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Produktbeschreibung
Requiem auf eine verlorene Generation.
Autorenporträt
Domenico Müllensiefen wurde 1987 in Magdeburg geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er auf einem Bauernhof in der Altmark. Mit 16 lernte er bei der Deutschen Telekom. Danach Anstellung als Techniker in Leipzig. Ab 2011 Studium und Master am Deutschen Literaturinstitut. Nebenbei arbeitete er als Bestatter. Er lebt in Leipzig und arbeitet als Bauleiter. Sein Debütroman 'Aus unseren Feuern' wurde mit dem Klopstock-Förderpreis 2023 und dem Uwe-Johnson-Förderpreis 2023 ausgezeichnet.
Rezensionen
»Der Roman fordert das Thema Ost/West explizit ein, man kann kaum nicht politisch über dieses Buch schreiben.« Miryam Schellbach

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensentin Sandra Kegel staunt, wie lässig und gekonnt Domenico Müllensiefen in seinem Debütroman über ein paar verlorene Jugendliche im Leipzig der desolaten Nachwendezeit philosophische Fragen (über das Verhältnis von Modell und Original) umkreist, Detailwissen (über das Präparieren von Leichen) an die Leserin bringt und die paranoide und pyromanische Stimmung seiner Figuren einfängt. Tempo und Zeitsprünge und eine Erzählhaltung auf Augenhöhe fordern Kegel als Leserin und machen ihr Spaß.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2022

Die Verrückten sind unsere Heimat

Domenico Müllensiefen beeindruckt mit seinem pyromanischen Debüt "Aus unseren Feuern" über die Generation der Nachwendezeit.

Von Sandra Kegel

Ein Kanon in der Musik ist eine Komposition, bei der eine Stimme nach der anderen einsetzt, um im Augenblick der Polyphonie schließlich ein neues Ganzes zu werden. In der Literatur meint Kanon hingegen die Zusammenstellung einzelner Werke, denen ein besonderer Wert zugeschrieben wird, der wie auch immer über die Zeit hinausweist. Es zeugt also von einer gewissen gewitzten Ambition nicht nur in herausfordernden Zeiten wie diesen, wenn der ehemalige langjährige Lektor und Geschäftsführer des Aufbau-Verlags, Gunnar Cynybulk, wie unlängst geschehen, einen Verlag gründet, den er Kanon nennt.

Nachdem im Herbst des vergangenen Jahres die ersten Bücher erschienen sind, macht das kleine Berliner Independent-Haus mit dänischen Erfolgsromanen, den Tagebüchern von Manfred Krug (F.A.Z. vom 3. Februar) sowie fürs weitere Jahr angekündigter afroamerikanischer Literatur seiner Programmatik alle Ehre. Klar, dass da die junge deutsche Literatur nicht fehlen darf: Sie wird in diesem Frühjahr vertreten durch den Leipziger Debütanten Domenico Müllensiefen, dessen Erstlingswerk "Aus unseren Feuern" sich als aufregende Erzählung aus der Nachwendezeit erweist, die in irrem Tempo und auf mehreren Zeitebenen surfend literarisch Funken schlägt.

Im Zentrum steht Heiko, an dem der Spitzname Heike klebt wie die ewig qualmende Zigarette in seinen Fingern und die Grünau-Tristesse in den Fugen der großen Wohnkomplexe, die dem Leipziger Stadtteil seine unverkennbare Silhouette verleihen. In dieser größten sächsischen Plattenbausiedlung, deren Niedergang nach 1990 durch den Wegzug von mehr als der Hälfte der Einwohner eingeläutet wurde, wabert seither ein explosives Gemisch aus Neonazis, Drogen, Arbeitslosigkeit. Auch Müllensiefen lässt das in dieser von Heiko erzählten Geschichte, der es aus seiner Grünau-Bude nie herausgeschafft hat, durchaus aufscheinen, allerdings gelingt ihm das fern einer sich daran weidenden Elendspoetik, sondern vielmehr auf Augenhöhe mit seinen jungen, hitzigen und mitunter verzweifelten Protagonisten, die in ihrem spontan-unreflektierten Straßenjargon sehr greifbar werden.

