Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.09.1999Nietzsche auf gut Deutsch
Das zwanzigste Jahrhundert und der Übermensch haben eine seltsame Beziehung: Liegt es ihm zu Füßen oder tritt es ihn damit?
Gehört zu Ihrem persönlichen Bekanntenkreis zufällig ein Übermensch? Nein? Sie werden sagen, solche Leute seien nicht sehr weit verbreitet, aber schauen Sie sich in diesem Jahrhundert mal genauer um, dann können Sie sich kaum mehr vor ihnen retten.
Im Jahr 1900 gab der Geschichtslehrer Jakob von Uexkülls an der Ritter- und Domschule zu Reval die Zahl der seinerzeit lebenden Übermenschen noch mit "höchstens neunzig" an. Zwei Jahre später erklärte der Zionist Achad Ha'am, das jüdische Volk verfüge seit jeher über "besonders günstige Wachstumsbedingungen für den Übermenschen", dieser sei mitsamt seiner "sittlichen Stärke und inneren Schönheit" im Judentum gewissermaßen schon "fix und fertig". Wenig später entdeckte Georges Sorel, der Denker der Revolution, "Übermenschen" in Gestalt der "zu allen Arbeiten geschickten Yankees", die die Vereinigten Staaten zu "außerordentlicher Größe" geführt hätten. In Deutschland befand Leo Berg, "plötzlich" sei "alles Übermensch", was sich daran zeige, dass man Schulden mache, Mädchen verführe und sich besaufe, "alles zum Ruhme Zarathustras": "Einen sogar kenne ich, der meint, zu den besonderen Rechten des Übermenschen gehörte auch, in Gesellschaft um sich herumzuspeien und mit den Fingern in schmutziger Gier zu essen."
Im Ersten Weltkrieg sah Romain Rolland dann "Hunderttausende" ganz anders gearteter "Übermenschen" auftreten: deutsche Soldaten, die Belgien und Frankreich "verwüsteten". Auch Hindenburg und Hitler wurden später dieser Gattung zugeschlagen. Im Jahr 1927 fand sich für "Übermenschen" ein weiteres Berufsbild; ein gewisser Otto Günther Kaundinya sah den "Voll-Menschen im Sinne von Nietzsche" im "Sportsmann" verkörpert. Ende der dreißiger Jahre erschienen dem Philosophen Martin Heidegger dann "Übermenschen" als Super-Technokraten, die mit der "maschinenmäßigen Durchrechnung alles Handelns und Planens" zur "Errichtung der unbedingten Herrschaft über die Erde" beschäftigt waren. Zur selben Zeit schwärmte Paul Celan für Nietzsches "Zarathustra", was ihm bei seinen Mitschülern in Czernowitz den Spitznamen "Übermensch" eintrug; dies soll ihn, wie es heißt, "nicht sonderlich gestört" haben, wenn er sich freilich auch über die Verwandtschaft, in die er damit hineinzugeraten schien, entsetzt hätte.
Auf seltsame Weise hat sich der Untertitel von Nietzsches "Also sprach Zarathustra", "Ein Buch für Alle und Keinen", in diesem Jahrhundert bewahrheitet. "Alle" möglichen Leute haben sich auf Nietzsche berufen oder gar versucht, ihm gemäß zu leben. Am Ende aber weiß "Keiner" mehr, wer mit dem "Übermenschen" gemeint sein soll und was es überhaupt mit diesem Denker auf sich hat, dessen Tod pünktlich auf den Beginn eben des Jahrhunderts fiel, das - wie Gottfried Benn erklärte - durch dessen "Exegese" bestimmt war. Thomas Mann: "Er hat Geschichte gemacht."
"Fürchterliche Geschichte", wie Mann ergänzte, doch er sah in der Verbindung zwischen Nietzsche und dem "Nazi-Einbruch" das "plumpste aller Missverständnisse". Früher, noch vor den Fürchterlichkeiten, hatte er gar erklärt: "Nietzsche hat . . . zur Demokratisierung Deutschlands stärker beigetragen als irgend jemand." Thomas Mann musste lange Kraft sammeln für den Brustton der Überzeugung, in dem er sein Urteil sprach. Schon seinerzeit war es üblich, dass "alles von der Theologie bis zum Freidenkertum, vom Kapitalismus bis zum Sozialismus, vom Konservatismus bis zum Bolschewismus, vom Internationalismus bis zum Nationalismus, vom Atheismus bis zur Anthroposophie mit Strömen aus Nietzsche flott und mit Zitaten aus ihm geistreich gemacht zu werden pflegt." (Ernst Troeltsch, 1922) Kann man sich zur Entschiedenheit im Urteil über Nietzsche am Ende dieses Jahrhunderts überhaupt noch aufraffen?
Wer wagt das Urteil?
Die Antwort auf diese Frage muss zweigeteilt sein. Zunächst mal geht es um Nietzsches philosophischen Rang, und hier hat sich in letzter Zeit die Lage erfreulich gelichtet. Dass Nietzsche bei all seiner Grobheit und Verspieltheit zu den großen Denkern zu zählen ist, steht nach den systematischen Rekonstruktionen von Arthur Danto "Nietzsche als Philosoph", deutsch 1998), Alexander Nehamas ("Nietzsche - Leben als Literatur", deutsch 1991) und Günter Abel ("Nietzsche - Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr", 2. Aufl. 1998) außer Zweifel. Als zum Beispiel der zu früh verstorbene Philosoph Hartmut Brands die zahllosen Interpretationen zu Descartes' Diktum "Ich denke, also bis ich" durchging, musste er am Ende nüchtern feststellen, dass an die "herausragende Qualität" von Nietzsches Analysen "des gesamten logisch-philosophischen Hintergrunds" jener These niemand sonst herangekommen sei ("Cogito ergo sum - Interpretationen von Kant bis Nietzsche", 1982).
