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Unser Bild von Thomas Mann hat sich seit seinem Tod wesentlich verändert. Neue Dokumente sind ediert worden: Fragmente, Aufsätze und Vorträge, Notizen und Materialien, Briefe, Tagebücher, Interviews. Die Literaturwissenschaft hat mit immer neuen Zugriffen die Texte und das Autor-Text-Verhältnis untersucht. Thomas Manns zeitgeschichtliche Dominanz - ob als Quersteher oder als Repräsentant - war immer wieder Gegenstand kritischer Betrachtungen. Der 1995 verstorbene Hans Wysling war der langjährige Leiter des Thomas-Mann-Archivs der ETH Zürich und Begründer der Thomas-Mann-Studien. Dieser Band…mehr

Produktbeschreibung
Unser Bild von Thomas Mann hat sich seit seinem Tod wesentlich verändert. Neue Dokumente sind ediert worden: Fragmente, Aufsätze und Vorträge, Notizen und Materialien, Briefe, Tagebücher, Interviews. Die Literaturwissenschaft hat mit immer neuen Zugriffen die Texte und das Autor-Text-Verhältnis untersucht. Thomas Manns zeitgeschichtliche Dominanz - ob als Quersteher oder als Repräsentant - war immer wieder Gegenstand kritischer Betrachtungen. Der 1995 verstorbene Hans Wysling war der langjährige Leiter des Thomas-Mann-Archivs der ETH Zürich und Begründer der Thomas-Mann-Studien. Dieser Band versammelt Arbeiten von ihm aus den Jahren 1963-1995. Sie untersuchen zunächst die Beziehungen Thomas Manns zu Goethe, Schopenhauer, Heinrich Mann, Wedekind und Hauptmann. Sodann enthalten sie Interpretationen von Einzelwerken, von "Buddenbrooks" bis zum späten "Krull". Den Abschluß machen Studien zu Schriftstellerproblemen: zu Thomas Manns "Montagetechnik", seiner Kunst der Deskription, seinem Tagebuch- und Briefwerk. Die letzte Studie über "Leiden und Größe Thomas Manns" wirft einige Schlaglichter auf seine prekäre Schreibsituation, ihre psychische, soziale und ästhetische Problematik.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.1996

Professor Kuckuck
Hans Wyslings Aufsätze über Thomas Mann · Von Hermann Kurzke

"Wer ist Professor Kuckuck?" Die Abwegigkeit dieser Frage ist ironischer Natur, denn das Kuriose führt in diesem Fall mitten ins Zentrum - genauso könnte man fragen: Wer ist der Mensch? Woher kommt die Welt? Was sollen wir tun?

Der Fragesteller ist Hans Wysling, lange Jahre Konservator des Thomas-Mann-Archivs in Zürich, im Dezember 1995 unerwartet verstorben. Er hat die Zusammenstellung seiner Thomas-Mann-Aufsätze noch selbst besorgt, die Thomas Sprecher und Cornelia Bernini nun stellvertretend vorlegen, ergänzt um eine Bibliographie, einen Lebenslauf und eine bewegende Laudatio von Helmut Koopmann. Aus einer Festschrift, geplant zum siebzigsten Geburtstag am 20. Juni 1996, wurde eine Gedenkschrift, ein imponierender Nachruf.

Wer war Professor Wysling? Zwanzig Jahre Gymnasiallehrer, zwanzig Jahre Universitätsprofessor, 1545 Tage schweizerischer Soldat, zuletzt im Range eines Obersten, Zunftmeister der Zunft zur Schiffleuten, ein urbaner Herr, ein geistreicher Gesprächspartner, ein verschmitzter Erzähler. Ein Bescheidener, ein Freund. Das geliebte Archiv leitete er nebenamtlich, dreißig Jahre lang. Sein Doktorvater war Emil Staiger. Das Wort "Staiger-Schüler" will gleichwohl nicht passen. Sein Denkweg führte ihn, weitab von Staigers Weg, zur Quellenforschung, zur Psychoanalyse und zur Narzißmustheorie als einem Generalschlüssel zum Verständnis des Künstlers und des Kunstwerks.

Die Wegentwicklung von der werkimmanenten Interpretation spiegelt sich in diesen Aufsätzen. Noch aus dem Erschrecken darüber, daß Manns Romane im Blick auf ihre Quellen nicht so sehr genial entsprungen als vielmehr fleißig gemacht erscheinen, daß sie Artefakte sind, entstanden die Arbeiten über Manns Montagetechnik und seine Deskriptionskunst. Aber schon die Studien über die Beziehungen zu Goethe, zu Gerhart Hauptmann, zum Bruder Heinrich Mann sind ohne Psychoanalyse nicht denkbar, ohne Überlegungen zum Sinn des tröstenden Spiels mit dem narzißtischen Größenselbst und zum Kampf gegen Konkurrenten, die das gleiche Feld bestellen wollen.

Aber nicht den gestelzten Fachjargon der modernen Literaturpsychologie hat der Leser zu erwarten, sondern dokumentarisch gesicherte Charakteristiken von Werk und Leben. Nicht umsonst war Wysling Archivar. Der Vielheit der dokumentarischen Lebensbleibsel verpflichtet, kann er sich keine Theorie leisten, die alles über einen Kamm schert. So ist immer viel Empirie dabei in den großen Einleitungen zu diversen Briefausgaben und zu der für die Forschung hochbedeutsamen Notizbücheredition, in der Tagebuchdeutung und in der unbestechlichen Revue "Probleme der Zauberberg-Interpretation". Alle Linien laufen zusammen in der neuesten, der einzigen bisher ungedruckten Arbeit, betitelt "Leiden und Größe Thomas Manns", die bündig klärt, was den Autor und sein Werk zusammenhielt und so ziemlich das Beste ist, was man zur Zeit in Kurzform über diesen Dichter lesen kann.

Aber wer ist nun Professor Kuckuck? Die Leser der "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" erinnern sich an den wunderlich gescheiten, sternäugigen Museumsdirektor, mit dem Krull als Marquis de Venosta im Speisewagen von Paris nach Lissabon ein langes Gespräch führt über Gott und die Welt. "Zum Kuckuck!" ruft Krull und entschuldigt sich gleich bei seinem Gegenüber für diesen Lapsus, hat er doch den Tabunamen des Teufels gebraucht. Ja, Kuckuck ist ein wenig auch der Teufel, Wysling weist es nach. Aber er ist auch Schopenhauer und Nietzsche, Richard Wagner und Goethe - alle seine Kirchenväter hat Thomas Mann in ihn eingeschrieben. Kuckuck ist Amphitryon, dem Felix als Gott in Menschengestalt seine Maria Pia zu rauben droht, er ist aber auch Zeus und gütiger Allvater, wie Maria Pia als Hera und Magna Mater figuriert und Felix in dieser Beziehung als Sohn. Er ist schließlich auch Thomas Mann, eine Selbstparodie. Aber auch Hans Wysling glich ihm in seiner Güte und Verschmitztheit und verwandelte sich ihm an.

Hans Wysling: "Ausgewählte Aufsätze 1963-1995". Hrsg. von Thomas Sprecher und Cornelia Bernini. Thomas-Mann-Studien Band XIII. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1996. 527 S., geb., 138,- DM.

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