Rolf Henrich gilt als einer der Wegbereiter der Friedlichen Revolution in der DDR. Sein Buch "Der vormundschaftliche Staat", das im Frühjahr 1989 in Hamburg und Anfang 1990 in Leipzig erschien, öffnete vielen Menschen in Ostdeutschland die Augen. Im September 1989 gehörte Henrich zu den Mitbegründern der Bürgerbewegung Neues Forum.
In seiner pointiert erzählten Autobiografie beschreibt er seinen eigenen Wandlungsprozess vom Parteisekretär eines Rechtsanwaltskollegiums zum energischen Kritiker des sozialistischen Systems und gibt Einblicke in die dramatischen Umbruchprozesse auf dem Weg zur deutschen Einheit. Sein Buch schlägt eine Brücke in die Gegenwart. Es zeigt, wie Verantwortung gelernt werden kann.
In seiner pointiert erzählten Autobiografie beschreibt er seinen eigenen Wandlungsprozess vom Parteisekretär eines Rechtsanwaltskollegiums zum energischen Kritiker des sozialistischen Systems und gibt Einblicke in die dramatischen Umbruchprozesse auf dem Weg zur deutschen Einheit. Sein Buch schlägt eine Brücke in die Gegenwart. Es zeigt, wie Verantwortung gelernt werden kann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2019Erinnerung eines Allwissenden
Rolf Henrich reflektiert über sein Leben und urteilt über den Rest der DDR-Welt
Rolf Henrich ist Dissident - seine Bindung an die SED war stets elastisch, bis sie schließlich riss. Seine Biographie führt er als "Geschichte einer politischen Desillusionierung" ein, was ebenso interessant wie außergewöhnlich ist. Während des Prager Frühlings hoffte der junge Genosse auf ein Aufbrechen der stalinistischen Strukturen in der DDR und sah sich prompt dem Vorwurf des "Revisionismus" ausgesetzt. Die Partei ließ Gnade walten, der Jurist konnte sich ein Standing im Kollegium der Rechtsanwälte der DDR erarbeiten. Im Frühjahr 1989 wurde er aus der Partei ausgeschlossen und mit einem Berufsverbot belegt - seine in der Bundesrepublik erschienene Generalabrechnung mit dem "Vormundschaftlichen Staat", so der Titel damals, hatte die greise Parteispitze provoziert, die bis zuletzt glaubte, ihre führende Rolle im maroden Realsozialismus weiterspielen zu können.
Henrich war sich zu diesem Zeitpunkt längst im Klaren darüber, wo er steht und welchen Weg er geht: Der vormalige Parteisekretär bewegte sich als Persona non grata im Milieu der Andersdenkenden und beteiligte sich an der Gründung des Neuen Forums. Im Gegensatz zu anderen Protagonisten der Friedlichen Revolution hat sich Rolf Henrich im wiedervereinigten Deutschland ins Private zurückgezogen. Ein Versuch, verlegerisch zu reüssieren, war gescheitert. Nach seiner Rehabilitierung beschränkte er sich auf sein Anwaltsgeschäft. Nachdem er zunächst "ausgemusterte Tschekisten" beraten und vertreten hatte, entzog sich Henrich der Öffentlichkeit - und den Diskussionen über Verstrickungen und Mitverantwortung. Streng urteilt der heute Fünfundsiebzigjährige über den Umgang mit den Stasi-Akten und "das öffentliche Geschrei" der Unterdrückten von einst, "die von der Schuld anderer profitieren wollten, die Rächer und Vergelter".
Dass Henrich nicht zum Kreis jener DDR-Zeitzeugen gehört, die alljährlich zu einschlägigen Jahrestagen den erinnerungskulturellen Diskurs prägen, liegt auch, aber nicht nur an einer vergifteten Unterschrift, die er selbst einst leistete: Die Staatssicherheit hatte den jungen Genossen 1966 "im passenden Moment", wie er schreibt, angeworben und in den Einsatz ins "Operationsgebiet", also in die Bundesrepublik, geschickt. Die konspirativen Machenschaften des IM Streit sind bekannt - sie böten indes trotz seiner späteren Wandlung zum Kritiker der Parteidiktatur mutmaßlich immer wieder Anlass für die Forderung nach einer persönlichen Rechtfertigung.