Unübersichtlicher scheint die Antwort auf die Frage nach Nietzsches historischer Rolle auszufallen. Hier geht es nicht mehr um die Wirkung einer Theorie, sondern um die "Karriere eines Kults". Diese Formel ist es, die Steven Aschheim als Untertitel seines Buches "Nietzsche und die Deutschen" gewählt hat. Diejenigen, die einem "Kult" frönen, neigen bekanntlich zu intellektueller Schlamperei, und so wundert es nicht, dass die historische Wirkung, die von Nietzsche ausgegangen ist, Verwirrung mit sich gebracht hat. In diese Verwirrung droht man durch jüngste Veröffentlichungen nun gar noch tiefer hineinzugeraten.
Auf insgesamt zweieinhalbtausend Seiten hat Richard Frank Krummel alle ihm zugänglichen Zeitungsartikel, Aufsätze, Bücher und Zeugnisse aufgeführt und referiert, die in Deutschland der Jahre 1867 bis 1945 Nietzsche zum Gegenstand hatten. Angesichts der Unzahl von Quellen, die ausgewertet worden sind, darf man behaupten, hier liege die definitive Quellensammlung zum Thema "Nietzsche und der deutsche Geist" vor. Eine Sammlung von Bruno Hillebrand aus dem Jahr 1978, "Nietzsche und die deutsche Literatur", brachte weit weniger Texte, diese jedoch in längeren Auszügen. Krummels Edition ist eine eindrucksvolle Leistung, auch wenn Nietzsche selbst in ihr wohl den Modellfall einer "antiquarischen" Geschichtsschreibung gesehen hätte: das Ergebnis einer "Sammelwut, eines rastlosen Zusammenscharrens alles einmal Dagewesenen". Doch wenn sich Krummel mit einem bloßen Stelldichein von Meinungen begnügt sowie zu Gunsten strikt chronologischer Reihung auf eigene Kommentare und Systematik verzichtet, so will er damit nicht die inhaltliche Debatte um Nietzsches Wirkung überflüssig machen. Er will sie auf neuem Niveau ermöglichen.
Hier genau und natürlich, ohne dass Krummel dies beabsichtigte, droht aber Verwirrung. Denn was dieser "deutsche Geist" an Widersprüchen zu Nietzsche auswirft, ist schwer zu ertragen. Stochern wir doch mal kurz in dieser Wirkungsgeschichte, als wäre sie ein Wespenhaufen, an ein paar Stellen herum. Was sticht dann ins Auge?
1893/94: Max Nordau erkennt bei Nietzsche Anzeichen der "Entartung" und kritisiert dessen Ich-Sucht, "idiotische Wortwitzelei" und "moralischen Irrsinn". Lou Andreas-Salome sieht in der "Verschärfung des Niederdrückenden und Trostlosen" den Ansporn zu einer "höchsten Tat", mit dem die "Lebenswerte aus sich heraus erschaffen werden".
1899/1900: Theodor Heuss dankt Nietzsche dafür, ihn von der "Anfälligkeit zu Sentimentalistischen" geheilt zu haben. Julius warnt vor "süßen Schmeicheleien" und der "eunuchischen Romantik" eines "unfruchtbaren polnischen Geistes", der von "romanischen Rassenanschauungen" infiziert sei.
1918/19: Hugo Ball schreibt, Nietzsche habe eine "Sympathieallianz mit dem preußisch-protestantischen Pflicht- und Soldatengeist" eingegangen und wolle "dem Teutonentum seine letzten Gewissensketten" abnehmen. Ernst Bloch zählt Nietzsche zu den "ehrlichen und guten Geistern der Neuzeit" und findet bei ihm ein "Denken des Neuen", das den "Essayraum der Hoffnung" erschließen helfe.
1922: Samuel Meisels erklärt, "nirgends" sei Nietzsches Einfluss größer als bei den "junghebräischen Stürmern und Drängern". Bernhard Groethuysen deutet Nietzsches Satz "Der Deutsche selbst ist nicht, er wird, er entwickelt sich" als Appell zur nationalen Selbstkritik (sein Text ist übrigens neben Blochs "Geist der Utope" das einzige mir bekannte Dokument von Rang, das in Krummels Sammlung nicht vorkommt).
1933: Karl Kraus meint, für den Ausruf "Welche Wohltat ist ein Jude unter Deutschen" drohten Nietzsche heutzutage "ein Jahrtausend Konzentrationslager". Prälat Lauscher von der Zentrumspartei nennt Hitler einen "Schüler Friedrich Nietzsches".
