Karl Kraus persönlich in über 300 bekannten und unbekannten Zeugnissen.Im Grunde sei der Schriftsteller Karl Kraus (1874-1936) eine gesellige Natur gewesen, erzählen diejenigen, die ihm nahestanden, und er wird mit der Einsicht zitiert: »Wenn man mit Menschen lachen kann, ist Sympathie und Übereinstimmung gegeben.« - Karl Kraus in neuer Sicht? Es sind jedenfalls keine gesprochenen »Fackel«-Texte, von denen die Schulfreunde, die frühen Mitarbeiter, die Teilnehmer an den geselligen nächtlichen Kaffeehaus-Runden aus dem unmittelbaren Umgang berichten. Auch die Verleger, die Anwälte, Musiker und Schauspieler, mit denen ihn die Arbeit am Schreibtisch und auf dem Podium zusammenführte, schildern erstaunliche Facetten des gefürchteten Satirikers. Da ist viel Komik im Spiel, eine unwiderstehliche Begabung zur Nachahmung von Menschen und Verhältnissen. Gerühmt werden sein Takt, seine Noblesse. Er schöpft die Gedanken aus der Sprache und findet nur auf dem Podium das Leben schön. Weit mehrals 300 gedruckte und unveröffentlichte Quellentexte von Benjamin bis Wittgenstein, von Altenberg, Berg und Brecht über Schönberg bis Viertel wurden hier erschlossen, darunter auch die Bruchstücke zu einer Biographie, die Heinrich Fischer 1936 schreiben sollte, sowie der bewegende Bericht von Helene Kann über das Sterben von Karl Kraus.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.01.2009Durch ihn kann man Schreiben, ja Denken lernen
Ein so treuer wie tyrannischer Diener der Sache, an die er glaubte: Friedrich Pfäfflins wertvoller Beitrag zur Erschließung von Leben und Werk von Karl Kraus.
Von Joachim Kalka
Wahrscheinlich ist unter den großen Autoren deutscher Sprache des zwanzigsten Jahrhunderts keiner seinem Wesen nach bis jetzt so unbekannt geblieben wie Karl Kraus - der in seiner ganzen störrischen Widersprüchlichkeit, seiner unnachgiebigen, Revolution und Reaktion vermählenden Haltung sich der flüchtigen und punktuellen Lektüre verweigert. Er war der Einzige, der von Anbeginn an Grauen und Lüge des Ersten Weltkriegs erkannte und festhielt, er war der große Satiriker, der seinem fundamentalen Misstrauen gegen die Medienwelt in der schließlich ganz allein verfassten Zeitschrift "Die Fackel" satirische Sprache verlieh, er war der mit dem Geheimnis der Sprache zutiefst verbündete Dichter. Und: "Man versteht nichts von diesem Manne, solange man nicht erkennt, dass mit Notwendigkeit alles, ausnahmslos alles, . . . für ihn in der Sphäre des Rechts sich abspielt", wie Walter Benjamin schrieb. Als die Macht herausfordernder Satiriker hatte er jenen "hinreißende(n) Totschläger-Elan", den Berthold Viertel ihm in der Rolle des Negerprinzen in einer Privataufführung von Wedekinds "Lulu" attestierte. Sein Einfluss war und ist an unerwarteten Stellen groß; bei Arnold Schönberg findet sich in einem Nachlassmanuskript, dem Entwurf einer Autobiographie, der Satz: "Und ich habe Kraus geschrieben: Ich habe durch Sie Schreiben, ja fast Denken gelernt."
