Rom, 1939. Alessandra wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. Ihre Mutter - ein außergewöhnliches Klaviertalent - wird vom Ehemann ständig in ihre Schranken verwiesen, und so wird Alessandra früh eingebläut, welche Rolle für Frauen vorgesehen ist. Nach dem plötzlichen Tod der Mutter wird sie vom Vater in ein Dorf in den Abruzzen geschickt, wo sie lernen soll, sich zu fügen. Doch Alessandra ist ein freier Geist, sie politisiert sich und fordert nichts weniger als die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Als sie zurück in Rom den antifaschistischen Philosophen Francesco kennenlernt, scheint sie endlich am richtigen Ort angelangt zu sein. Doch es wird ihr viel zu spät klar, was ihr für die ersehnte Freiheit abverlangt werden wird.
Dieser radikal »aus ihrer Sicht« erzählte Roman ist die Geschichte einer großen Liebe und eines Verbrechens. In einem von Faschismus und dem Patriarchat beherrschten Italien entspinnt sich das intime und hochpolitische Schicksal einer Frau, die das Unmögliche möglich macht: Resignation in Rebellion zu verwandeln.
Dieser radikal »aus ihrer Sicht« erzählte Roman ist die Geschichte einer großen Liebe und eines Verbrechens. In einem von Faschismus und dem Patriarchat beherrschten Italien entspinnt sich das intime und hochpolitische Schicksal einer Frau, die das Unmögliche möglich macht: Resignation in Rebellion zu verwandeln.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.06.2023Wer liebt, heiratet nicht
In „Aus ihrer Sicht“ blickt Alba de Céspedes in die Seele einer jungen Frau, die an den
Konventionen zerbricht. Jetzt ist der wegweisende Roman erstmals auf Deutsch erschienen
VON CHRISTIANE LUTZ
Für Alessandras Mutter geht das mit der Liebe schlecht aus: Sie ertränkte sich im Tiber. Weil sie es nicht schafft, ihren Ehemann für den Mann zu verlassen, den sie eigentlich liebt. Weil sie nicht das Leben führen kann, das sie sich wünscht. Für Alessandra ist das Schicksal der Mutter von nun an beides – Ideal und Abschreckung. Sie will dafür sorgen, dass die romantische Liebe da stattfindet, wo sie hingehört: in der Ehe. Klar, dass Alessandra an dieser fixen Idee scheitern muss.
In dem Roman „Aus ihrer Sicht“ der italienischen Autorin Alba de Céspedes sind Liebe und Ehe nämlich geradezu unvereinbare Gegensätze. Wer liebt, heiratet nicht. Und wer verheiratet ist, liebt irgendwann nicht mehr. „Warum schreibst du mir keine Liebesbriefe mehr?“ fragt Alessandra später ihren Ehemann. Der antwortet: „Vielleicht, weil ich jetzt mit dir sprechen kann, wann immer ich möchte“. „Aus ihrer Sicht“ ist ein Roman über dieses menschengemachte Dilemma, schillernd und melancholisch erzählt aus der Perspektive einer erst glühend liebenden und dann sehr verzweifelten jungen Frau.
Alba de Céspedes, 1911 in Rom geboren, eckt früh mit ihren Romanen an, auch im faschistischen Italien, weil ihre Protagonistinnen unverschämt unangepasst auftreten. Sie arbeitet als Journalistin, ist während des Zweiten Weltkrieges in der Resistenza aktiv, später lebt sie in Paris. In Italien ist der Roman „Dalla parte di lei“ (erschienen 1949) heute ein Klassiker feministischer Literatur. Suhrkamp hat ihn erstmals auf Deutsch aufgelegt, aus dem Italienischen von Karin Krieger übersetzt, mit einem Nachwort von Barbara Vinken.
Mit Selbstverständlichkeit benennt de Céspedes in dem Roman eheliches Leid, manchmal Gewalt, meist aber nur radikales Desinteresse der Männer an ihren Frauen. „Wie durch die Gitterstäbe eines Gefängnisses“ empfindet Alessandra die Blicke der verheirateten Nachbarinnen in den Hof, „sie ließen mich die Last eines jahrhundertealten Unglücks spüren und eine trostlose Einsamkeit.“ Im Mittelpunkt jedes weiblichen Lebens und des Romans steht jedoch noch nicht die Emanzipation aus der, sondern die Beziehung zum Mann. Denn gar nicht zu heiraten ist im Italien der Vierzigerjahre immer noch die schlechteste aller Optionen.