Man fühlt sich regelrecht an der Nase herumgeführt von diesem Zickzack und Hickhack, und mit der Verwirrung, von der man dabei ergriffen wird, kommen Überdruss und Wut auf - nur gegen wen sollen sie sich richten? Gegen den "deutschen Geist", der manchmal passender "deutscher Ungeist" hieße, oder doch gegen Nietzsche, der hinter all dem steckt? Die Frage nach der historischen Rolle Nietzsches droht unter der Hand doch zurückzuschlagen auf die Frage nach dessen philosophischer Bedeutung: Es kommt der Verdacht auf, dass Nietzsche selbst eine Mitschuld trage an jener scheinbar beliebigen, gleichwohl alles andere als belanglosen Ausdeutbarkeit. Richard Frank Krummel schweigt sich dazu aus, und dies ist sein gutes Recht - das Recht des Sammlers.
Eine Antwort erhofft man sich von Steven Aschheim, der in seinem 1996 erschienenen Buch "Nietzsche und die Deutschen" den Bericht zum "Kampf um Nietzsche" bis in die letzten DDR-Debatten hinein liefert. Ihm kommt das Verdienst zu, viel von dem Material, das sich nun auch bei Krummel findet, in eine systematische Ordnung gebracht zu haben: "Zarathustra in den Schützengräben" kommt bei ihm ebenso vor wie "Der nietzscheanische Sozialismus" und "Varianten nietzscheanischer Religion". Doch wieweit Nietzsche selbst die Schuld an jener Verwirrung anzulasten sei - darüber schweigt auch Aschheim. "Ein Historiker, der sich für die Dynamik und die Wirkungen von Ideen in einer gegebenen politischen Kultur interessiert", müsse, so erklärt Aschheim, "die Frage nach gültigen beziehungsweise ungültigen Interpretationen ausklammern." Und: "Die Analyse der Rolle Nietzsches in der nationalsozialistischen Kultur, Ideologie und wohl auch Politik muss frei bleiben von der Erwägung, ob durch sie Nietzsches Denken angemessen oder verzerrt wiedergegeben wurde."
Das hört sich dezent an, ist aber verkehrt. Natürlich wäre es auch eine Erkenntnis von hoher historischer Aussagekraft, wenn sich zeigen ließe, wer denn Nietzsches Thesen verstümmelt und entstellt hat. Insgeheim scheint Aschheim die von ihm favorisierte Neutralität selbst auch nicht durchhalten zu wollen. Gelegentlich schreibt er Nietzsche doch ein "bestimmtes Maß an Komplizentum" zu und führt den exaltierten Reichtum von Lesarten zurück auf eine Unbestimmtheit bei Nietzsche selbst, auf dessen "proteusartiges Werk".
Einladung zur Verwandlung
Armer Proteus! Seit jeher wird ihm gern zur Last gelegt, dass er sich in endlose Verwandlungen und Verkleidungen zu flüchten pflegte, sobald jemand Auskunft von ihm wollte. Doch es wird unterschlagen, dass er, als etwa Menelaos ihn um Hilfe bat, am Ende der "Ränke überdrüssig wurde", und offen Rede und Antwort stand ("Odyssee", Buch 4). So täuschungsfreudig war Proteus also gar nicht.
Armer Nietzsche! Ein Proteus war er wohl, aber nicht im Sinne des Klischees. Natürlich war Nietzsche ein Freund der Verwandlung und der verbalen Ausschweifung, und man mag streiten über den Genuss, den man draus ziehen kann, und über die Gründe, die ihn dazu antrieben. Natürlich hatte Nietzsche eine Neigung zum Schaumschläger, doch er kann nichts dafür, wenn seine so genannten Interpreten sich im Meer der Geschichte gerade an diesem Schaum festhalten wollten (was naturgemäß eine sichere Methode des Ertrinkens ist). Fast wäre man geneigt zu sagen, dass der Schaum zu Nietzsches Texten gehöre wie zu einem guten Bier, wenn nur Nietzsche in einem deutschen Wirtshaus nicht so schrecklich deplatziert wirken würde - und wenn er nicht gesagt hätte: "Wie viel verdrießliche Schwere, Lahmheit, Feuchtigkeit, Schlafrock, wie viel Bier ist in der deutschen Intelligenz."
Es wäre übrigens gar nicht so schwierig gewesen, all das Schaumschlägerische von vornherein als Schwäche verstehen zu lernen. Eines der ersten und immer noch besten Bücher über den Philosophen, Lou Andreas-Salomes 1894 erstmals erschienenes "Friedrich Nietzsche in seinen Werken", zeigte jedem, der es wissen wollte, wie sehr dieses Werk Ausdruck einer Leidensgeschichte war. Wären die Deutschen bereit gewesen, Nietzsche mit den "zarten Fingern und Augen" zu "lesen", die er sich gewünscht hat, dann hätten sie sich davor gehütet, ihn ihrerseits zum Vorkämpfer der Leiden, die sie anderen zufügten, auszurufen. Stattdessen kann nun die Nietzsche-Rezeption in Deutschland als ein lehrreiches Beispiel dafür gelten, wie fahrlässig dieses Land mit seiner Geschichte umgeht. Es gehört eine gewisse Borniertheit dazu, Nietzsche als Proto-Nazi hinzustellen - wozu bekanntlich sowohl wichtige NS-Ideologen wie auch namhafte Gegner des Regimes neigten. Wohltuend sind im Vergleich hierzu, nebenbei bemerkt, die genauen Analysen, die sich zu einem der interessantesten Aspekte von dessen Wirkungsgeschichte, nämlich zum "jüdischen Nietzscheanismus", in einem neuen Sammelband von Werner Stegmaier und Daniel Krochmalnik finden.