Die Sätze von Viertel und Schönberg können wir in Friedrich Pfäfflins neuem Buch nachlesen. Als 1999 der Marbacher Katalog zur großen Karl-Kraus-Ausstellung mit seinen fünf Beiheften erschienen war, hätte man glauben können, so etwas wie die Summe von Pfäfflins jahrzehntelanger Arbeit für die Erschließung von Leben und Werk von Karl Kraus in Händen zu halten. Doch er schickte sich da bereits zu einem neuen Unternehmen an, dem alle Kraus-Leser viel verdanken. Dies ist die "Bibliothek Janowitz", benannt nach dem Lebensort der von Kraus geliebten Sidonie von Nádherny, Bezeichnung eines über verschiedene Verlage sich erstreckenden Ensembles von Texteditionen und Studien. Die umfangreicheren Arbeiten erscheinen bei Wallstein, die essayistischen oder spezialmonographischen Untersuchungen im mittlerweile fast berühmt zu nennenden Kleinverlag von Ulrich Keicher in Warmbronn. Der jüngste Band der Bibliothek Janowitz trägt nun den Titel "Aus großer Nähe", und der Untertitel erläutert: "Karl Kraus in Berichten von Weggefährten und Widersachern". Es ist ein außerordentlich reichhaltiger und aufschlussreicher Band, in dem viel Geduld, Arbeit und Jagdglück stecken, wie vor allem bisher unveröffentlichte Texte zeigen, darunter als bedeutendstes Ineditum die Aufzeichnungen der langjährigen mütterlichen Freundin Helene Kann. Das Quellenverzeichnis wird zu einem vierzig Seiten starken biographischen Kompendium.
Der Titel scheint auf das Paradoxon anzuspielen, dass man aus der großen Nähe nur Facetten sieht, kein Gesamtbild. Ein Reiz des Bandes liegt in dieser widerspruchsvollen Facettierung. Der Kreis von Freunden, Feinden und gelegentlichen verunsicherten Passanten, die hier zu Worte kommen, ist groß. Er umfasst - um nur wenige Namen anzuführen - Canetti, Ludwig von Ficker, Chargaff, Klaus Mann, Alban Berg, Kokoschka, Krenek, Paul Engelmann (in persona die Verbindung zwischen Kraus und Wittgenstein), Kurt Wolff, Brecht ("ein großer Mensch, der Kraus, aber im Ernstfall wird man ihn doch an die Wand stellen müssen"), Endre Ady (in "Nyugat" 1913), Benjamin, Scholem; unter den Antagonisten Rilke, Schnitzler und Musil. Letzterer formuliert vielleicht die bedeutendste Gegnerschaft - neben der zutiefst existentiellen Verwerfung Kraus' durch den erst hingerissenen Canetti, der befürchtete, sich, "die Fackel im Ohr", selbst aufzugeben.
Kleinste Geschichten können hier durch einen Satz etwas Epochales bekommen. Wichtige Hinweise zur Lektüre der Werke ergeben sich en passant: Man erfährt, dass der Optimist, der in so vielen Szenen der "Letzten Tage der Menschheit" im Gespräch mit dem Nörgler (der Figuration von Karl Kraus selbst) durch Wien geht, viel von Adolf Loos hat. Manches ist sehr lustig - wenn Else Lasker-Schüler Kraus unbedingt eine selbstgefertigte Papierkrone bringen möchte und von dem den Tagesschlaf des Nachtarbeiters hütenden Hausmeister zurückgewiesen wird: Niemand darf zu Herrn Kraus. "Ich bin der Prinz von Theben und ich muss zu ihm." - "Und wann's der Prinz von Mödling san . . ."
Die Anekdote ist eine wohl unterschätzte Form, die in der "Fackel" ihre eigene Rolle spielt. So könnte man an jene anekdotisch zitierten Sätze erinnern, deren hohe Komik diese Zeitschrift interpunktiert, etwa "Irma - ich bitte!" (der österreichische Botschafter in Rom weist seine Frau auf den Petersdom hin) oder den lakonischen Kommentar eines Fiakerkutschers, dessen Pferd soeben ein Schaufenster zertrümmert hat: "Jung is er halt!" Für Kraus hatten solche Sätze kognitiven Wert, er verwandte sie zur satirischen Illustration eines geistigen Phänomens. Der Plan des Übersetzers und Schriftstellers Sigismund von Radecki (dem viele der schönsten Texte dieses Bandes zu verdanken sind), Kraus-Anekdoten zu sammeln, wurde von Karl Kraus selbst interessiert verfolgt. Hier wird er als ferner Umriss eingelöst. Die Texte sind in einer Verflechtung von Chronologie und thematischer Gruppierung ("Musik"; "Natur") angeordnet. Sie ersetzen keine Biographie, deuten aber den Weg an, den eine solche nehmen müsste, von der Ausgelassenheit des radikalen Eifers der frühen "Fackel" bis zur Bitternis des graduellen Verstummens angesichts der monströsen dreißiger Jahre.