So fühlt sich Alessandra schon als Teenager ungenügend weiblich, keinen großen Busen zu haben, grenzt an persönliches Versagen. Dass ihre ätherisch schöne Mutter den groben Vater heiraten konnte, erschließt sich ihr nicht:„Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass dieselben Männer, die den ganzen Tag über kein einziges zärtliches Wort für ihre Frauen hatten, nachts plötzlich von ihnen erwarteten, zu dieser schrecklichen Umarmung bereit zu sein“. Wie ein Groupie nimmt sie dann auch an der aufkeimenden Liebe ihrer Mutter zum kultivierten Harvey teil, ermuntert sie geradezu, mit ihm abzuhauen. Der Ausbruch aus dieser Ehe ist für Alessandra so moralisch vertretbar wie notwendig. Dabei geht es den meisten Frauen im Wohnblock bei ihren Affären weniger um sexuelle Lustbefriedigung oder echte Liebe. In der Hölle der Ehe ist der Liebhaber eine pragmatische Überlebensmaßnahme.
Meisterlich inszeniert de Céspedes in der ersten Hälfte des Romans all die Glaubenssätze, nach denen Frauen leben mussten an den interessanten Frauenfiguren selbst. Die Liebe der Mutter zu Harvey und ihr Suizid, die rohe, aber gütigen Großmutter, die Alessandra einhämmert, es sei „eine große Sünde“, keine Kinder zu wollen, ihre Freundin Fulvia, deren Freund eine andere heiratet, weil sie auch unverheiratet mit ihm geschlafen hat. Solidarität gibt es, wenn, nur zwischen den Frauen. Alessandras Verliebtheit zu dem Studenten Francesco weicht rasend schnell einer Krise. Sie ahnt, worauf auch ihre Ehe zusteuert: auf das Ende der Liebe.
Es sind die frühen Vierzigerjahre in Rom, Zeit des Waffenstillstandes zwischen Italien und den Alliierten, Zeit der Kriegserklärung an Deutschland. Aber die politischen Ereignisse dienen mehr als Hintergrund für die Erzählung, auch dann noch, als klar wird, dass Francesco im antifaschistischen Widerstand aktiv ist. Thematisiert wird eher Alessandras Schmerz, zu diesem Teil seines Lebens keinen Zutritt zu haben. In der Nacht schläft sie wie an der „Mauer seiner Schultern, seines Rückens.“ Ihr Studium führt sie nicht weiter, einen Verehrer wehrt sie ab, aus Liebe zu Francesco. Der wiederum scheint gar nicht so verkehrt zu sein, sein einziges Vergehen ist, dass er jetzt der Ehemann ist.
Alba de Céspedes wird immer wieder als eine Vorgängerin von Elena Ferrante bezeichnet, wobei es natürlich umgekehrt ist: Ferrante ist eindeutig eine Nachfolgerin von de Céspedes. Ferrante beackert in ihren Romanen die gleichen Realitäten weiblichen Alltags, die gleichen Kämpfe um ein selbstbestimmtes Leben. Auch de Céspedes verwendet sehr viel Raum auf die Schilderung der Gefühlswelt ihrer Protagonistin. „Die einzige Möglichkeit, frei über meinen Körper zu verfügen, bestand darin, ihn in den Fluss zu werfen“, sagt Alessandra. Dieser Körper ringt noch um eine Existenzform jenseits der Version als fürsorgende Ehefrau und üppig-sinnliche Mutter. Alessandra, dünn und hellhäutig, passt ganz buchstäblich nicht in diese idealisierte Form. Bei Ferrante allerdings, die aus heutiger Perspektive über die selbe Zeit schreibt wie einst de Céspedes, ist die Möglichkeit zur Emanzipation der Figuren schon deutlicher angelegt, ihre Texte wirken trotz aller Drastik gelassener, vermutlich, weil sie weiß, was sich seit den Vierzigerjahren verändert hat. De Céspedes ist hingegen noch extrem verhaftet in Konventionen, der Roman bedient die Klischees, an denen die Figuren leiden, unermüdlich selbst. „Für einen Sklaven gibt es mehr Freiheit als für eine Frau“, sagt Alessandra einmal, und das ist natürlich ein so unangebrachter wie pathetischer Vergleich. Dass Männer unter den patriarchalen Strukturen einer Ehe möglicherweise ebenso zu leiden haben, blendet de Céspedes komplett aus.
