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Die Malerin Dora Blum ist ausgewandert und lebt in den Vereinigten Staaten. Sie hat aufgehört zu malen ("es kommt schon wieder, sagen mir alle; sie hat eine Krise, sagen sie sich"), nachdem drüben, in ihrer Heimatstadt, etwas vorgefallen ist.

Produktbeschreibung
Die Malerin Dora Blum ist ausgewandert und lebt in den Vereinigten Staaten. Sie hat aufgehört zu malen ("es kommt schon wieder, sagen mir alle; sie hat eine Krise, sagen sie sich"), nachdem drüben, in ihrer Heimatstadt, etwas vorgefallen ist.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.08.2001

Schreiben mit der Taschenlampe
Schmerzverpflanzung: Eleonore Frey topft ein Leben um

Daß das Leben an sich, unter dem richtigen Blickwinkel betrachtet, zum Verrücktwerden ist - wer wollte das noch bestreiten, nachdem er eine Geschichte wie Eleonore Freys "Aus Übersee" gelesen hat. Erzählt wird der "Bericht", wie der Untertitel lautet, von Dora Blum, einer Malerin, deren Haut so papierdünn ist, daß noch die kleinste Kränkung wie ein Stein hindurchgeht und widerstandslos das Innere trifft. Doch was Dora aus ihrer Heimat an die Ostküste der Vereinigten Staaten, nach Übersee, trieb, war keine leichte Brise, sondern ein Sturm, der selbst noch viel stärker in ihrer Herkunft gegründete Menschen entwurzelt hätte.

Seit "jenem Vorfall" - unter diesem unbestimmten Tarnnamen nähert sich Dora dem Wendepunkt ihres Lebens, der sich der direkten Benennung entzieht - gibt es für die hochsensible Frau keine Flucht mehr vor der Erkenntnis des Scheiterns, das freilich zur Bedingung eines Neuanfangs wird. Die Stelle als Kunstlehrerin, die ihr amerikanische Freunde besorgt haben, sichert Dora auch im wörtlichen Sinne eine Existenz, die vorerst nur dem einen Ziel dient: zu begreifen, wie sie an diesen Punkt kam, und sich mit dem Kraftakt der Reflexion am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. "Ich komme von weit her. So viele Jahre, so viele Meilen. Hin und zurück. In Schleifen, im Kreis: Vieles bleibt im Dunkeln. Mein Licht reicht nicht weit."

Was dennoch erhellt wird, verdichtet sich zum Schattenspiel einer Kindheit, das sich in die Tragödie einer Ehe verlängert. Schon das Kind lebte im Spannungsbogen einer dramatischen Anagnorisis, eines jähen und schockhaften Erkennens der Wirklichkeit: Lange nachdem Dora von ihrer Großmutter, wo sie aufwuchs, zurückgekehrt ist, entdeckt sie das Schicksal ihres nach einem Unfall geistig behinderten Bruders Philipp, den die Eltern in ein Heim wegschlossen. Jahrelang geht die Mutter an jedem Siebzehnten des Monats zu einem fremden Grab, um dort den Tod des Sohnes zu beweinen. Als Philipp, lange nach der Mutter, wirklich stirbt, ist die Schwester, nicht aber der weiter verständnislose Vater bei ihm. Wenn die wieder einmal fremdbestimmte Frau den Künstler David heiratet - und von "Dora B." zu "Dora A." wird -, weiß sie längst um dessen Geheimnis, eine verdrängte Vaterschaft in Übersee; Davids nicht ganz unerwartetes Verschwinden gleich nach der Hochzeit läßt die Schwangere mit einem weiteren Rätsel zurück. Auf den einem Selbstmordversuch zum Verwechseln ähnlichen Unfall, bei dem Dora ihr Gedächtnis und ihr Kind verliert, folgt der völlige Zusammenbruch. Die Blumen, die sie wie obsessiv malt, dienen ihr als Kletterhilfen aus der tiefen Höhle der Krankheit hinaus, zurück an die Oberfläche.