Anekdoten vermögen vieles. Ein kleines Beispiel: Kraus war ein unnachsichtiger Gegner politischer Angriffe, die den Gegner durch Enthüllung seiner sexuellen Neigungen stellen wollen. Zu den Fällen, die ihm Gelegenheit gaben, seinen Abscheu vor dieser Vermengung des Öffentlichen und des Privaten zu formulieren, gehört neben Maximilian Hardens notorischen Versuchen, antiwilhelminische Politik durch Homosexuellenschnüffelei zu betreiben, "Der Fall Kerr" (1911). Hier ging es um eine Attacke auf den reaktionären Berliner Polizeipräsidenten in der Zeitschrift "Pan": Dieser Herr von Jagow hatte sich um die Schauspielerin Tilla Durieux bemüht, die Gattin des Kunsthändlers und Verlegers Paul Cassirer; Alfred Kerr verspottete ihn genüsslich.
Kraus beginnt nun: "In Berlin wurde kürzlich das interessante Experiment gemacht, einer uninteressanten Zeitschrift dadurch auf die Beine zu helfen, dass man versicherte, der Polizeipräsident habe sich der Frau des Verlegers nähern wollen." Er spricht vom "mediokre(n) Behagen über einen Zeremonienmeister, der durch eine Orangenschale zu Fall kommt", und schreibt, "dass man Schutzmannsbrutalitäten verabscheuen und gleichwohl das Gewieher über den ausgerutschten Präsidenten verächtlich finden kann". Der Ausrutscher auf dem Terrain der Erotik geht keinen Leser des "Pan" etwas an. Liest man nun, das Zitat im Ohr, in Pfäfflins Sammlung eine Geschichte Radeckis, kommt ein Punkt, wo sich Anekdotisches und Begriffliches berühren. Radecki hat einen Ethnologen kennengelernt und berichtet Kraus von dessen Forschungen in Neuguinea. ",Worüber lachten denn die Steinzeitmenschen?' fragte Kraus. ,Sie lachten, wenn jemand auf einer Bananenschale ausrutschte, und dann auch über erotische Dinge.' - ,Also derselbe Sauhaufen!' sagte Kraus."
"Das eigentlich Wichtige über bedeutende Menschen erfährt man nie" - mit dieser Warnung von Werner Kraft (dem großen Schüler und Exegeten von Kraus) schließt Pfäfflins Nachwort, und er selbst fügt vielsagend hinzu: "Das war zu beweisen." So vieles also hier zu finden ist, so vieles Wichtigeres bleibt uns notwendigerweise verborgen. Aber mögen wir uns auch weiterhin fragen, wer Karl Kraus war, wir wissen, was er war. Auf der hinteren Umschlagseite des Buches wird Alfred Polgar zitiert. Er sagte im Nachruf 1936 von Kraus: "Er war Hüter im Bezirk des Geistes, eifervoll bis zum Berserkerhaften im Attackieren und Abweisen derer, die ihm den geheiligten Bezirk zu verunreinigen schienen . . . Der Sache, an die er glaubte, diente er als ebenso treuer wie tyrannischer Diener." Es war die Tyrannis dessen, der liebend und hassend begriffen hatte, was die Sprache für uns ist. Dieses schöne Buch, das Kraus aus der großen Nähe der Zeitgenossenschaft zeigt, sollte ihm viele neue Leser verschaffen, die sich nicht scheuen, in das Labyrinth seiner Widersprüche am Ariadnefaden der Sprachverliebtheit vorzudringen.