Das Pathos, die dominanten Klischees und Redundanzen sind auch der Grund, warum die zweite Hälfte dieses Romans dann etwas ermüdet. Der Wahn, in den sich Alessandra steigert, im Versuch, ihre Liebe zu Francesco gegen die Institution der Ehe zu verteidigen, lässt sie immer weniger als eigenständige Person handeln. Ihr Problem wirkt zunehmend hausgemacht. Ein alternatives Leben aber ist nicht vorstellbar, der Widerspruch Ehe und Liebe bleibt bestehen. Am Ende bringt sie sich deshalb zwar nicht um, wählt aber einen anderen radikalen Weg. Für eine richtige Befreiung ist die Zeit noch nicht reif.
Wie Elena Ferrante
schildert sie die Gefühlswelt
ihrer Protagonistin
Die italienische Schriftstellerin, Journalistin und Widerstandskämpferin Alba de Céspedes (1911 bis 1997).
Foto: picture-alliance / Leemage
Alba de Céspedes:
Aus ihrer Sicht. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Insel, Berlin 2023.
637 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In „Aus ihrer Sicht“ blickt Alba de Céspedes in die Seele einer jungen Frau, die an den
Konventionen zerbricht. Jetzt ist der wegweisende Roman erstmals auf Deutsch erschienen
VON CHRISTIANE LUTZ
Für Alessandras Mutter geht das mit der Liebe schlecht aus: Sie ertränkte sich im Tiber. Weil sie es nicht schafft, ihren Ehemann für den Mann zu verlassen, den sie eigentlich liebt. Weil sie nicht das Leben führen kann, das sie sich wünscht. Für Alessandra ist das Schicksal der Mutter von nun an beides – Ideal und Abschreckung. Sie will dafür sorgen, dass die romantische Liebe da stattfindet, wo sie hingehört: in der Ehe. Klar, dass Alessandra an dieser fixen Idee scheitern muss.
In dem Roman „Aus ihrer Sicht“ der italienischen Autorin Alba de Céspedes sind Liebe und Ehe nämlich geradezu unvereinbare Gegensätze. Wer liebt, heiratet nicht. Und wer verheiratet ist, liebt irgendwann nicht mehr. „Warum schreibst du mir keine Liebesbriefe mehr?“ fragt Alessandra später ihren Ehemann. Der antwortet: „Vielleicht, weil ich jetzt mit dir sprechen kann, wann immer ich möchte“. „Aus ihrer Sicht“ ist ein Roman über dieses menschengemachte Dilemma, schillernd und melancholisch erzählt aus der Perspektive einer erst glühend liebenden und dann sehr verzweifelten jungen Frau.
Alba de Céspedes, 1911 in Rom geboren, eckt früh mit ihren Romanen an, auch im faschistischen Italien, weil ihre Protagonistinnen unverschämt unangepasst auftreten. Sie arbeitet als Journalistin, ist während des Zweiten Weltkrieges in der Resistenza aktiv, später lebt sie in Paris. In Italien ist der Roman „Dalla parte di lei“ (erschienen 1949) heute ein Klassiker feministischer Literatur. Suhrkamp hat ihn erstmals auf Deutsch aufgelegt, aus dem Italienischen von Karin Krieger übersetzt, mit einem Nachwort von Barbara Vinken.
Mit Selbstverständlichkeit benennt de Céspedes in dem Roman eheliches Leid, manchmal Gewalt, meist aber nur radikales Desinteresse der Männer an ihren Frauen. „Wie durch die Gitterstäbe eines Gefängnisses“ empfindet Alessandra die Blicke der verheirateten Nachbarinnen in den Hof, „sie ließen mich die Last eines jahrhundertealten Unglücks spüren und eine trostlose Einsamkeit.“ Im Mittelpunkt jedes weiblichen Lebens und des Romans steht jedoch noch nicht die Emanzipation aus der, sondern die Beziehung zum Mann. Denn gar nicht zu heiraten ist im Italien der Vierzigerjahre immer noch die schlechteste aller Optionen.
