'Herzklappen, Knochen, Sehnen das Geschäft mit menschlichem Gewebe floriert. Während für Spender oftaltruistische Motive ausschlaggebend sind, macht die Gewebeindustrie große Gewinne: Der Körper eines gesunden Verstorbenen kann einen Verkaufserlös von 230.000 Dollar und mehr einbringen. Kein Wunder, dass sich Firmen auch auf zweifelhafte oder sogar illegale Weise den kostbaren Rohstoff besorgen.
'Martina Keller enthüllt den Kommerz mit menschlichem Gewebe. Sie wirft einen kritischen Blick auf die Profiteure des Handels, untersucht die gängige Praxis der Gewebemedizin und meldet ethische Bedenken an. Die Autorin plädiert für einen würdevollen Umgang mit der Leiche und klärt Spender, Angehörige und Patienten über ihre Rechte auf.
'Martina Keller enthüllt den Kommerz mit menschlichem Gewebe. Sie wirft einen kritischen Blick auf die Profiteure des Handels, untersucht die gängige Praxis der Gewebemedizin und meldet ethische Bedenken an. Die Autorin plädiert für einen würdevollen Umgang mit der Leiche und klärt Spender, Angehörige und Patienten über ihre Rechte auf.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2009Schienbeine ausverkauft!
Wer einen Organspendeausweis bei sich trägt, denkt vielleicht daran, nach dem eigenen Tod einem anderen Menschen durch sein Herz oder seine Lunge das Leben zu retten oder ihm durch eine Hornhaut das Augenlicht zu erhalten. An das, was Martina Keller beschreibt, denkt er mit ziemlicher Sicherheit nicht. Seien Sie gewarnt - es wird unappetitlich (Martina Keller: "Ausgeschlachtet". Die menschliche Leiche als Rohstoff. Econ Verlag, Berlin 2008. 250 S., br., 18,- [Euro]).
Keller beginnt gleich mit einer frankensteinwürdigen Szene: Auf dem Sektionstisch einer Universitätsklinik wird die Leiche einer Neunzigjährigen entbeint. Das heißt wirklich so und ist auch so gemeint. Oberarmknochen, Ober- und Unterschenkel und zwei Fußknochen werden herausgenommen, ein Stück Becken wird abgesägt. Mit Zellstoff und Rundhölzern aus dem Baumarkt wird die Leiche dann wieder in Form gebracht und zugenäht, damit der Bestatter sie ankleiden kann. Der Vorgang ist völlig legal, Angehörige der Verstorbenen hatten der Gewebespende zuvor zugestimmt, das gemeinnützige Deutsche Institut für Zell- und Gewebeersatz stellt aus den Knochen Transplantate her.
Auf den Organspendeausweisen, die seit April 2008 gedruckt werden, ist stets von "Organ- und Gewebespende" die Rede, im Kleingedruckten allerdings nur, wie Keller festgestellt hat. Fernsehspots und Aufklärungskampagnen handeln nur von Organspenden. Dabei ist die Gewebespende längst der größere und auch lukrativere Markt. Den 4500 Menschen, die in Deutschland ein gespendetes Organ eingepflanzt bekommen, stehen mehrere Zehntausend gegenüber, denen Gewebe verpflanzt werden. Dabei handelt es sich selten um komplette Knochen, eher um Herzklappen, Bänder und vor allem um "prozessiertes", also weiterverarbeitetes Material, das sich vielfältig verwenden lässt: zum Aufbau von Nasen- oder Kieferknochen, zum Unterfüttern von Falten oder zum Aufpumpen von Lippen. In den Zusammenhang gehört auch die Penisvergrößerung mir azellulärer, von den Zellen des Spenders befreiter Leichenhaut.
Die Akzeptanz der Gewebespende ist, wen wundert's, deutlich geringer als die der Organspende. Und genau deshalb wird die Gewebespende hinter der Organspende versteckt, werden die Menschen nicht informiert, so Keller. Dem will sie mit ihrem Buch abhelfen. Denn das Mindeste, was ein Mensch verlangen kann, der für sich selbst oder stellvertretend für einen verstorbenen Angehörigen die Entscheidung für oder gegen eine "Organ- und Gewebespende" fällen soll, ist doch wohl, dass er ehrlich informiert wird. Dies mag angesichts des medizinisch Möglichen eine Zumutung sein, doch, wie Keller feststellt: eine Zumutung, der sich eine Gesellschaft, die Leichenteile verwenden will, wohl oder übel stellen muss.