Friedrich Pfäfflin (Hrsg.): "Aus großer Nähe". Karl Kraus in Berichten von Weggefährten und Widersachern. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. 480 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein so treuer wie tyrannischer Diener der Sache, an die er glaubte: Friedrich Pfäfflins wertvoller Beitrag zur Erschließung von Leben und Werk von Karl Kraus.
Von Joachim Kalka
Wahrscheinlich ist unter den großen Autoren deutscher Sprache des zwanzigsten Jahrhunderts keiner seinem Wesen nach bis jetzt so unbekannt geblieben wie Karl Kraus - der in seiner ganzen störrischen Widersprüchlichkeit, seiner unnachgiebigen, Revolution und Reaktion vermählenden Haltung sich der flüchtigen und punktuellen Lektüre verweigert. Er war der Einzige, der von Anbeginn an Grauen und Lüge des Ersten Weltkriegs erkannte und festhielt, er war der große Satiriker, der seinem fundamentalen Misstrauen gegen die Medienwelt in der schließlich ganz allein verfassten Zeitschrift "Die Fackel" satirische Sprache verlieh, er war der mit dem Geheimnis der Sprache zutiefst verbündete Dichter. Und: "Man versteht nichts von diesem Manne, solange man nicht erkennt, dass mit Notwendigkeit alles, ausnahmslos alles, . . . für ihn in der Sphäre des Rechts sich abspielt", wie Walter Benjamin schrieb. Als die Macht herausfordernder Satiriker hatte er jenen "hinreißende(n) Totschläger-Elan", den Berthold Viertel ihm in der Rolle des Negerprinzen in einer Privataufführung von Wedekinds "Lulu" attestierte. Sein Einfluss war und ist an unerwarteten Stellen groß; bei Arnold Schönberg findet sich in einem Nachlassmanuskript, dem Entwurf einer Autobiographie, der Satz: "Und ich habe Kraus geschrieben: Ich habe durch Sie Schreiben, ja fast Denken gelernt."
Die Sätze von Viertel und Schönberg können wir in Friedrich Pfäfflins neuem Buch nachlesen. Als 1999 der Marbacher Katalog zur großen Karl-Kraus-Ausstellung mit seinen fünf Beiheften erschienen war, hätte man glauben können, so etwas wie die Summe von Pfäfflins jahrzehntelanger Arbeit für die Erschließung von Leben und Werk von Karl Kraus in Händen zu halten. Doch er schickte sich da bereits zu einem neuen Unternehmen an, dem alle Kraus-Leser viel verdanken. Dies ist die "Bibliothek Janowitz", benannt nach dem Lebensort der von Kraus geliebten Sidonie von Nádherny, Bezeichnung eines über verschiedene Verlage sich erstreckenden Ensembles von Texteditionen und Studien. Die umfangreicheren Arbeiten erscheinen bei Wallstein, die essayistischen oder spezialmonographischen Untersuchungen im mittlerweile fast berühmt zu nennenden Kleinverlag von Ulrich Keicher in Warmbronn. Der jüngste Band der Bibliothek Janowitz trägt nun den Titel "Aus großer Nähe", und der Untertitel erläutert: "Karl Kraus in Berichten von Weggefährten und Widersachern". Es ist ein außerordentlich reichhaltiger und aufschlussreicher Band, in dem viel Geduld, Arbeit und Jagdglück stecken, wie vor allem bisher unveröffentlichte Texte zeigen, darunter als bedeutendstes Ineditum die Aufzeichnungen der langjährigen mütterlichen Freundin Helene Kann. Das Quellenverzeichnis wird zu einem vierzig Seiten starken biographischen Kompendium.