So fühlt sich Alessandra schon als Teenager ungenügend weiblich, keinen großen Busen zu haben, grenzt an persönliches Versagen. Dass ihre ätherisch schöne Mutter den groben Vater heiraten konnte, erschließt sich ihr nicht:„Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass dieselben Männer, die den ganzen Tag über kein einziges zärtliches Wort für ihre Frauen hatten, nachts plötzlich von ihnen erwarteten, zu dieser schrecklichen Umarmung bereit zu sein“. Wie ein Groupie nimmt sie dann auch an der aufkeimenden Liebe ihrer Mutter zum kultivierten Harvey teil, ermuntert sie geradezu, mit ihm abzuhauen. Der Ausbruch aus dieser Ehe ist für Alessandra so moralisch vertretbar wie notwendig. Dabei geht es den meisten Frauen im Wohnblock bei ihren Affären weniger um sexuelle Lustbefriedigung oder echte Liebe. In der Hölle der Ehe ist der Liebhaber eine pragmatische Überlebensmaßnahme.
Meisterlich inszeniert de Céspedes in der ersten Hälfte des Romans all die Glaubenssätze, nach denen Frauen leben mussten an den interessanten Frauenfiguren selbst. Die Liebe der Mutter zu Harvey und ihr Suizid, die rohe, aber gütigen Großmutter, die Alessandra einhämmert, es sei „eine große Sünde“, keine Kinder zu wollen, ihre Freundin Fulvia, deren Freund eine andere heiratet, weil sie auch unverheiratet mit ihm geschlafen hat. Solidarität gibt es, wenn, nur zwischen den Frauen. Alessandras Verliebtheit zu dem Studenten Francesco weicht rasend schnell einer Krise. Sie ahnt, worauf auch ihre Ehe zusteuert: auf das Ende der Liebe.
Es sind die frühen Vierzigerjahre in Rom, Zeit des Waffenstillstandes zwischen Italien und den Alliierten, Zeit der Kriegserklärung an Deutschland. Aber die politischen Ereignisse dienen mehr als Hintergrund für die Erzählung, auch dann noch, als klar wird, dass Francesco im antifaschistischen Widerstand aktiv ist. Thematisiert wird eher Alessandras Schmerz, zu diesem Teil seines Lebens keinen Zutritt zu haben. In der Nacht schläft sie wie an der „Mauer seiner Schultern, seines Rückens.“ Ihr Studium führt sie nicht weiter, einen Verehrer wehrt sie ab, aus Liebe zu Francesco. Der wiederum scheint gar nicht so verkehrt zu sein, sein einziges Vergehen ist, dass er jetzt der Ehemann ist.
Alba de Céspedes wird immer wieder als eine Vorgängerin von Elena Ferrante bezeichnet, wobei es natürlich umgekehrt ist: Ferrante ist eindeutig eine Nachfolgerin von de Céspedes. Ferrante beackert in ihren Romanen die gleichen Realitäten weiblichen Alltags, die gleichen Kämpfe um ein selbstbestimmtes Leben. Auch de Céspedes verwendet sehr viel Raum auf die Schilderung der Gefühlswelt ihrer Protagonistin. „Die einzige Möglichkeit, frei über meinen Körper zu verfügen, bestand darin, ihn in den Fluss zu werfen“, sagt Alessandra. Dieser Körper ringt noch um eine Existenzform jenseits der Version als fürsorgende Ehefrau und üppig-sinnliche Mutter. Alessandra, dünn und hellhäutig, passt ganz buchstäblich nicht in diese idealisierte Form. Bei Ferrante allerdings, die aus heutiger Perspektive über die selbe Zeit schreibt wie einst de Céspedes, ist die Möglichkeit zur Emanzipation der Figuren schon deutlicher angelegt, ihre Texte wirken trotz aller Drastik gelassener, vermutlich, weil sie weiß, was sich seit den Vierzigerjahren verändert hat. De Céspedes ist hingegen noch extrem verhaftet in Konventionen, der Roman bedient die Klischees, an denen die Figuren leiden, unermüdlich selbst. „Für einen Sklaven gibt es mehr Freiheit als für eine Frau“, sagt Alessandra einmal, und das ist natürlich ein so unangebrachter wie pathetischer Vergleich. Dass Männer unter den patriarchalen Strukturen einer Ehe möglicherweise ebenso zu leiden haben, blendet de Céspedes komplett aus.
Das Pathos, die dominanten Klischees und Redundanzen sind auch der Grund, warum die zweite Hälfte dieses Romans dann etwas ermüdet. Der Wahn, in den sich Alessandra steigert, im Versuch, ihre Liebe zu Francesco gegen die Institution der Ehe zu verteidigen, lässt sie immer weniger als eigenständige Person handeln. Ihr Problem wirkt zunehmend hausgemacht. Ein alternatives Leben aber ist nicht vorstellbar, der Widerspruch Ehe und Liebe bleibt bestehen. Am Ende bringt sie sich deshalb zwar nicht um, wählt aber einen anderen radikalen Weg. Für eine richtige Befreiung ist die Zeit noch nicht reif.
