Nelly Sachs ist der Schuh einer jener symbolisch aufgeladenen Alltagsgegenstände, die für die existentielle Heimatlosigkeit des Menschen stehen. Für den Journalisten Rudolf Hirsch, der von 1907 bis 1998 lebte, waren Schuhe hingegen nicht Emblem seiner ruhelosen Exilzeit, sondern einer beständigen Vorkriegswelt. In eine wohlhabende jüdische Schuhhändler-Dynastie im Niederrheinischen hineingeboren, beschäftigte ihn die Herstellung hochwertiger Fußbekleidung sogar noch, als er mit seinen Gerichtsreportagen für die Ost-Berliner "Wochenpost" längst zu einer journalistischen Institution geworden war: Die "ideenlose Schuhversorgung der DDR" war dem Schreiber der "Leitartikel des kleinen Mannes" 1959 einen geharnischten Text wert.
Zwischen der "verlorenen Welt" der Krefelder Jugendzeit und der von Konflikten mit der Obrigkeit geprägten Arbeit als Journalist, NS-Prozeßbeobachter und Autor liegen dunkle Jahre, die in der Autobiographie als Jahre schrittweiser Entfremdung von einer Heimat geschildert werden, in der der junge Jude und Kommunist schon lange zwischen den Stühlen saß. 1933 flieht er zum ersten Mal aus Deutschland, es folgen Schikanen und die Zwangsenteignung des elterlichen Geschäfts, 1937 seine endgültige Emigration nach Palästina. Die Mutter wird später in Auschwitz ermordet, Schwester Liesel fällt Stalins "Säuberungen" zum Opfer.
Mit seiner Übersiedlung nach Ost-Berlin 1949 bricht der Text ab. Hätte sich Hirsch strikt an die eigene Vita gehalten, wäre er mit der Beschreibung vielleicht vor seinem Tod fertig geworden. Doch es gab Wichtigeres für ihn zu erzählen: Immer wieder nimmt er sich als Hauptfigur zurück, um ausführlich an Weggefährten zu erinnern. Dazu gehören Prominente wie Arnold Zweig oder die Malerin Lea Grundig ebenso wie Unbekannte - die bemerkenswerte Kinderbuchautorin Auguste Lazar, die Jugendrichterin Elisabeth Samain oder seine alten Freunde Aurel Billstein und Heiner Plum, kommunistische Widerstandskämpfer aus Krefeld. Sie alle verbindet die Entschiedenheit und Courage, mit der sie gegen die Nationalsozialisten standen.
Den letzten Teil des Buchs wollte Hirsch "Don Quichote in Berlin" nennen, im Kampf gegen die Windmühlen bürokratischer Willkür. Der Herausgeber Walter Nowojski hat es übernommen, die fehlenden Kapitel vorsichtig zu ergänzen und die ersten Teile des Buches knapp zu kontextualisieren. Eine große Linie sucht man indes vergebens. Das Buch gewinnt gerade durch die Mosaikartigkeit seiner Beschreibungen eines assimilierten mittelständischen Lebens in der Provinz. Die Lebendigkeit der Schilderungen überzeugt besonders in Skizzen vom "Exil der kleinen Leute" (Wolfgang Benz), etwa jenen, die sich in Herrn Spiegels Schuhfabrik in Tel Aviv gemeinsam mit Rudolf Hirsch als Absatzfräser über Wasser halten.
Jahrelang hat der Gerichtsreporter Hirsch die großen NS-Prozesse begleitet. Immer wieder schrieb er gegen Richter und Urteile an, die in seinen Augen trotz aller "Wiedergutmachung" von deutscher Seite zeigten, wer hierzulande "Herr im Haus" geblieben war. Diese Kontinuität war ihm vor allem in seiner alten Heimat zu bitter, er wollte nicht mehr zurückkehren: "Die Erde am linken Niederrhein klebt Dir an den Fußsohlen. Sie ist dunkel und fruchtbar. Viel Sumpf ist da, träge und verträumt die Gewässer. Und überall Pappeln . . . Aber Erde an den Fußsohlen kann auch zu Dreck werden."
ANNETTE ZERPNER
Rudolf Hirsch: "Aus einer verlorenen Welt". Herausgegeben von Walter Nowojski. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2002. 224 S., Abb., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Deutschland desillusioniert: Rudolf Hirschs Erinnerungen
Im Werk der Exil-Dichterin Nelly Sachs ist der Schuh einer jener symbolisch aufgeladenen Alltagsgegenstände, die für die existentielle Heimatlosigkeit des Menschen stehen. Für den Journalisten Rudolf Hirsch, der von 1907 bis 1998 lebte, waren Schuhe hingegen nicht Emblem seiner ruhelosen Exilzeit, sondern einer beständigen Vorkriegswelt. In eine wohlhabende jüdische Schuhhändler-Dynastie im Niederrheinischen hineingeboren, beschäftigte ihn die Herstellung hochwertiger Fußbekleidung sogar noch, als er mit seinen Gerichtsreportagen für die Ost-Berliner "Wochenpost" längst zu einer journalistischen Institution geworden war: Die "ideenlose Schuhversorgung der DDR" war dem Schreiber der "Leitartikel des kleinen Mannes" 1959 einen geharnischten Text wert.