Der Titel scheint auf das Paradoxon anzuspielen, dass man aus der großen Nähe nur Facetten sieht, kein Gesamtbild. Ein Reiz des Bandes liegt in dieser widerspruchsvollen Facettierung. Der Kreis von Freunden, Feinden und gelegentlichen verunsicherten Passanten, die hier zu Worte kommen, ist groß. Er umfasst - um nur wenige Namen anzuführen - Canetti, Ludwig von Ficker, Chargaff, Klaus Mann, Alban Berg, Kokoschka, Krenek, Paul Engelmann (in persona die Verbindung zwischen Kraus und Wittgenstein), Kurt Wolff, Brecht ("ein großer Mensch, der Kraus, aber im Ernstfall wird man ihn doch an die Wand stellen müssen"), Endre Ady (in "Nyugat" 1913), Benjamin, Scholem; unter den Antagonisten Rilke, Schnitzler und Musil. Letzterer formuliert vielleicht die bedeutendste Gegnerschaft - neben der zutiefst existentiellen Verwerfung Kraus' durch den erst hingerissenen Canetti, der befürchtete, sich, "die Fackel im Ohr", selbst aufzugeben.
Kleinste Geschichten können hier durch einen Satz etwas Epochales bekommen. Wichtige Hinweise zur Lektüre der Werke ergeben sich en passant: Man erfährt, dass der Optimist, der in so vielen Szenen der "Letzten Tage der Menschheit" im Gespräch mit dem Nörgler (der Figuration von Karl Kraus selbst) durch Wien geht, viel von Adolf Loos hat. Manches ist sehr lustig - wenn Else Lasker-Schüler Kraus unbedingt eine selbstgefertigte Papierkrone bringen möchte und von dem den Tagesschlaf des Nachtarbeiters hütenden Hausmeister zurückgewiesen wird: Niemand darf zu Herrn Kraus. "Ich bin der Prinz von Theben und ich muss zu ihm." - "Und wann's der Prinz von Mödling san . . ."
Die Anekdote ist eine wohl unterschätzte Form, die in der "Fackel" ihre eigene Rolle spielt. So könnte man an jene anekdotisch zitierten Sätze erinnern, deren hohe Komik diese Zeitschrift interpunktiert, etwa "Irma - ich bitte!" (der österreichische Botschafter in Rom weist seine Frau auf den Petersdom hin) oder den lakonischen Kommentar eines Fiakerkutschers, dessen Pferd soeben ein Schaufenster zertrümmert hat: "Jung is er halt!" Für Kraus hatten solche Sätze kognitiven Wert, er verwandte sie zur satirischen Illustration eines geistigen Phänomens. Der Plan des Übersetzers und Schriftstellers Sigismund von Radecki (dem viele der schönsten Texte dieses Bandes zu verdanken sind), Kraus-Anekdoten zu sammeln, wurde von Karl Kraus selbst interessiert verfolgt. Hier wird er als ferner Umriss eingelöst. Die Texte sind in einer Verflechtung von Chronologie und thematischer Gruppierung ("Musik"; "Natur") angeordnet. Sie ersetzen keine Biographie, deuten aber den Weg an, den eine solche nehmen müsste, von der Ausgelassenheit des radikalen Eifers der frühen "Fackel" bis zur Bitternis des graduellen Verstummens angesichts der monströsen dreißiger Jahre.
Anekdoten vermögen vieles. Ein kleines Beispiel: Kraus war ein unnachsichtiger Gegner politischer Angriffe, die den Gegner durch Enthüllung seiner sexuellen Neigungen stellen wollen. Zu den Fällen, die ihm Gelegenheit gaben, seinen Abscheu vor dieser Vermengung des Öffentlichen und des Privaten zu formulieren, gehört neben Maximilian Hardens notorischen Versuchen, antiwilhelminische Politik durch Homosexuellenschnüffelei zu betreiben, "Der Fall Kerr" (1911). Hier ging es um eine Attacke auf den reaktionären Berliner Polizeipräsidenten in der Zeitschrift "Pan": Dieser Herr von Jagow hatte sich um die Schauspielerin Tilla Durieux bemüht, die Gattin des Kunsthändlers und Verlegers Paul Cassirer; Alfred Kerr verspottete ihn genüsslich.