Wie Elena Ferrante
schildert sie die Gefühlswelt
ihrer Protagonistin
Die italienische Schriftstellerin, Journalistin und Widerstandskämpferin Alba de Céspedes (1911 bis 1997).
Foto: picture-alliance / Leemage
Alba de Céspedes:
Aus ihrer Sicht. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Insel, Berlin 2023.
637 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
In dieser Neuauflage von Alba de Céspedes' Roman findet Rezensent Niklas Bender eine Vorgängerin zu Elena Ferrantes Neapel-Tetralogie: 1949 erschien das Buch im Original, im Mittelpunkt steht die Römerin Alessandra im Alter zwischen 16 und Anfang 20, zunächst während der Mussolini-Diktatur in Rom, später im Herkunftsdorf, wo vergeblich versucht wird, sie in eine Rolle als unterwürfige Hausfrau zu pressen. Besonders zentral ist Bender zufolge die Beziehung der Protagonistin zu Francesco, die romantisch beginnt, aber doch enttäuschend endet. Dieser Fokus sagt dem Kritiker allerdings eher weniger zu, er fragt sich, warum weibliche Emanzipation unbedingt an männliche Beachtung geknüpft sein muss. Auch mit der Begeisterung der Autorin für Fidel Castro tut er sich schwer. Und so fällt sein Urteil gemischt aus: Das Buch ist "politisch und existenziell heikel, ästhetisch meist lohnend", erklärt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2023Unsere Freiheit endet nur Stunden nach der Geburt
Ein Klassiker der emanzipativen Literatur: "Aus ihrer Sicht" von Alba de Céspedes in Neuübersetzung
Elena Ferrantes Romanzyklus "Meine geniale Freundin" hat einen großen Vorläufer: "Aus ihrer Sicht". Dieser 1949 erschienene Roman von Alba de Céspedes (1911 bis 1997) verhandelt vergleichbare Themen, vorneweg die heikle Stellung der Frau im modernen Italien gerade in einem Szenario sozialen Aufstiegs, das Selbstverwirklichung verheißt. Und auch wenn der Fokus bei Cespédes nicht auf Freundschaft liegt, spielt sie fürs Verhältnis der Heldin Alessandra und ihrer Bekannten Fulvia eine zentrale Rolle. Cespédes hat einen verkannten modernen Klassiker geschrieben, der auf den Ehebruchroman des neunzehnten Jahrhunderts konsequent antwortet. Man hofft, dass die schöne Neuübersetzung von Karen Krieger (die erste seit den Fünfzigerjahren) ihn den deutschen Lesern nahebringen wird.
"Aus ihrer Sicht" präsentiert die Perspektive der jungen Römerin Alessandra in den biographischen Schlüsseljahren zwischen sechzehn und Anfang zwanzig; diese fallen zusammen mit dem Ende des Faschismus und der Befreiung von deutscher Besatzung. Von Alessandra wird in drei Blöcken berichtet: Teil eins erzählt die außereheliche, tragische endende Liebe ihrer Mutter, einer begabten Pianistin, zu dem reichen Exzentriker Hervey Pierce. In Teil zwei wird Alexandra in die Heimat ihres Vaters geschickt, um eine klassische Frauenrolle zu erlernen; allerdings findet sie ihren Platz in dem Abruzzendorf nicht. Der dritte und längste Teil schließlich erzählt anfangs, wie die nach Rom zurückgekehrte Alessandra ihren erblindenden Vater versorgt und Kunstgeschichte studiert. Im Zentrum steht jedoch ihre Liebe zu Francesco, einem Dozenten der Rechtsgeschichte aus gutem Hause, der in den Widerstand geht und eine Politikerkarriere beginnt, während Alessandra in eine Hausfrauenrolle gedrängt wird. Céspedes lässt diese Liebe den Realitätstest Ehe durchlaufen. Ergebnis: nicht bestanden.
Seine Kraft zieht "Aus ihrer Sicht" aus mehreren Quellen. Schwer wiegt die Darstellung der bleiernen Faschismusjahre, eindrücklich kondensiert in jener Stimme, die aus dem Radio schallt - Mussolinis Name fällt nicht, aber die Dinge sind klar. Packend sind die Milieuschilderungen des römischen Kleinbürgertums, das Alessandras Vater, ein Beamter, aufs Widerwärtigste inkarniert, und die des Mietshauses mit seiner Innenhofgemeinschaft (Wahrsagerin inklusive). Die ländliche Großfamilie wird als zwiespältiges Korsett - sowohl Stütze als auch Gefängnis - treffend porträtiert, ebenso die Facetten der Mädchenfreundschaft zwischen Spiegel, Konkurrenz und Attraktion.