Die Unwissenheit der Organspender hat ihr Pendant in der Unwissenheit der Empfänger. Oft genug erfahren sie gar nicht, dass sie mit Gewebe eines Toten behandelt wurden. Und wenn sie es vorher erfahren, sind sie meist nicht gut genug informiert, um zu entscheiden, ob dies wirklich die beste oder einzig mögliche Behandlungsweise ist, erklärt die Autorin.
Die bis zu mehrere Monate lagerfähigen menschlichen Ersatzteile haben ihren Preis. Keller entnimmt ihn den Preislisten amerikanischer Firmen: 5128 Dollar für einen Schienbeinknochen, 3193 Dollar für ein Stück Meniskus, 213 Dollar pro Kubikzentimeter Knochenmaterial, gebrauchsfertig in der Spritze. Die Preise der gemeinnützig arbeitenden Firmen sind nicht unbedingt niedriger, nur heißen sie "Aufwandsentschädigung". In der Praxis, so zitiert Keller eine Studie der Weltgesundheitsorganisation, verschwimmt der Unterschied zwischen gemeinnützigen und kommerziellen Firmen. Man konkurriert um Personal und Kunden.
Der chronische Mangel an Organen und Geweben verleitet nach wie vor zu zweifelhaften Praktiken: Da werden Leichen ohne die Zustimmung der Angehörigen ausgeschlachtet, Gewebe verwendet, die den Qualitäts- oder Hygienestandards nicht genügen, Transplantate zweifelhafter Herkunft aus osteuropäischen Ländern importiert, und mit der Dokumentation wird geschlampt.
Vor dem Hintergrund der zahlreichen Probleme, die Keller in ihrem wichtigen und materialreichen Buch aufgreift, ist es in der Tat fragwürdig, wenn Menschen mit großangelegten Kampagnen von Regierungsseite vom Spenden überzeugt werden sollen. Auch von der "Widerspruchslösung", deren Einführung für Deutschland derzeit diskutiert wird, und der zufolge jeder ausgeschlachtet werden darf, der das nicht vorher ausdrücklich abgelehnt hat, hält Keller nichts. Niemand darf zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod gezwungen werden, so die Autorin. Der eigene Körper ist nicht "sozialpflichtig". Schließlich sterben die Menschen noch immer an ihren Krankheiten, nicht an fehlenden Spenderorganen.
MANUELA LENZEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer einen Organspendeausweis bei sich trägt, denkt vielleicht daran, nach dem eigenen Tod einem anderen Menschen durch sein Herz oder seine Lunge das Leben zu retten oder ihm durch eine Hornhaut das Augenlicht zu erhalten. An das, was Martina Keller beschreibt, denkt er mit ziemlicher Sicherheit nicht. Seien Sie gewarnt - es wird unappetitlich (Martina Keller: "Ausgeschlachtet". Die menschliche Leiche als Rohstoff. Econ Verlag, Berlin 2008. 250 S., br., 18,- [Euro]).
Keller beginnt gleich mit einer frankensteinwürdigen Szene: Auf dem Sektionstisch einer Universitätsklinik wird die Leiche einer Neunzigjährigen entbeint. Das heißt wirklich so und ist auch so gemeint. Oberarmknochen, Ober- und Unterschenkel und zwei Fußknochen werden herausgenommen, ein Stück Becken wird abgesägt. Mit Zellstoff und Rundhölzern aus dem Baumarkt wird die Leiche dann wieder in Form gebracht und zugenäht, damit der Bestatter sie ankleiden kann. Der Vorgang ist völlig legal, Angehörige der Verstorbenen hatten der Gewebespende zuvor zugestimmt, das gemeinnützige Deutsche Institut für Zell- und Gewebeersatz stellt aus den Knochen Transplantate her.