Im Main 1884 schrieb Nietzsche an Malwida von Meysenbug, ihm mache "der Gedanke Schrecken, was für Unberechtigte und gänzlich Ungeeignete sich einmal auf meine Autorität berufen werden". Kurioserweise wurde genau dieser Brief von seiner Schwester Elisabeth prompt verfälscht, womit sie dafür sorgte, dass seine schlimmsten Befürchtungen gleich wahr wurden - eine seltsame Art schwesterlichen Gehorsams. Die Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche gehört zu den Hauptangeklagten in der Geschichte der Fehldeutungen und Irreführungen, der Manfred Riedel sein Buch "Nietzsche in Weimar - Ein deutsches Drama" gewidmet hat. Riedel hält sich nicht mit Urteilen zurück wie vor ihm Steven Aschheim, sondern wendet sich mit Verve gegen jede "Nietzsche-Banalisierung".
"Wenn ich auch ein schlechter Deutscher sein sollte - jedenfalls bin ich ein sehr guter Europäer." Dieser Satz Nietzsches aus dem Jahr 1886 (der dem Band "The Good European" als Motto dient) passt auch zu Manfred Riedels stichhaltiger Argumentation. Er zeigt, wie Sätze etwa über das "Kriegerische" verdreht worden sind, und er ruft uns Nietzsches Bemerkungen über das Deutsche in Erinnerung, die einfach zu schön sind, um nicht zitiert zu werden: "Nein, wir lieben die Menschheit nicht, andererseits sind wir aber auch lange nicht ,deutsch' genug, wie heute das Wort ,deutsch' gang und gäbe ist, um dem Nationalismus und dem Rassenhass das Wort zu reden, um an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung Freude haben zu können."
So war also auch Friedrich Nietzsche schon ein "guter Europäer" - wie Alfred Grosser, Helmut Kohl, Manfred Riedel und wir (fast) alle. Wie aber steht es um das, was nicht so normal und mehrheitsfähig wirkt bei Nietzsche, zum Beispiel eben um jenen vertrackten "Übermenschen", von dem man gar nicht weiß, wo er sich gerade herumtreibt? Ist er der Geist in der Flasche Peter Sloterdijks, der kürzlich die Gentechnologie mit Nietzsche zusammenbrachte, um über die "Reform der Gattungseigenschaften" des Menschen nachzudenken? Thomas Assheuer hat dieses Vorhaben als "Zarathustra-Projekt" identifiziert, doch mit dem "Darwnismus", so erklärte Nietzsche vorsorglich, könne ihn nur "gelehrtes Hornvieh" zusammenbringen.
Der gute Europäer
Nein, wenn man den "Übermenschen" finden will, dann muss man anderswo suchen - zum Beispiel im Windschatten des "guten Europäers". "Die Wendung zum Undeutschen" sei, so erklärte Nietzsche, "immer das Kennzeichen der Tüchtigen unseres Volkes gewesen." Der Weg ist also kurz vom Europäischen zum "Überdeutschen", und zu dieser Wendung gehören die Gedanken des "Überganges" und der "Überwindung". Der Übermensch wird damit nicht schon zu einem alten Bekannten, aber immerhin zu einem Leitbild, vor dem man nicht gleich erschrecken muss. Entsprechend notierte Nietzsche einmal: "Saugt eure Lebenslagen und Zufälle aus - und geht dann in andere über! Es genügt nicht, Ein Mensch zu sein! Das hieße euch auffordern, beschränkt zu werden! Aber von Einem zum Anderen!"
Brisant an dieser Notiz aus dem Jahr 1881, die direkt auf die Idee des "Übermenschen" vorausweist, ist der Ort, an dem sie sich findet: Sie ist hingeworfen auf den Buchdeckel der Essays von Ralph Waldo Emerson, des großen amerikanischen Philosophen des "Selbstvertrauens". Inhaltlich lehnt sich Nietzsches Notiz in der Tat eng an Emerson an, der selbst in der "Beschränktheit" des Lebens "die einzige" echte "Sünde" sah. So verliert der "Übermensch" weiter an Unheimlichkeit, denn unversehens wird der demokratische Individualist Ralph Waldo Emerson mit seiner "Überseele" zu dessen Vorläufer, wie er im Übrigen auch derjenige war, der Nietzsche durch eine Stelle in seinen "Essays" auf die Figur des Zarathustra stieß. Nietzsche selbst hat sich zu dieser Verwandtschaft bekannt und bemerkt, manchmal habe er den Eindruck, er und Emerson redeten "mit Einem Munde" - ein außergewöhnliches Bekenntnis bei jemandem, der auf seine Einzigartigkeit sonst nicht den Hauch eines Zweifels kommen ließ. Hält man sich an dieses transatlantische Bündnis, das sich der Aufgabe der Selbstüberwindung verschrieben hat, dann heißt dies: Die Deutschen müssen sich nicht nur einem "guten Europäer" vertraut machen, sondern mit Nietzsche in the american way.
DIETER THOMÄ
Richard Frank Krummel: "Nietzsche und der deutsche Geist". Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum. De Gruyter, Berlin 1998. Band 1: "Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867-1900". 2. verb. u. erg. Aufl. XLIX, 737 S., geb., 360,- DM. Band 2: "Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1901-1918". 2. verb. u. erg. Aufl. XLI, 861 S., geb., 398,- DM. Band 3: "Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1919-1945". LIII, 931 S., geb., 428,- DM.