Besonders jedoch findet Céspedes' Hauptimpetus, das komplexe Verhältnis von Mann und Frau zu beschreiben, meisterhafte Umsetzung: Es gelingt ihr, hochfliegende Erwartung und schleichende Enttäuschung in ein teils krasses, teils subtiles Spannungsverhältnis zu setzen, die Säure des Alltags auf Ideale zu schütten und deren Zersetzung mit reiner Lupe zu beobachten. Die Mutter bringt es auf den Punkt: "Kein Mensch ist frei, niemand ist frei. Unsere Freiheit endet wenige Stunden nach unserer Geburt, wenn man uns einen Namen überstülpt und uns in eine Familie zwängt. Dann können wir nicht mehr entkommen, uns nicht mehr losreißen, nicht mehr wirklich frei sein. Das große Standesamtsgebäude ist unser Gefängnis." Fürs weibliche Geschlecht gilt das doppelt, in der Ehe wird es zum Objekt; Céspedes stellt die bis ins Ehebett geltende Gehorsamspflicht an den Pranger.
Weibliche Verzweiflung setzt Céspedes durch Gesten motivisch ins Bild, hier die einer namenlosen Bäuerin: "Ihre Ärmel waren hochgekrempelt und die Unterarme so muskulös wie die eines jungen Mannes. Ihre Hände, die den weichen Teig bearbeiteten, verrieten einen gewalttätigen Impuls, der sich in dieser Tätigkeit entlud. Plötzlich fiel mir wieder ein, wie erbittert Sista das Bügeleisen auf das Hemd meines Vaters gepresst hatte." Der Unterwerfung setzen Alessandra und ihre Mutter radikal romantische Liebe entgegen, gefasst im ambivalenten Motiv einer Liebenden, welche die Treppe hinuntereilt.
Die Kompromisslosigkeit der Mutter sorgt dafür, dass sie der Tochter zur "poetischen Legende" wird. Nicht umsonst ist die Pianistin eifrige Leserin von Flauberts "Madame Bovary": Wie Emma träumt sie von einer romanhaften Existenz. Ganz anders Alessandra: Mit Flaubert kann sie nichts anfangen. Als ihr zuerst so einfühlsamer Mann ihr signalisiert, dass ein Engagement im Widerstand, ja allgemein öffentliches Wirken von Frauen unangebracht sei, will sie ihm das Gegenteil beweisen. Heimlich und gegen seinen Willen schmuggelt sie Flugblätter, später Bomben. Als sie einsehen muss, dass selbst der verständnisvolle Intellektuelle sie zu Heim und Herd verurteilt, greift sie zur Pistole. Wo das neunzehnte Jahrhundert Ehebruch und Tod der Frau setzte, wird im zwanzigsten der Ehemann ausgeräumt.
Alba de Céspedes, Tochter von Carlos Manuel de Céspedes y Quesada (kubanischer Präsident im Jahr 1933) und einer Italienerin, führt ihren Roman mit radikaler Konsequenz zu Ende - schon dafür verdient sie Bewunderung. Allerdings enthält "Aus ihrer Sicht" Inkonsequenzen. Man fragt sich, warum Emanzipation und romantische Liebe unbedingt gekoppelt sein müssen - und ob nicht gerade das zu beider Scheitern führt. Die Abruzzen-Großmutter etwa bietet Alessandra Frauenherrschaft, die aber ohne Liebe auskommen muss, wie Barbara Vinken in ihrem Nachwort betont. Was sie nicht erwähnt, ist, dass Céspedes daraus Probleme entstehen, in die auch Ferrante sich verheddert: Erstens knüpft sie das weibliche Selbstbild an einen intimen liebeszentrierten Existenzentwurf, der paradoxerweise verlangt, in einer männlich dominierten Öffentlichkeit anerkannt zu werden. Zweitens hat dieser Entwurf einen Hang zum Kitsch. Drittens stellt sich die Frage, ob Alessandras Ansprüche nicht wie jene von Emma Bovary schlicht überzogen sind, ob das Problem also weniger bei misogynen Männern und den von ihnen geprägten Institutionen als vielmehr in der Unzulänglichkeit des Lebens zu suchen wäre.