Auf den Organspendeausweisen, die seit April 2008 gedruckt werden, ist stets von "Organ- und Gewebespende" die Rede, im Kleingedruckten allerdings nur, wie Keller festgestellt hat. Fernsehspots und Aufklärungskampagnen handeln nur von Organspenden. Dabei ist die Gewebespende längst der größere und auch lukrativere Markt. Den 4500 Menschen, die in Deutschland ein gespendetes Organ eingepflanzt bekommen, stehen mehrere Zehntausend gegenüber, denen Gewebe verpflanzt werden. Dabei handelt es sich selten um komplette Knochen, eher um Herzklappen, Bänder und vor allem um "prozessiertes", also weiterverarbeitetes Material, das sich vielfältig verwenden lässt: zum Aufbau von Nasen- oder Kieferknochen, zum Unterfüttern von Falten oder zum Aufpumpen von Lippen. In den Zusammenhang gehört auch die Penisvergrößerung mir azellulärer, von den Zellen des Spenders befreiter Leichenhaut.
Die Akzeptanz der Gewebespende ist, wen wundert's, deutlich geringer als die der Organspende. Und genau deshalb wird die Gewebespende hinter der Organspende versteckt, werden die Menschen nicht informiert, so Keller. Dem will sie mit ihrem Buch abhelfen. Denn das Mindeste, was ein Mensch verlangen kann, der für sich selbst oder stellvertretend für einen verstorbenen Angehörigen die Entscheidung für oder gegen eine "Organ- und Gewebespende" fällen soll, ist doch wohl, dass er ehrlich informiert wird. Dies mag angesichts des medizinisch Möglichen eine Zumutung sein, doch, wie Keller feststellt: eine Zumutung, der sich eine Gesellschaft, die Leichenteile verwenden will, wohl oder übel stellen muss.
Die Unwissenheit der Organspender hat ihr Pendant in der Unwissenheit der Empfänger. Oft genug erfahren sie gar nicht, dass sie mit Gewebe eines Toten behandelt wurden. Und wenn sie es vorher erfahren, sind sie meist nicht gut genug informiert, um zu entscheiden, ob dies wirklich die beste oder einzig mögliche Behandlungsweise ist, erklärt die Autorin.
Die bis zu mehrere Monate lagerfähigen menschlichen Ersatzteile haben ihren Preis. Keller entnimmt ihn den Preislisten amerikanischer Firmen: 5128 Dollar für einen Schienbeinknochen, 3193 Dollar für ein Stück Meniskus, 213 Dollar pro Kubikzentimeter Knochenmaterial, gebrauchsfertig in der Spritze. Die Preise der gemeinnützig arbeitenden Firmen sind nicht unbedingt niedriger, nur heißen sie "Aufwandsentschädigung". In der Praxis, so zitiert Keller eine Studie der Weltgesundheitsorganisation, verschwimmt der Unterschied zwischen gemeinnützigen und kommerziellen Firmen. Man konkurriert um Personal und Kunden.
Der chronische Mangel an Organen und Geweben verleitet nach wie vor zu zweifelhaften Praktiken: Da werden Leichen ohne die Zustimmung der Angehörigen ausgeschlachtet, Gewebe verwendet, die den Qualitäts- oder Hygienestandards nicht genügen, Transplantate zweifelhafter Herkunft aus osteuropäischen Ländern importiert, und mit der Dokumentation wird geschlampt.
Vor dem Hintergrund der zahlreichen Probleme, die Keller in ihrem wichtigen und materialreichen Buch aufgreift, ist es in der Tat fragwürdig, wenn Menschen mit großangelegten Kampagnen von Regierungsseite vom Spenden überzeugt werden sollen. Auch von der "Widerspruchslösung", deren Einführung für Deutschland derzeit diskutiert wird, und der zufolge jeder ausgeschlachtet werden darf, der das nicht vorher ausdrücklich abgelehnt hat, hält Keller nichts. Niemand darf zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod gezwungen werden, so die Autorin. Der eigene Körper ist nicht "sozialpflichtig". Schließlich sterben die Menschen noch immer an ihren Krankheiten, nicht an fehlenden Spenderorganen.
MANUELA LENZEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main