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Das zwanzigste Jahrhundert und der Übermensch haben eine seltsame Beziehung: Liegt es ihm zu Füßen oder tritt es ihn damit?
Gehört zu Ihrem persönlichen Bekanntenkreis zufällig ein Übermensch? Nein? Sie werden sagen, solche Leute seien nicht sehr weit verbreitet, aber schauen Sie sich in diesem Jahrhundert mal genauer um, dann können Sie sich kaum mehr vor ihnen retten.
Im Jahr 1900 gab der Geschichtslehrer Jakob von Uexkülls an der Ritter- und Domschule zu Reval die Zahl der seinerzeit lebenden Übermenschen noch mit "höchstens neunzig" an. Zwei Jahre später erklärte der Zionist Achad Ha'am, das jüdische Volk verfüge seit jeher über "besonders günstige Wachstumsbedingungen für den Übermenschen", dieser sei mitsamt seiner "sittlichen Stärke und inneren Schönheit" im Judentum gewissermaßen schon "fix und fertig". Wenig später entdeckte Georges Sorel, der Denker der Revolution, "Übermenschen" in Gestalt der "zu allen Arbeiten geschickten Yankees", die die Vereinigten Staaten zu "außerordentlicher Größe" geführt hätten. In Deutschland befand Leo Berg, "plötzlich" sei "alles Übermensch", was sich daran zeige, dass man Schulden mache, Mädchen verführe und sich besaufe, "alles zum Ruhme Zarathustras": "Einen sogar kenne ich, der meint, zu den besonderen Rechten des Übermenschen gehörte auch, in Gesellschaft um sich herumzuspeien und mit den Fingern in schmutziger Gier zu essen."
Im Ersten Weltkrieg sah Romain Rolland dann "Hunderttausende" ganz anders gearteter "Übermenschen" auftreten: deutsche Soldaten, die Belgien und Frankreich "verwüsteten". Auch Hindenburg und Hitler wurden später dieser Gattung zugeschlagen. Im Jahr 1927 fand sich für "Übermenschen" ein weiteres Berufsbild; ein gewisser Otto Günther Kaundinya sah den "Voll-Menschen im Sinne von Nietzsche" im "Sportsmann" verkörpert. Ende der dreißiger Jahre erschienen dem Philosophen Martin Heidegger dann "Übermenschen" als Super-Technokraten, die mit der "maschinenmäßigen Durchrechnung alles Handelns und Planens" zur "Errichtung der unbedingten Herrschaft über die Erde" beschäftigt waren. Zur selben Zeit schwärmte Paul Celan für Nietzsches "Zarathustra", was ihm bei seinen Mitschülern in Czernowitz den Spitznamen "Übermensch" eintrug; dies soll ihn, wie es heißt, "nicht sonderlich gestört" haben, wenn er sich freilich auch über die Verwandtschaft, in die er damit hineinzugeraten schien, entsetzt hätte.
Auf seltsame Weise hat sich der Untertitel von Nietzsches "Also sprach Zarathustra", "Ein Buch für Alle und Keinen", in diesem Jahrhundert bewahrheitet. "Alle" möglichen Leute haben sich auf Nietzsche berufen oder gar versucht, ihm gemäß zu leben. Am Ende aber weiß "Keiner" mehr, wer mit dem "Übermenschen" gemeint sein soll und was es überhaupt mit diesem Denker auf sich hat, dessen Tod pünktlich auf den Beginn eben des Jahrhunderts fiel, das - wie Gottfried Benn erklärte - durch dessen "Exegese" bestimmt war. Thomas Mann: "Er hat Geschichte gemacht."
"Fürchterliche Geschichte", wie Mann ergänzte, doch er sah in der Verbindung zwischen Nietzsche und dem "Nazi-Einbruch" das "plumpste aller Missverständnisse". Früher, noch vor den Fürchterlichkeiten, hatte er gar erklärt: "Nietzsche hat . . . zur Demokratisierung Deutschlands stärker beigetragen als irgend jemand." Thomas Mann musste lange Kraft sammeln für den Brustton der Überzeugung, in dem er sein Urteil sprach. Schon seinerzeit war es üblich, dass "alles von der Theologie bis zum Freidenkertum, vom Kapitalismus bis zum Sozialismus, vom Konservatismus bis zum Bolschewismus, vom Internationalismus bis zum Nationalismus, vom Atheismus bis zur Anthroposophie mit Strömen aus Nietzsche flott und mit Zitaten aus ihm geistreich gemacht zu werden pflegt." (Ernst Troeltsch, 1922) Kann man sich zur Entschiedenheit im Urteil über Nietzsche am Ende dieses Jahrhunderts überhaupt noch aufraffen?
Wer wagt das Urteil?
Die Antwort auf diese Frage muss zweigeteilt sein. Zunächst mal geht es um Nietzsches philosophischen Rang, und hier hat sich in letzter Zeit die Lage erfreulich gelichtet. Dass Nietzsche bei all seiner Grobheit und Verspieltheit zu den großen Denkern zu zählen ist, steht nach den systematischen Rekonstruktionen von Arthur Danto "Nietzsche als Philosoph", deutsch 1998), Alexander Nehamas ("Nietzsche - Leben als Literatur", deutsch 1991) und Günter Abel ("Nietzsche - Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr", 2. Aufl. 1998) außer Zweifel. Als zum Beispiel der zu früh verstorbene Philosoph Hartmut Brands die zahllosen Interpretationen zu Descartes' Diktum "Ich denke, also bis ich" durchging, musste er am Ende nüchtern feststellen, dass an die "herausragende Qualität" von Nietzsches Analysen "des gesamten logisch-philosophischen Hintergrunds" jener These niemand sonst herangekommen sei ("Cogito ergo sum - Interpretationen von Kant bis Nietzsche", 1982).