Céspedes muss blind für derartige Überlegungen gewesen sein; das legt auch ihr Nachwort zur Neuauflage von 1994 nahe, in dem sie als Anhängerin Fidel Castros - Kubas "edler, aufrechter Führer" - ungebrochen Revolutionsideale vertritt und die Amerikaner beschimpft, an die Italien 1945 seine Unabhängigkeit verloren habe. Idealistische Maßlosigkeit kennzeichnen Céspedes' Ansprüche - politisch und existenziell heikel, ästhetisch meist lohnend. NIKLAS BENDER
Alba de Céspedes: "Aus ihrer Sicht". Roman.
Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Nachwort von Barbara Vinken. Insel Verlag, Berlin 2023. 638 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Klassiker der emanzipativen Literatur: "Aus ihrer Sicht" von Alba de Céspedes in Neuübersetzung
Elena Ferrantes Romanzyklus "Meine geniale Freundin" hat einen großen Vorläufer: "Aus ihrer Sicht". Dieser 1949 erschienene Roman von Alba de Céspedes (1911 bis 1997) verhandelt vergleichbare Themen, vorneweg die heikle Stellung der Frau im modernen Italien gerade in einem Szenario sozialen Aufstiegs, das Selbstverwirklichung verheißt. Und auch wenn der Fokus bei Cespédes nicht auf Freundschaft liegt, spielt sie fürs Verhältnis der Heldin Alessandra und ihrer Bekannten Fulvia eine zentrale Rolle. Cespédes hat einen verkannten modernen Klassiker geschrieben, der auf den Ehebruchroman des neunzehnten Jahrhunderts konsequent antwortet. Man hofft, dass die schöne Neuübersetzung von Karen Krieger (die erste seit den Fünfzigerjahren) ihn den deutschen Lesern nahebringen wird.
"Aus ihrer Sicht" präsentiert die Perspektive der jungen Römerin Alessandra in den biographischen Schlüsseljahren zwischen sechzehn und Anfang zwanzig; diese fallen zusammen mit dem Ende des Faschismus und der Befreiung von deutscher Besatzung. Von Alessandra wird in drei Blöcken berichtet: Teil eins erzählt die außereheliche, tragische endende Liebe ihrer Mutter, einer begabten Pianistin, zu dem reichen Exzentriker Hervey Pierce. In Teil zwei wird Alexandra in die Heimat ihres Vaters geschickt, um eine klassische Frauenrolle zu erlernen; allerdings findet sie ihren Platz in dem Abruzzendorf nicht. Der dritte und längste Teil schließlich erzählt anfangs, wie die nach Rom zurückgekehrte Alessandra ihren erblindenden Vater versorgt und Kunstgeschichte studiert. Im Zentrum steht jedoch ihre Liebe zu Francesco, einem Dozenten der Rechtsgeschichte aus gutem Hause, der in den Widerstand geht und eine Politikerkarriere beginnt, während Alessandra in eine Hausfrauenrolle gedrängt wird. Céspedes lässt diese Liebe den Realitätstest Ehe durchlaufen. Ergebnis: nicht bestanden.
Seine Kraft zieht "Aus ihrer Sicht" aus mehreren Quellen. Schwer wiegt die Darstellung der bleiernen Faschismusjahre, eindrücklich kondensiert in jener Stimme, die aus dem Radio schallt - Mussolinis Name fällt nicht, aber die Dinge sind klar. Packend sind die Milieuschilderungen des römischen Kleinbürgertums, das Alessandras Vater, ein Beamter, aufs Widerwärtigste inkarniert, und die des Mietshauses mit seiner Innenhofgemeinschaft (Wahrsagerin inklusive). Die ländliche Großfamilie wird als zwiespältiges Korsett - sowohl Stütze als auch Gefängnis - treffend porträtiert, ebenso die Facetten der Mädchenfreundschaft zwischen Spiegel, Konkurrenz und Attraktion.
Besonders jedoch findet Céspedes' Hauptimpetus, das komplexe Verhältnis von Mann und Frau zu beschreiben, meisterhafte Umsetzung: Es gelingt ihr, hochfliegende Erwartung und schleichende Enttäuschung in ein teils krasses, teils subtiles Spannungsverhältnis zu setzen, die Säure des Alltags auf Ideale zu schütten und deren Zersetzung mit reiner Lupe zu beobachten. Die Mutter bringt es auf den Punkt: "Kein Mensch ist frei, niemand ist frei. Unsere Freiheit endet wenige Stunden nach unserer Geburt, wenn man uns einen Namen überstülpt und uns in eine Familie zwängt. Dann können wir nicht mehr entkommen, uns nicht mehr losreißen, nicht mehr wirklich frei sein. Das große Standesamtsgebäude ist unser Gefängnis." Fürs weibliche Geschlecht gilt das doppelt, in der Ehe wird es zum Objekt; Céspedes stellt die bis ins Ehebett geltende Gehorsamspflicht an den Pranger.