Heiko, der Antiheld, der kaum je aufbegehrt, arbeitet nach einer gescheiterten Episode als Elektriker, der den permanenten Alkoholkonsum nicht vertrug, inzwischen als Bestatter in Leipzig. Im Sommer 2014, als er mit seinen Kollegen vom Leichenwagen gerade darüber verhandelt, ob und wo man sich das nächste Fußball-WM-Viertelfinale anschaut, werden sie zu einem Verkehrsunfall gerufen. Als die Männer aus dem schwarzen Wagen treten und sich den Weg vorbei an Polizisten, Schaulustigen und Fernsehkameras bahnen, gerät das Gefüge eines in der Gegenwart verhafteten Bewusstseins urplötzlich aus dem Lot. Denn der Tote ist, wie Heiko sofort begreift, sein Freund aus Kindertagen. Eben war er noch hier und im Jetzt, da öffnet sich unerwartet eine Falltür in die Vergangenheit, aus deren Tiefen verschiedenste Erinnerungsdämpfe hinaufsteigen.

Noch am Unfallort kommt die Rede auf eine Bombe. Und wie Müllensiefen von hier aus seine pyromanische Motivkette ausbreitet, die von der jugendlichen Begeisterung fürs Feuerwerk der Jahrtausendwende über die Lust, Sachen einfach abzufackeln, bis zum finalen Feuer in Heikos Arbeitsstätte reicht, zeigt, wie durchdacht dieser scheinbar zugängliche Roman gearbeitet ist.

Zum einstigen Bombentrio gehört neben dem toten Thomas und Heiko der von Fernweh getriebene Karsten. Bleiben oder gehen - um diese alles bestimmende Frage einer ostdeutschen Generation, die nach dem Fall der Mauer einerseits mit den Veränderungen Schritt zu halten versuchte und andererseits erfahren musste, dass Neuanfang durch Standortwechsel nicht unbedingt wahr wurde, geht es hier auch. Und dann ist da noch Heiko, der Gegenentwurf zu den beiden Antipoden, der immer noch da ist, ohne einen rechten Platz zu haben, und der nie weg war und dem Pläne zu schmieden derart fremd ist, dass er sich nicht einmal den Gedanken, aus seinem Hobby einen Beruf zu machen, erlauben will.

Ratlos ist er, von Pleiten und Notlagen umzingelt: Die Schlachterei seines Freundes geht bankrott, mit den Mädchen klappt es einfach nicht, und dann stirbt der Vater, als der eigentlich mit seiner Frau nach Kenia reisen wollte, um noch einmal etwas zu erleben. Dass alle hier verrückt seien, sagen Heikos Freunde einmal. "Die Verrückten sind unsere Heimat", entgegnet er ihnen.

Dass Müllensiefens Roman nicht nur die Stimmungslage jener seltsam paranoiden und zugleich ungewissen Neunzigerjahre präzise einfängt, sondern darüber hinaus mit überraschendem Detailwissen aufwartet, wundert nicht, wenn man liest, dass der 1987 in Magdeburg geborene Autor eine Ausbildung zum Techniker absolvierte, ehe er am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studierte - und nebenher als Bestatter arbeitete. Detailliert setzt er seine Leser über das Präparieren und Aufschneiden von Leichen ins Bild. Doch weniger solche Vanitas-Großmetaphern sind es, die hier überzeugen, sondern viel eher die en passant hingestreuten Motive. So ist etwa Heikos heimliche Passion seit der Kindheit der Modellbau. Nächtelang kann er in seiner Wohnung sitzen und Einzelteile zusammensetzen, bekleben und lackieren, um das fertige Objekt eine Zeit lang in die Vitrine zu stellen. Als seine Freunde ihn deshalb verspotten, entgegnet er, es mache ihm einfach Spaß zu sehen, wenn etwas in seinen Händen wachse.

Der Modellbau könnte für Heiko nicht zuletzt deshalb von Reiz sein, weil er über die Verkleinerung bei getreuer Nachbildung sämtlicher Größen, Flugzeugen, Häusern, ja ganzen Städten habhaft werden kann. Dass sich allerdings nicht alles in dieser vertrackten Welt ins Modell zurückrechnen lässt, wird er noch erfahren. Denn Modellen wohnt bekanntlich ein Widerspruch inne, nämlich dass, je realistischer sie werden, sie umso unverständlicher sind. Weil ein Modell, das sich dem Original immer weiter annähert, zuletzt auch seine Rätsel verkörpert. Schon Lewis Carroll und Umberto Eco hatten solche Überlegungen literarisch gereizt. Dass "Aus unseren Feuern" mit diesen Projektionen spielt, ohne dabei modellhaft zu wirken, macht den Reiz aus.

Domenico Müllensiefen: "Aus unseren Feuern". Roman.

Kanon Verlag, Berlin 2022.

336 S., geb., 24,- Euro.

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