Ebenso vorsichtig wie die Rekonvaleszentin tastet sich die Erzählerin auf vielen kleinen Umwegen voran. Der behutsamen Therapie entspricht eine Poetologie der kleinen Schritte: "Um Sinn ging es mir nicht, sondern um Genauigkeit. Der Sinn des Ganzen, von dem man so oft reden hört, ist eine Festbeleuchtung. Die Genauigkeit ist eine Taschenlampe, die aus dem Dunkeln herausschneidet, was man braucht - eine Hausnummer, ein Schlüsselloch. Und dazwischen ist nichts." Ihre Sprache gewinnt poetische Qualität durch Präzision, freilich nicht im Sinne eines prallen Naturalismus, sondern in der greifbar-bildlichen Art, wie man einem Kind erzählt, das noch nichts von der Welt weiß. Das ist keine naive Rationalitätskritik, sondern eine sentimentalische Trauer um den unwiederbringlichen Verlust der Einheit von Innen und Außen, leichter Phantasie und dem harten Gegendruck der Dingwelt.

Der Bericht ist an Franz gerichtet, einen Freund aus jenen glücklichen Kindertagen, von dem Dora nicht einmal weiß, ob er überhaupt noch am Leben ist - seine Aidserkrankung wird einmal angedeutet. Dieser Franz wird zum stummen Ansprechpartner, zum Fluchtpunkt der Erinnerung als der einzige Mensch, von dem Dora erwarten kann, sie und ihre Geschichte nicht vereinnahmen zu wollen - für das eigene Leid, die Einsamkeit oder sogar ein kommerzielles Interesse, wie es den Galeristen treibt, der Dora zwar nach der Entlassung aus der Psychiatrie hilft, eine Existenz als Malerin aufzubauen, aber zugleich die merkantile Verwertung ihrer bildgewordenen Verzweiflung unternimmt.

Eleonore Frey, Jahrgang 1939, ist Literaturwissenschaftlerin und lebt in Zürich. Mit einigen schmalen Erzählungen und dem Roman "Lipp geht" (1998), auf den hier in einer Nebenfigur angespielt wird, hat sie in den vergangenen Jahren ein beachtenswertes Werk vorgelegt. Daß es bisher außerhalb der Schweiz wenig Aufmerksamkeit gefunden hat, stellt einem Literaturbetrieb, der sich in der Entdeckung möglichst junger Debütanten zu überbietet versucht, kein gutes Zeugnis aus. Daß manche Erfahrungen eben erst in der Distanz und im Alter zu Sprache kondensieren können, führt dieser Bericht über ein auf der Schwelle des Scheiterns taumelndes Leben vor, an dem einzig auszusetzen wäre, daß er die psychoanalytisch schulmäßige Durchwirkung der Handlungsstruktur etwas zu deutlich offenlegt.

"Denn die neuen Wege führen, auf Bildern mindestens, immer von links nach rechts", heißt es einmal. Das gilt, in unserem Kulturkreis jedenfalls, auch für die Wege der Schrift. Wenn Dora am Ende erneut den Entschluß zur Abreise faßt, hat sie verstanden, daß ihre Sehnsucht nach "Übersee" der ewig drängenden Bewegung der Sprache entspricht, über die eigenen Grenzen hinauszugehen.

RICHARD KÄMMERLINGS

Eleonore Frey: "Aus Übersee". Ein Bericht. Literaturverlag Droschl, Graz und Wien 2001. 174 S., geb., 38,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

An einen Roman von solcher Komplexität habe sich die Zürcher Autorin Eleonore Frey bisher noch nicht gewagt, konstatiert Beatrice von Matt, doch das Ergebnis findet sie fast ohne Einschränkung überzeugend. Die Rezensentin nennt die Protagonistin des Romans, Dora B., eine Hinausgeworfene , denn im Alter von zwölf Jahren muss sie den glücklichen Ort ihrer Kindheit verlassen. Ein ihr verschwiegenes Familienunglück und eine verdrängte Lebenskatastrophe tragen dazu bei, aus ihr einen Menschen zu machen, der sich nur an "Unorten" wohlfühlt, erklärt von Matt. Die Rezensentin bewundert die Fähigkeit der Autorin, Seelenzustände anhand unklarer Eindrücke und rätselhafter, sinnenstarker Erfahrungen zu eruieren. Der Weg des Schreibens sei deshalb krumm, erklärt sie. Immer wieder setzten sich neue Fetzen der verlorenen Biografie zusammen und bildeten schließlich ein düster farbiges Patchwork.. Bewundernswert findet die Rezensentin auch, wie die vermeintliche Innensicht sich als hochdramatische Handlung, ja als ein "überaus spannender und figurenreicher Roman" entpuppt. Auch wenn, wie sie meint, der Verzicht auf das ein oder andere Geheimnis nicht geschadet hätte und eine gewisse Überlastung mit Symbolen nicht zu leugnen sei, zerstreue die exzellente Komposition des Ganzen alle Bedenken.

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