Unübersichtlicher scheint die Antwort auf die Frage nach Nietzsches historischer Rolle auszufallen. Hier geht es nicht mehr um die Wirkung einer Theorie, sondern um die "Karriere eines Kults". Diese Formel ist es, die Steven Aschheim als Untertitel seines Buches "Nietzsche und die Deutschen" gewählt hat. Diejenigen, die einem "Kult" frönen, neigen bekanntlich zu intellektueller Schlamperei, und so wundert es nicht, dass die historische Wirkung, die von Nietzsche ausgegangen ist, Verwirrung mit sich gebracht hat. In diese Verwirrung droht man durch jüngste Veröffentlichungen nun gar noch tiefer hineinzugeraten.
Auf insgesamt zweieinhalbtausend Seiten hat Richard Frank Krummel alle ihm zugänglichen Zeitungsartikel, Aufsätze, Bücher und Zeugnisse aufgeführt und referiert, die in Deutschland der Jahre 1867 bis 1945 Nietzsche zum Gegenstand hatten. Angesichts der Unzahl von Quellen, die ausgewertet worden sind, darf man behaupten, hier liege die definitive Quellensammlung zum Thema "Nietzsche und der deutsche Geist" vor. Eine Sammlung von Bruno Hillebrand aus dem Jahr 1978, "Nietzsche und die deutsche Literatur", brachte weit weniger Texte, diese jedoch in längeren Auszügen. Krummels Edition ist eine eindrucksvolle Leistung, auch wenn Nietzsche selbst in ihr wohl den Modellfall einer "antiquarischen" Geschichtsschreibung gesehen hätte: das Ergebnis einer "Sammelwut, eines rastlosen Zusammenscharrens alles einmal Dagewesenen". Doch wenn sich Krummel mit einem bloßen Stelldichein von Meinungen begnügt sowie zu Gunsten strikt chronologischer Reihung auf eigene Kommentare und Systematik verzichtet, so will er damit nicht die inhaltliche Debatte um Nietzsches Wirkung überflüssig machen. Er will sie auf neuem Niveau ermöglichen.
Hier genau und natürlich, ohne dass Krummel dies beabsichtigte, droht aber Verwirrung. Denn was dieser "deutsche Geist" an Widersprüchen zu Nietzsche auswirft, ist schwer zu ertragen. Stochern wir doch mal kurz in dieser Wirkungsgeschichte, als wäre sie ein Wespenhaufen, an ein paar Stellen herum. Was sticht dann ins Auge?
1893/94: Max Nordau erkennt bei Nietzsche Anzeichen der "Entartung" und kritisiert dessen Ich-Sucht, "idiotische Wortwitzelei" und "moralischen Irrsinn". Lou Andreas-Salome sieht in der "Verschärfung des Niederdrückenden und Trostlosen" den Ansporn zu einer "höchsten Tat", mit dem die "Lebenswerte aus sich heraus erschaffen werden".
1899/1900: Theodor Heuss dankt Nietzsche dafür, ihn von der "Anfälligkeit zu Sentimentalistischen" geheilt zu haben. Julius warnt vor "süßen Schmeicheleien" und der "eunuchischen Romantik" eines "unfruchtbaren polnischen Geistes", der von "romanischen Rassenanschauungen" infiziert sei.
1918/19: Hugo Ball schreibt, Nietzsche habe eine "Sympathieallianz mit dem preußisch-protestantischen Pflicht- und Soldatengeist" eingegangen und wolle "dem Teutonentum seine letzten Gewissensketten" abnehmen. Ernst Bloch zählt Nietzsche zu den "ehrlichen und guten Geistern der Neuzeit" und findet bei ihm ein "Denken des Neuen", das den "Essayraum der Hoffnung" erschließen helfe.
1922: Samuel Meisels erklärt, "nirgends" sei Nietzsches Einfluss größer als bei den "junghebräischen Stürmern und Drängern". Bernhard Groethuysen deutet Nietzsches Satz "Der Deutsche selbst ist nicht, er wird, er entwickelt sich" als Appell zur nationalen Selbstkritik (sein Text ist übrigens neben Blochs "Geist der Utope" das einzige mir bekannte Dokument von Rang, das in Krummels Sammlung nicht vorkommt).
1933: Karl Kraus meint, für den Ausruf "Welche Wohltat ist ein Jude unter Deutschen" drohten Nietzsche heutzutage "ein Jahrtausend Konzentrationslager". Prälat Lauscher von der Zentrumspartei nennt Hitler einen "Schüler Friedrich Nietzsches".