Weibliche Verzweiflung setzt Céspedes durch Gesten motivisch ins Bild, hier die einer namenlosen Bäuerin: "Ihre Ärmel waren hochgekrempelt und die Unterarme so muskulös wie die eines jungen Mannes. Ihre Hände, die den weichen Teig bearbeiteten, verrieten einen gewalttätigen Impuls, der sich in dieser Tätigkeit entlud. Plötzlich fiel mir wieder ein, wie erbittert Sista das Bügeleisen auf das Hemd meines Vaters gepresst hatte." Der Unterwerfung setzen Alessandra und ihre Mutter radikal romantische Liebe entgegen, gefasst im ambivalenten Motiv einer Liebenden, welche die Treppe hinuntereilt.
Die Kompromisslosigkeit der Mutter sorgt dafür, dass sie der Tochter zur "poetischen Legende" wird. Nicht umsonst ist die Pianistin eifrige Leserin von Flauberts "Madame Bovary": Wie Emma träumt sie von einer romanhaften Existenz. Ganz anders Alessandra: Mit Flaubert kann sie nichts anfangen. Als ihr zuerst so einfühlsamer Mann ihr signalisiert, dass ein Engagement im Widerstand, ja allgemein öffentliches Wirken von Frauen unangebracht sei, will sie ihm das Gegenteil beweisen. Heimlich und gegen seinen Willen schmuggelt sie Flugblätter, später Bomben. Als sie einsehen muss, dass selbst der verständnisvolle Intellektuelle sie zu Heim und Herd verurteilt, greift sie zur Pistole. Wo das neunzehnte Jahrhundert Ehebruch und Tod der Frau setzte, wird im zwanzigsten der Ehemann ausgeräumt.
Alba de Céspedes, Tochter von Carlos Manuel de Céspedes y Quesada (kubanischer Präsident im Jahr 1933) und einer Italienerin, führt ihren Roman mit radikaler Konsequenz zu Ende - schon dafür verdient sie Bewunderung. Allerdings enthält "Aus ihrer Sicht" Inkonsequenzen. Man fragt sich, warum Emanzipation und romantische Liebe unbedingt gekoppelt sein müssen - und ob nicht gerade das zu beider Scheitern führt. Die Abruzzen-Großmutter etwa bietet Alessandra Frauenherrschaft, die aber ohne Liebe auskommen muss, wie Barbara Vinken in ihrem Nachwort betont. Was sie nicht erwähnt, ist, dass Céspedes daraus Probleme entstehen, in die auch Ferrante sich verheddert: Erstens knüpft sie das weibliche Selbstbild an einen intimen liebeszentrierten Existenzentwurf, der paradoxerweise verlangt, in einer männlich dominierten Öffentlichkeit anerkannt zu werden. Zweitens hat dieser Entwurf einen Hang zum Kitsch. Drittens stellt sich die Frage, ob Alessandras Ansprüche nicht wie jene von Emma Bovary schlicht überzogen sind, ob das Problem also weniger bei misogynen Männern und den von ihnen geprägten Institutionen als vielmehr in der Unzulänglichkeit des Lebens zu suchen wäre.
Céspedes muss blind für derartige Überlegungen gewesen sein; das legt auch ihr Nachwort zur Neuauflage von 1994 nahe, in dem sie als Anhängerin Fidel Castros - Kubas "edler, aufrechter Führer" - ungebrochen Revolutionsideale vertritt und die Amerikaner beschimpft, an die Italien 1945 seine Unabhängigkeit verloren habe. Idealistische Maßlosigkeit kennzeichnen Céspedes' Ansprüche - politisch und existenziell heikel, ästhetisch meist lohnend. NIKLAS BENDER
Alba de Céspedes: "Aus ihrer Sicht". Roman.
Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Nachwort von Barbara Vinken. Insel Verlag, Berlin 2023. 638 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein Klassiker der emanzipativen Literatur ...« Niklas Bender Frankfurter Allgemeine Zeitung 20231019