In den Erinnerungen reflektiert er seinen einstigen "Fanatismus und seine Borniertheit" - beides sei ihm heute fremd: "Aber es ist passiert. Scheinbar geht das meiste Unglück wirklich von Menschen aus, wie ich einer gewesen bin, von überspannten Jünglingen, die Lehren eines wie immer gearteten Befreiungskampfes anhängen."
Rolf Henrich ist intelligent, er durchschaute den Dogmatismus, die Mechanismen der Repression und die politische Auslegung des Rechts: "Bewegte man sich brav in der Spur, brauchte man einen Zusammenprall mit marxistisch-leninistischen Gesinnungswächtern nicht zu fürchten. Andernfalls drohte einem schnell die Entlarvung als ,Revisionist'". So hat er gelebt - das richtige Leben im falschen. Henrich war überzeugt von sich und seiner Mission und durchlief Phasen naiver Begeisterung bis zu lähmender Langeweile in der geistigen Enge in der DDR. Er zeichnet das im eigenen Heldenmief erstickte Parteimilieu nach, die kafkaeske Welt der DDR-Justiz mit der allgegenwärtigen Staatssicherheit. Und seine Flucht in die private Nische, in ein ländliches Refugium "auf wackeligen Stühlen vor unserer Backofenruine", wo ihn die Beschäftigung mit Rudolf Bahro und Robert Havemann nicht losließ.
Mit den befreundeten Psychotherapeuten Maaz und dem Psychiater Drees versuchte er tiefere Dimensionen des Lebens zu ergründen. Heute misst er den fehlenden individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und dem Ennui der unter Ereignislosigkeit leidenden Gesellschaft hinter der Mauer eine katalytische Wirkung bei: Die Montags-Demonstrationen in Leipzig erklärt er als "eine Form aufmüpfiger Geselligkeit".
Nach dem Bruch mit der SED und seiner Annäherung an das Milieu der Bürgerrechtler empfand er auch dort rasch Fremdheit, sein strukturiertes Denken wollte nicht zu den mutigen, aber politisch unerfahrenen, idealistischen und in viele Richtungen schweifenden Oppositionellen passen. Gerade über jene aus den Pfarrhäusern verliert er kein gutes Wort, während er aus seiner Faszination für Bärbel Bohley kein Hehl macht. Zugleich geht er hart mit ihr ins Gericht, hält ihr - postum, sie kann sich nicht mehr wehren - planloses Agieren und die aus seiner Sicht moralische Überheblichkeit ihrer Kreise vor. Schwerer noch wiegt in seiner Rückschau die Scheu vieler Oppositioneller, sich zur deutschen Einheit zu bekennen. Ihre Unfähigkeit, das im Herbst 1989 offene Machtvakuum zu füllen, regt Henrich auf: "Die Krone lag auf der Straße", schreibt er, aber keiner hätte Verantwortung übernommen: "Als sei es ein Privileg der Partei, sich über Machtfragen den Kopf zu zerbrechen." Seinen eigenen Beitrag zum Neuen Forum lobt er indes sehr. Hochinteressant lesen sich seine Schilderungen von Intellektuellen und Linken aus dem Westen, deren verklärende Sicht auf Sozialismus und Zweistaatlichkeit ihn sehr irritierte. Andere westdeutsche "Schwestern und Brüder" beschreibt er als raubeinige Kolonisatoren und moniert zugleich, dass über "Ostpiranhas", also raffgierige Wendegewinnler aus der Nomenklatura, heute nicht gesprochen werde. Im Übrigen sei ihm immer klar gewesen, dass Anwaltskollegen wie der mit Aplomb enttarnte Wolfgang Schnur seine Vertrauten hintergangen hätten - oft lässt sich der Autor von seiner Hybris verführen.
Sein Vermächtnis leistet einen Beitrag zur aktuellen Debatte um die Deutungshoheit über die Friedliche Revolution. Denn sein Lebensweg spiegelt die leid- und lustvolle Erfahrung der Selbstbefreiung von Vormundschaft, das Scheitern politischer Träume und das Schwinden der Autorität eines klugen Denkers.
Dass der Band dennoch schwerlich zu den autobiographischen Klassikern der Zeitgeschichte avancieren wird, liegt an Rolf Henrichs ungezügelter Eitelkeit. Überheblich und selbstherrlich schwingt er sich nicht nur zum allwissenden Autor auf, sondern zu einem, der alles besser weiß. Zudem exkulpiert sich der einstige Parteisekretär überflüssigerweise immer wieder selbst - obwohl er weiß, dass stets zwei dazugehören: "einer, der bevormundet, und einer, der sich bevormunden lässt".