Man fühlt sich regelrecht an der Nase herumgeführt von diesem Zickzack und Hickhack, und mit der Verwirrung, von der man dabei ergriffen wird, kommen Überdruss und Wut auf - nur gegen wen sollen sie sich richten? Gegen den "deutschen Geist", der manchmal passender "deutscher Ungeist" hieße, oder doch gegen Nietzsche, der hinter all dem steckt? Die Frage nach der historischen Rolle Nietzsches droht unter der Hand doch zurückzuschlagen auf die Frage nach dessen philosophischer Bedeutung: Es kommt der Verdacht auf, dass Nietzsche selbst eine Mitschuld trage an jener scheinbar beliebigen, gleichwohl alles andere als belanglosen Ausdeutbarkeit. Richard Frank Krummel schweigt sich dazu aus, und dies ist sein gutes Recht - das Recht des Sammlers.
Eine Antwort erhofft man sich von Steven Aschheim, der in seinem 1996 erschienenen Buch "Nietzsche und die Deutschen" den Bericht zum "Kampf um Nietzsche" bis in die letzten DDR-Debatten hinein liefert. Ihm kommt das Verdienst zu, viel von dem Material, das sich nun auch bei Krummel findet, in eine systematische Ordnung gebracht zu haben: "Zarathustra in den Schützengräben" kommt bei ihm ebenso vor wie "Der nietzscheanische Sozialismus" und "Varianten nietzscheanischer Religion". Doch wieweit Nietzsche selbst die Schuld an jener Verwirrung anzulasten sei - darüber schweigt auch Aschheim. "Ein Historiker, der sich für die Dynamik und die Wirkungen von Ideen in einer gegebenen politischen Kultur interessiert", müsse, so erklärt Aschheim, "die Frage nach gültigen beziehungsweise ungültigen Interpretationen ausklammern." Und: "Die Analyse der Rolle Nietzsches in der nationalsozialistischen Kultur, Ideologie und wohl auch Politik muss frei bleiben von der Erwägung, ob durch sie Nietzsches Denken angemessen oder verzerrt wiedergegeben wurde."
Das hört sich dezent an, ist aber verkehrt. Natürlich wäre es auch eine Erkenntnis von hoher historischer Aussagekraft, wenn sich zeigen ließe, wer denn Nietzsches Thesen verstümmelt und entstellt hat. Insgeheim scheint Aschheim die von ihm favorisierte Neutralität selbst auch nicht durchhalten zu wollen. Gelegentlich schreibt er Nietzsche doch ein "bestimmtes Maß an Komplizentum" zu und führt den exaltierten Reichtum von Lesarten zurück auf eine Unbestimmtheit bei Nietzsche selbst, auf dessen "proteusartiges Werk".
Einladung zur Verwandlung
Armer Proteus! Seit jeher wird ihm gern zur Last gelegt, dass er sich in endlose Verwandlungen und Verkleidungen zu flüchten pflegte, sobald jemand Auskunft von ihm wollte. Doch es wird unterschlagen, dass er, als etwa Menelaos ihn um Hilfe bat, am Ende der "Ränke überdrüssig wurde", und offen Rede und Antwort stand ("Odyssee", Buch 4). So täuschungsfreudig war Proteus also gar nicht.
Armer Nietzsche! Ein Proteus war er wohl, aber nicht im Sinne des Klischees. Natürlich war Nietzsche ein Freund der Verwandlung und der verbalen Ausschweifung, und man mag streiten über den Genuss, den man draus ziehen kann, und über die Gründe, die ihn dazu antrieben. Natürlich hatte Nietzsche eine Neigung zum Schaumschläger, doch er kann nichts dafür, wenn seine so genannten Interpreten sich im Meer der Geschichte gerade an diesem Schaum festhalten wollten (was naturgemäß eine sichere Methode des Ertrinkens ist). Fast wäre man geneigt zu sagen, dass der Schaum zu Nietzsches Texten gehöre wie zu einem guten Bier, wenn nur Nietzsche in einem deutschen Wirtshaus nicht so schrecklich deplatziert wirken würde - und wenn er nicht gesagt hätte: "Wie viel verdrießliche Schwere, Lahmheit, Feuchtigkeit, Schlafrock, wie viel Bier ist in der deutschen Intelligenz."
Es wäre übrigens gar nicht so schwierig gewesen, all das Schaumschlägerische von vornherein als Schwäche verstehen zu lernen. Eines der ersten und immer noch besten Bücher über den Philosophen, Lou Andreas-Salomes 1894 erstmals erschienenes "Friedrich Nietzsche in seinen Werken", zeigte jedem, der es wissen wollte, wie sehr dieses Werk Ausdruck einer Leidensgeschichte war. Wären die Deutschen bereit gewesen, Nietzsche mit den "zarten Fingern und Augen" zu "lesen", die er sich gewünscht hat, dann hätten sie sich davor gehütet, ihn ihrerseits zum Vorkämpfer der Leiden, die sie anderen zufügten, auszurufen. Stattdessen kann nun die Nietzsche-Rezeption in Deutschland als ein lehrreiches Beispiel dafür gelten, wie fahrlässig dieses Land mit seiner Geschichte umgeht. Es gehört eine gewisse Borniertheit dazu, Nietzsche als Proto-Nazi hinzustellen - wozu bekanntlich sowohl wichtige NS-Ideologen wie auch namhafte Gegner des Regimes neigten. Wohltuend sind im Vergleich hierzu, nebenbei bemerkt, die genauen Analysen, die sich zu einem der interessantesten Aspekte von dessen Wirkungsgeschichte, nämlich zum "jüdischen Nietzscheanismus", in einem neuen Sammelband von Werner Stegmaier und Daniel Krochmalnik finden.
