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Produktdetails
  • Verlag: München, Winkler
  • ISBN-13: 9783538052420
  • ISBN-10: 3538052425
  • Artikelnr.: 24837431
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.03.2009

Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind
Ein literarischer Beitrag zum Atheismusstreit: Christoph Martin Wielands Roman „Agathodämon” aus dem Jahr 1799
„Meine wahre Geschichte könnte der Welt vielleicht nützlich werden”, sagt Agathodämon, die Titelfigur in Christoph Martin Wielands Roman, der 1799, an der Schwelle zwischen Französischer Revolution und nationalem Selbstbewusstsein, erschien. Könnte tatsächlich die Lebensgeschichte dieses „Guten Geistes”, wie Agathodämon übersetzt heißen würde, der Welt nützlich werden, auch der heutigen noch? 1799 – 2009: ist überhaupt ein Zusammenhang denkbar zwischen Wieland und dem heutigen Leser, zwischen diesem poeta doctus, dichtendem Gelehrten und dem vernetzten Alleswisser, dem Aufklärer und dem erfolgsorientierten Pragmatiker, dem Menschenfreund des 18. Jahrhunderts und dem Bürger des Sozialstaats?
Vielleicht doch – und so könnte dieser Band aus den Einzelausgaben von Wielands Werken, die derzeit im Insel-Verlag erscheinen, eine Brücke schlagen zwischen dem 18. Jahrhundert und der Gegenwart. Denn sind nicht all die gegenwärtigen Lebensmodelle nur Ausformungen – wenngleich verbogene, halbfertige, philiströse – dessen, was Wieland emphatisch in den sieben Büchern seines „Agathodämon” als Menschenbild zu entfalten suchte?
Am Ende des Buches hat der 96-jährige Agathodämon, ein Greis voll Anmut und Würde, den Sinn seines von Legenden umwobenen Lebens gefunden. Er übermittelt diese Weisheit Hegesias, dem Zuhörer seiner Lebensbeichte, der sich von der ganzen langen Darstellung seines „Gastgebers”, seinen Selbstauslegungen, seinen Reflexionen über Wahrheit und Betrug in Religion und Politik, über Sinn und Unsinn von Glaube, Unglaube und Aberglaube, nicht ein Wort entgehen lässt. Diesem idealen Zuhörer erklärt Agathodämon, wie er in sich selbst auch noch die letzten Zweifeln behob, die, wie alle Menschen, auch ihn, den Weisen, hatten befallen können.
Vor diesen Fragen habe er sich zeitweise in Träumereien, Phantasien, Dunkelheiten geflüchtet. Doch bald stellte sich seinem Auge wieder Himmel und Erde klar dar und als das, was sie sind, „und mit süßen Schauern umfasst mich die Gegenwart des allgemeinen Genius der Natur, des liebenden, versorgenden Allvaters, oder wie der beschränkte Sinn der sterblichen den Unnennbaren immer nennen mag, und ich bin– mit Einem Worte, wieder was ich seyn soll, ein Mensch, gut und glücklich, und verlange nicht mehr zu seyn als ich seyn kann und soll.”
Eine Polemik gegen die Religion
Diese Sätze: der Trost, den sie spenden, der philosophische Wortschatz, den jedermann verstehen kann, der Rhythmus der Sprache, umgeben auch noch den heutigen Leser mit der Atmosphäre des Gartensaales in Oßmannstedt bei Weimar, wo Wieland seinen „Agathodämon” schrieb. Die Harmonie des Weltbilds, mit dessen Skizzierung Wielands Werk endet, und die Harmonie seiner Sprache machen allerdings vergessen, dass dies Buch seinerzeit eine Streitschrift gegen das Christentum war. „Agathodämon”, eine von Wundererzählungen, Idyllen, Weisheitslehren durchzogene Polemik, erschien in dem Jahr, da in Wielands nächster Nähe, in Jena, der „Atheismusstreit” tobte, der Johann Gottlieb Fichte seinen Lehrstuhl kostete. Das 18. Jahrhundert hatte sich – zuerst in Frankreich – der Religionskritik verschrieben, und Wieland verdient durchaus den Titel eines deutschen Voltaire. Die Frage nach dem Ursprung von Glaube und Aberglaube taucht in vielen seiner Schriften auf; im „Agathodämon” gibt der auf seinem Latifundium zurückgezogen lebende Dichter eine Antwort auf die Krise der Religion im Stil der antiken Lebensweisheit.
Das Vorbild für Agathodämon, seine Hauptfigur, fand Wieland in dem neupythagoreischen Wanderphilosophen Apollonius von Tyana. Um diesen Römer des ersten nachchristlichen Jahrhunderts ranken sich zahlreiche Legenden, weshalb schon vor Wieland diese von Wundern durchzogene Lebensgeschichte mit der von Christus verglichen worden war. Agathodämon erläutert nun seinem Zuhörer Hegesias, wie es zu den über ihn berichteten Wundertaten kam: halb seien diese nur Täuschungen, die er selbst inszenierte habe, halb Erdichtungen des Volkes, das sich nach Andacht, Verzauberung, Erhebung, Überschreitung der Wirklichkeit sehnt.
Diese Aufklärung über die Entstehung von Sagen und Wundern soll der Leser auf die christliche Religion übertragen. Agathodämon verbindet in seiner Lebensbeichte eine akribische Selbstanalyse mit einer wohldurchdachten Überlegung über die Funktion menschlicher Einbildungskraft, und aus beidem zusammen entsteht jene seltsame Art von poetischer Religionskritik im Charme der Wielandschen Sprache.
Umrankt von Erzählung und Atmosphäre könnte Wielands Dichtung auch noch in der gegenwärtigen Epoche der religiösen Ratlosigkeit und Bastelei eine Aufhellung des Verstandes bewirken. Doch fordert dieses Werk der Aufklärung des 18. Jahrhunderts von seinem Leser eine Bildung, wie sie kaum mehr zu finden ist. Er müsste mit der Geschichte des römischen Reiches sehr vertraut sein, um die Volten von Wielands Deutung der Biographie des Apollonius-Agathodämon und seinen gelegentlichen Zynismus zu durchschauen.
Fremd gewordene Eleganz
In der neuen Ausgabe des Insel-Verlages helfen immerhin das Vorwort von Jan Philipp Reemtsma, Kommentare zu einzelnen Stellen und ein Glossar dem Leser über viele Verständnisschwierigkeiten hinweg. Wieland bleibt dennoch der tragische Autor der deutschen Literatur: Seine von Märchen, Wundererzählungen und Bildungswissen durchwobene Aufklärung, deren sprachliche Eleganz am Latein geschult ist, befremdet den Romanleser, der seit Fielding, Rousseau und Goethe an eine Form des Erzählens gewöhnt ist, die das Geschehen an der ihm vertrauten Realität misst und die Kunstsprache der Alltagssprache angepasst hat. HANNELORE SCHLAFFER
CHRISTOPH MARTIN WIELAND: Agathodämon. In sieben Büchern. Herausgegeben von Jan Philipp Reemtsma, Hans und Johanna Radspieler. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2008. 308 Seiten, 34 Euro.
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