JACQUELINE BOYSEN
Rolf Henrich: Ausbruch aus der Vormundschaft. Erinnerungen.
Ch. Links Verlag, Berlin 2019. 384 S., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rolf Henrich reflektiert über sein Leben und urteilt über den Rest der DDR-Welt
Rolf Henrich ist Dissident - seine Bindung an die SED war stets elastisch, bis sie schließlich riss. Seine Biographie führt er als "Geschichte einer politischen Desillusionierung" ein, was ebenso interessant wie außergewöhnlich ist. Während des Prager Frühlings hoffte der junge Genosse auf ein Aufbrechen der stalinistischen Strukturen in der DDR und sah sich prompt dem Vorwurf des "Revisionismus" ausgesetzt. Die Partei ließ Gnade walten, der Jurist konnte sich ein Standing im Kollegium der Rechtsanwälte der DDR erarbeiten. Im Frühjahr 1989 wurde er aus der Partei ausgeschlossen und mit einem Berufsverbot belegt - seine in der Bundesrepublik erschienene Generalabrechnung mit dem "Vormundschaftlichen Staat", so der Titel damals, hatte die greise Parteispitze provoziert, die bis zuletzt glaubte, ihre führende Rolle im maroden Realsozialismus weiterspielen zu können.
Henrich war sich zu diesem Zeitpunkt längst im Klaren darüber, wo er steht und welchen Weg er geht: Der vormalige Parteisekretär bewegte sich als Persona non grata im Milieu der Andersdenkenden und beteiligte sich an der Gründung des Neuen Forums. Im Gegensatz zu anderen Protagonisten der Friedlichen Revolution hat sich Rolf Henrich im wiedervereinigten Deutschland ins Private zurückgezogen. Ein Versuch, verlegerisch zu reüssieren, war gescheitert. Nach seiner Rehabilitierung beschränkte er sich auf sein Anwaltsgeschäft. Nachdem er zunächst "ausgemusterte Tschekisten" beraten und vertreten hatte, entzog sich Henrich der Öffentlichkeit - und den Diskussionen über Verstrickungen und Mitverantwortung. Streng urteilt der heute Fünfundsiebzigjährige über den Umgang mit den Stasi-Akten und "das öffentliche Geschrei" der Unterdrückten von einst, "die von der Schuld anderer profitieren wollten, die Rächer und Vergelter".
Dass Henrich nicht zum Kreis jener DDR-Zeitzeugen gehört, die alljährlich zu einschlägigen Jahrestagen den erinnerungskulturellen Diskurs prägen, liegt auch, aber nicht nur an einer vergifteten Unterschrift, die er selbst einst leistete: Die Staatssicherheit hatte den jungen Genossen 1966 "im passenden Moment", wie er schreibt, angeworben und in den Einsatz ins "Operationsgebiet", also in die Bundesrepublik, geschickt. Die konspirativen Machenschaften des IM Streit sind bekannt - sie böten indes trotz seiner späteren Wandlung zum Kritiker der Parteidiktatur mutmaßlich immer wieder Anlass für die Forderung nach einer persönlichen Rechtfertigung.
In den Erinnerungen reflektiert er seinen einstigen "Fanatismus und seine Borniertheit" - beides sei ihm heute fremd: "Aber es ist passiert. Scheinbar geht das meiste Unglück wirklich von Menschen aus, wie ich einer gewesen bin, von überspannten Jünglingen, die Lehren eines wie immer gearteten Befreiungskampfes anhängen."
Rolf Henrich ist intelligent, er durchschaute den Dogmatismus, die Mechanismen der Repression und die politische Auslegung des Rechts: "Bewegte man sich brav in der Spur, brauchte man einen Zusammenprall mit marxistisch-leninistischen Gesinnungswächtern nicht zu fürchten. Andernfalls drohte einem schnell die Entlarvung als ,Revisionist'". So hat er gelebt - das richtige Leben im falschen. Henrich war überzeugt von sich und seiner Mission und durchlief Phasen naiver Begeisterung bis zu lähmender Langeweile in der geistigen Enge in der DDR. Er zeichnet das im eigenen Heldenmief erstickte Parteimilieu nach, die kafkaeske Welt der DDR-Justiz mit der allgegenwärtigen Staatssicherheit. Und seine Flucht in die private Nische, in ein ländliches Refugium "auf wackeligen Stühlen vor unserer Backofenruine", wo ihn die Beschäftigung mit Rudolf Bahro und Robert Havemann nicht losließ.