Zwischen der "verlorenen Welt" der Krefelder Jugendzeit und der von Konflikten mit der Obrigkeit geprägten Arbeit als Journalist, NS-Prozeßbeobachter und Autor liegen dunkle Jahre, die in der Autobiographie als Jahre schrittweiser Entfremdung von einer Heimat geschildert werden, in der der junge Jude und Kommunist schon lange zwischen den Stühlen saß. 1933 flieht er zum ersten Mal aus Deutschland, es folgen Schikanen und die Zwangsenteignung des elterlichen Geschäfts, 1937 seine endgültige Emigration nach Palästina. Die Mutter wird später in Auschwitz ermordet, Schwester Liesel fällt Stalins "Säuberungen" zum Opfer.
Mit seiner Übersiedlung nach Ost-Berlin 1949 bricht der Text ab. Hätte sich Hirsch strikt an die eigene Vita gehalten, wäre er mit der Beschreibung vielleicht vor seinem Tod fertig geworden. Doch es gab Wichtigeres für ihn zu erzählen: Immer wieder nimmt er sich als Hauptfigur zurück, um ausführlich an Weggefährten zu erinnern. Dazu gehören Prominente wie Arnold Zweig oder die Malerin Lea Grundig ebenso wie Unbekannte - die bemerkenswerte Kinderbuchautorin Auguste Lazar, die Jugendrichterin Elisabeth Samain oder seine alten Freunde Aurel Billstein und Heiner Plum, kommunistische Widerstandskämpfer aus Krefeld. Sie alle verbindet die Entschiedenheit und Courage, mit der sie gegen die Nationalsozialisten standen.
Den letzten Teil des Buchs wollte Hirsch "Don Quichote in Berlin" nennen, im Kampf gegen die Windmühlen bürokratischer Willkür. Der Herausgeber Walter Nowojski hat es übernommen, die fehlenden Kapitel vorsichtig zu ergänzen und die ersten Teile des Buches knapp zu kontextualisieren. Eine große Linie sucht man indes vergebens. Das Buch gewinnt gerade durch die Mosaikartigkeit seiner Beschreibungen eines assimilierten mittelständischen Lebens in der Provinz. Die Lebendigkeit der Schilderungen überzeugt besonders in Skizzen vom "Exil der kleinen Leute" (Wolfgang Benz), etwa jenen, die sich in Herrn Spiegels Schuhfabrik in Tel Aviv gemeinsam mit Rudolf Hirsch als Absatzfräser über Wasser halten.
Jahrelang hat der Gerichtsreporter Hirsch die großen NS-Prozesse begleitet. Immer wieder schrieb er gegen Richter und Urteile an, die in seinen Augen trotz aller "Wiedergutmachung" von deutscher Seite zeigten, wer hierzulande "Herr im Haus" geblieben war. Diese Kontinuität war ihm vor allem in seiner alten Heimat zu bitter, er wollte nicht mehr zurückkehren: "Die Erde am linken Niederrhein klebt Dir an den Fußsohlen. Sie ist dunkel und fruchtbar. Viel Sumpf ist da, träge und verträumt die Gewässer. Und überall Pappeln . . . Aber Erde an den Fußsohlen kann auch zu Dreck werden."
ANNETTE ZERPNER
Rudolf Hirsch: "Aus einer verlorenen Welt". Herausgegeben von Walter Nowojski. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2002. 224 S., Abb., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Annette Zerpner hat in Rudolf Hirschs Erinnerungen nicht so sehr eine abgeschlossene autobiografische Erzählung gefunden, sondern eher Skizzen einer fortschreitenden Entfremdung des jüdischen Journalisten von Deutschland, seiner Heimat, in der er als Jude und Kommunist schon vor seiner Emigration 1937 "zwischen den Stühlen" saß, in die er aber dennoch nach dem Krieg zurückkehrte. Die Zeit danach, informiert Zerpner, ist nicht mehr in diesem Buch enthalten; der Herausgeber habe es übernommen, Hirschs weiteren Werdegang zu umreißen. Doch die Unvollständigkeit und "Mosaikartigkeit" findet Zerpner nicht schlimm - ganz im Gegenteil. Gerade in den Ausschnitten eines Lebens in der deutschen Provinz und im palästinischen Exil, gerade in den unsystematischen Einblicken in Tätigkeiten als NS-Prozessbeobachter und Reporter finden sich Einsichten, die keines roten Fadens bedürfen, meint die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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