Kraus beginnt nun: "In Berlin wurde kürzlich das interessante Experiment gemacht, einer uninteressanten Zeitschrift dadurch auf die Beine zu helfen, dass man versicherte, der Polizeipräsident habe sich der Frau des Verlegers nähern wollen." Er spricht vom "mediokre(n) Behagen über einen Zeremonienmeister, der durch eine Orangenschale zu Fall kommt", und schreibt, "dass man Schutzmannsbrutalitäten verabscheuen und gleichwohl das Gewieher über den ausgerutschten Präsidenten verächtlich finden kann". Der Ausrutscher auf dem Terrain der Erotik geht keinen Leser des "Pan" etwas an. Liest man nun, das Zitat im Ohr, in Pfäfflins Sammlung eine Geschichte Radeckis, kommt ein Punkt, wo sich Anekdotisches und Begriffliches berühren. Radecki hat einen Ethnologen kennengelernt und berichtet Kraus von dessen Forschungen in Neuguinea. ",Worüber lachten denn die Steinzeitmenschen?' fragte Kraus. ,Sie lachten, wenn jemand auf einer Bananenschale ausrutschte, und dann auch über erotische Dinge.' - ,Also derselbe Sauhaufen!' sagte Kraus."
"Das eigentlich Wichtige über bedeutende Menschen erfährt man nie" - mit dieser Warnung von Werner Kraft (dem großen Schüler und Exegeten von Kraus) schließt Pfäfflins Nachwort, und er selbst fügt vielsagend hinzu: "Das war zu beweisen." So vieles also hier zu finden ist, so vieles Wichtigeres bleibt uns notwendigerweise verborgen. Aber mögen wir uns auch weiterhin fragen, wer Karl Kraus war, wir wissen, was er war. Auf der hinteren Umschlagseite des Buches wird Alfred Polgar zitiert. Er sagte im Nachruf 1936 von Kraus: "Er war Hüter im Bezirk des Geistes, eifervoll bis zum Berserkerhaften im Attackieren und Abweisen derer, die ihm den geheiligten Bezirk zu verunreinigen schienen . . . Der Sache, an die er glaubte, diente er als ebenso treuer wie tyrannischer Diener." Es war die Tyrannis dessen, der liebend und hassend begriffen hatte, was die Sprache für uns ist. Dieses schöne Buch, das Kraus aus der großen Nähe der Zeitgenossenschaft zeigt, sollte ihm viele neue Leser verschaffen, die sich nicht scheuen, in das Labyrinth seiner Widersprüche am Ariadnefaden der Sprachverliebtheit vorzudringen.
Friedrich Pfäfflin (Hrsg.): "Aus großer Nähe". Karl Kraus in Berichten von Weggefährten und Widersachern. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. 480 S., geb., 39,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit hohem Lob bedenkt Jens Malte Fischer diesen von Friedrich Pfäfflin herausgegebenen Band mit Texten über Karl Kraus. Er schätzt die Edition der teils bislang unveröffentlichten Berichte von rund 120 Zeugen wie Canetti, Brecht, Werfel, Kerr, Helene Kann und vielen mehr als ebenso beispielhaft wie klug. Überzeugend scheint ihm die Mischform von chronologischer und thematischer Anordnung der Berichte. Neben Bekanntem über Kraus findet er darin auch viel "Entlegenes und Neues". Sie vermitteln für ihn ein lebendiges Bild der öffentlichen wie privaten Person von Kraus und zeigen dabei eben nicht nur den gehassten und geliebten sprachmächtigen Polemiker und Satiriker, sondern auch den mitfühlenden, liebenswürdigen, herzlichen Freund, der Kraus auch sein konnte. Besonders berührt hat Fischer der Text von Helene Kann, die Kraus' letzte Monate und Wochen beschreibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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