Mit den befreundeten Psychotherapeuten Maaz und dem Psychiater Drees versuchte er tiefere Dimensionen des Lebens zu ergründen. Heute misst er den fehlenden individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und dem Ennui der unter Ereignislosigkeit leidenden Gesellschaft hinter der Mauer eine katalytische Wirkung bei: Die Montags-Demonstrationen in Leipzig erklärt er als "eine Form aufmüpfiger Geselligkeit".
Nach dem Bruch mit der SED und seiner Annäherung an das Milieu der Bürgerrechtler empfand er auch dort rasch Fremdheit, sein strukturiertes Denken wollte nicht zu den mutigen, aber politisch unerfahrenen, idealistischen und in viele Richtungen schweifenden Oppositionellen passen. Gerade über jene aus den Pfarrhäusern verliert er kein gutes Wort, während er aus seiner Faszination für Bärbel Bohley kein Hehl macht. Zugleich geht er hart mit ihr ins Gericht, hält ihr - postum, sie kann sich nicht mehr wehren - planloses Agieren und die aus seiner Sicht moralische Überheblichkeit ihrer Kreise vor. Schwerer noch wiegt in seiner Rückschau die Scheu vieler Oppositioneller, sich zur deutschen Einheit zu bekennen. Ihre Unfähigkeit, das im Herbst 1989 offene Machtvakuum zu füllen, regt Henrich auf: "Die Krone lag auf der Straße", schreibt er, aber keiner hätte Verantwortung übernommen: "Als sei es ein Privileg der Partei, sich über Machtfragen den Kopf zu zerbrechen." Seinen eigenen Beitrag zum Neuen Forum lobt er indes sehr. Hochinteressant lesen sich seine Schilderungen von Intellektuellen und Linken aus dem Westen, deren verklärende Sicht auf Sozialismus und Zweistaatlichkeit ihn sehr irritierte. Andere westdeutsche "Schwestern und Brüder" beschreibt er als raubeinige Kolonisatoren und moniert zugleich, dass über "Ostpiranhas", also raffgierige Wendegewinnler aus der Nomenklatura, heute nicht gesprochen werde. Im Übrigen sei ihm immer klar gewesen, dass Anwaltskollegen wie der mit Aplomb enttarnte Wolfgang Schnur seine Vertrauten hintergangen hätten - oft lässt sich der Autor von seiner Hybris verführen.
Sein Vermächtnis leistet einen Beitrag zur aktuellen Debatte um die Deutungshoheit über die Friedliche Revolution. Denn sein Lebensweg spiegelt die leid- und lustvolle Erfahrung der Selbstbefreiung von Vormundschaft, das Scheitern politischer Träume und das Schwinden der Autorität eines klugen Denkers.
Dass der Band dennoch schwerlich zu den autobiographischen Klassikern der Zeitgeschichte avancieren wird, liegt an Rolf Henrichs ungezügelter Eitelkeit. Überheblich und selbstherrlich schwingt er sich nicht nur zum allwissenden Autor auf, sondern zu einem, der alles besser weiß. Zudem exkulpiert sich der einstige Parteisekretär überflüssigerweise immer wieder selbst - obwohl er weiß, dass stets zwei dazugehören: "einer, der bevormundet, und einer, der sich bevormunden lässt".
JACQUELINE BOYSEN
Rolf Henrich: Ausbruch aus der Vormundschaft. Erinnerungen.
Ch. Links Verlag, Berlin 2019. 384 S., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Henrichs nüchterne, aber auch nicht uneitle Beschreibung ist sowohl für seine Zeitgenossen als auch für später Geborene oder Außenstehende ungemein lesenswert. Henry Bernhard, Deutschlandfunk Keine Helden-Litanei, keine Pathos-Fibel, sondern ein kluger, anregender, nämlich verstörend genauer Selbstbericht. Christian Eger, Mitteldeutsche Zeitung Henrich hat mit seinen Erinnerungen die Situation in der DDR und vor allem die Wendezeit anschaulich beschrieben und kommentiert. Helmut Wolle, Das Goetheanum