Im Main 1884 schrieb Nietzsche an Malwida von Meysenbug, ihm mache "der Gedanke Schrecken, was für Unberechtigte und gänzlich Ungeeignete sich einmal auf meine Autorität berufen werden". Kurioserweise wurde genau dieser Brief von seiner Schwester Elisabeth prompt verfälscht, womit sie dafür sorgte, dass seine schlimmsten Befürchtungen gleich wahr wurden - eine seltsame Art schwesterlichen Gehorsams. Die Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche gehört zu den Hauptangeklagten in der Geschichte der Fehldeutungen und Irreführungen, der Manfred Riedel sein Buch "Nietzsche in Weimar - Ein deutsches Drama" gewidmet hat. Riedel hält sich nicht mit Urteilen zurück wie vor ihm Steven Aschheim, sondern wendet sich mit Verve gegen jede "Nietzsche-Banalisierung".
"Wenn ich auch ein schlechter Deutscher sein sollte - jedenfalls bin ich ein sehr guter Europäer." Dieser Satz Nietzsches aus dem Jahr 1886 (der dem Band "The Good European" als Motto dient) passt auch zu Manfred Riedels stichhaltiger Argumentation. Er zeigt, wie Sätze etwa über das "Kriegerische" verdreht worden sind, und er ruft uns Nietzsches Bemerkungen über das Deutsche in Erinnerung, die einfach zu schön sind, um nicht zitiert zu werden: "Nein, wir lieben die Menschheit nicht, andererseits sind wir aber auch lange nicht ,deutsch' genug, wie heute das Wort ,deutsch' gang und gäbe ist, um dem Nationalismus und dem Rassenhass das Wort zu reden, um an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung Freude haben zu können."
So war also auch Friedrich Nietzsche schon ein "guter Europäer" - wie Alfred Grosser, Helmut Kohl, Manfred Riedel und wir (fast) alle. Wie aber steht es um das, was nicht so normal und mehrheitsfähig wirkt bei Nietzsche, zum Beispiel eben um jenen vertrackten "Übermenschen", von dem man gar nicht weiß, wo er sich gerade herumtreibt? Ist er der Geist in der Flasche Peter Sloterdijks, der kürzlich die Gentechnologie mit Nietzsche zusammenbrachte, um über die "Reform der Gattungseigenschaften" des Menschen nachzudenken? Thomas Assheuer hat dieses Vorhaben als "Zarathustra-Projekt" identifiziert, doch mit dem "Darwnismus", so erklärte Nietzsche vorsorglich, könne ihn nur "gelehrtes Hornvieh" zusammenbringen.
Der gute Europäer
Nein, wenn man den "Übermenschen" finden will, dann muss man anderswo suchen - zum Beispiel im Windschatten des "guten Europäers". "Die Wendung zum Undeutschen" sei, so erklärte Nietzsche, "immer das Kennzeichen der Tüchtigen unseres Volkes gewesen." Der Weg ist also kurz vom Europäischen zum "Überdeutschen", und zu dieser Wendung gehören die Gedanken des "Überganges" und der "Überwindung". Der Übermensch wird damit nicht schon zu einem alten Bekannten, aber immerhin zu einem Leitbild, vor dem man nicht gleich erschrecken muss. Entsprechend notierte Nietzsche einmal: "Saugt eure Lebenslagen und Zufälle aus - und geht dann in andere über! Es genügt nicht, Ein Mensch zu sein! Das hieße euch auffordern, beschränkt zu werden! Aber von Einem zum Anderen!"
Brisant an dieser Notiz aus dem Jahr 1881, die direkt auf die Idee des "Übermenschen" vorausweist, ist der Ort, an dem sie sich findet: Sie ist hingeworfen auf den Buchdeckel der Essays von Ralph Waldo Emerson, des großen amerikanischen Philosophen des "Selbstvertrauens". Inhaltlich lehnt sich Nietzsches Notiz in der Tat eng an Emerson an, der selbst in der "Beschränktheit" des Lebens "die einzige" echte "Sünde" sah. So verliert der "Übermensch" weiter an Unheimlichkeit, denn unversehens wird der demokratische Individualist Ralph Waldo Emerson mit seiner "Überseele" zu dessen Vorläufer, wie er im Übrigen auch derjenige war, der Nietzsche durch eine Stelle in seinen "Essays" auf die Figur des Zarathustra stieß. Nietzsche selbst hat sich zu dieser Verwandtschaft bekannt und bemerkt, manchmal habe er den Eindruck, er und Emerson redeten "mit Einem Munde" - ein außergewöhnliches Bekenntnis bei jemandem, der auf seine Einzigartigkeit sonst nicht den Hauch eines Zweifels kommen ließ. Hält man sich an dieses transatlantische Bündnis, das sich der Aufgabe der Selbstüberwindung verschrieben hat, dann heißt dies: Die Deutschen müssen sich nicht nur einem "guten Europäer" vertraut machen, sondern mit Nietzsche in the american way.
DIETER THOMÄ
Richard Frank Krummel: "Nietzsche und der deutsche Geist". Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum. De Gruyter, Berlin 1998. Band 1: "Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867-1900". 2. verb. u. erg. Aufl. XLIX, 737 S., geb., 360,- DM. Band 2: "Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1901-1918". 2. verb. u. erg. Aufl. XLI, 861 S., geb., 398,- DM. Band 3: "Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1919-1945". LIII, 931 S., geb., 428,- DM.
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