Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 8,90 €
Produktdetails
  • Ausgewählte Schriften
  • Verlag: Brinkmann u. Bose
  • Erscheinungstermin: 18. Dezember 2008
  • Abmessung: 230mm
  • Gewicht: 275g
  • ISBN-13: 9783922660996
  • Artikelnr.: 25622795
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Mit dem Wischmopp durch die Filmgeschichte
Zum Abschluss der Werkausgabe der großen Frieda Grafe

Filmkritiker achten manchmal auf seltsame Sachen. Sie sehen in der Regel denselben Film wie die Kollegenschaft, aber sie sehen kaum einmal die gleichen Details. Frieda Grafe zum Beispiel achtete, als sie 1983 über die Wiederaufführung von "The Lusty Men" von Nicholas Ray schrieb, darauf, wie Susan Hayward mit dem Wischmopp umgeht. Eine Frau, die einem Rodeoreiter den Haushalt (den Wohnwagen!) führen möchte, darf sich beim Schrubben keine Blöße geben, denn sonst wird hinter der Rolle der Star erkennbar, sonst bricht die Illusion der ehelichen Schicksalsgemeinschaft, die in "The Lusty Men" mit einiger Mühe und gegen die Attraktion von Robert Mitchum aufrechterhalten wird.

Frieda Grafe hat an Details dieser Art allerdings nicht nur die ideologische Komponente interessiert, sie sah Film insgesamt als eine Kunst, in der Zeichen im weitesten Sinne organisiert werden. Mit diesem an der französischen Semiologie, vor allem aber an den Werken des Weltkinos selbst geschulten Blick beobachtete sie vierzig Jahre lang, von 1962 bis zu ihrem Tod im Jahr 2002, was aus diesem jungen Medium wurde. Sie schrieb Texte für die Zeitschrift "Filmkritik", für "Die Zeit" und für die "Süddeutsche", und obwohl sie wusste, dass Filmkritik ein Tagesgeschäft ist, versuchte sie, sich diesem Druck so weit wie möglich zu entziehen. Ihre Filmseiten - große, fast monographische Texte zu einzelnen Regisseuren, geschrieben meistens anlässlich von Retrospektiven, und zwar hinterher, nach dem (neuerlichen) Sehen der Filme - sind in der gegenwärtigen Presselandschaft nahezu undenkbar geworden.

Vor diesem Hintergrund wirkt es beinahe ironisch, dass Frieda Grafe nun zur Autorin einer Werkausgabe geworden ist. Die "Gesammelten Schriften in Einzelbänden", die kurz nach ihrem Tod im bibliophilen Berliner Verlag Brinkmann & Bose zu erscheinen begannen, sind seit einiger Zeit mit dem Registerband 12 abgeschlossen. Man könnte ein berühmtes Zitat über Hitchcock variieren, um den Status dieses von Enno Patalas diskret, aber mit der Treue eines Lebensmenschen besorgten Unternehmens zu charakterisieren: "der letzte Klassiker oder auch der erste Moderne". Mit Frieda Grafe verhält es sich vielleicht ein wenig anders. Sie war die erste Moderne in der deutschsprachigen Filmkritik, und nun könnte ihr das Schicksal der einzigen Klassikerin in dieser Disziplin drohen: ungelesen zwischen Buchdeckeln die Zeiten zu überdauern. Allein die äußere Anmutung dieser Bände sollte aber dazu beitragen, dass dem nicht so sein muss. Sie pochen gerade nicht auf Klassikerstatus, sondern auf Modernität, Transparenz, Funktionalität. Eine zweite Ironie liegt darin, dass diese Ausgabe nun früher abgeschlossen ist als die von Siegfried Kracauer, an dem Frieda Grafe sich nicht gemessen, zu dem sie aber immer wieder pointiert Stellung genommen hat, und zwar so, dass man daraus fast so etwas wie einen Lektüreschlüssel zu ihrer eigenen Arbeit ziehen kann.

In einem Text über Leni Riefenstahl, der im fünften Band "Film/Geschichte. Wie Film Geschichte anders schreibt" enthalten ist, weigert sie sich hartnäckig, der verfemten Regisseurin der Naziparteitagsfilme das "Kino-Auge" abzusprechen. Sie will kein vorschnelles, auf flüchtiger Anschauung beruhendes Urteil sprechen, während sie Kracauers Position mit beiläufiger Schärfe pointiert: Seine Erklärungen "sind Geschichten, fast Krimis, Whodunits".

Frieda Grafe wollte beim Sehen von Filmen nicht zu schnell auf diese Ebene kommen, sie wollte nicht über Täter aufklären, sondern mit dem Medium arbeiten und mitschreiben. Sie respektierte das phänomenologische Interesse der ersten Nachkriegsgeneration, vor allem der französischen Filmkritik, aber sie selbst gehörte eben schon einer anderen Epoche an, auch wenn sie den Strukturalismus niemals zu einer Methode werden ließ. Sie sah Filme als Organisation, nicht als Muster. Von der Wirklichkeit einen Abdruck herzustellen erschien ihr verfehlt, wie sie mit Blick auf den verehrten Josef von Sternberg schrieb: "Die anorganischen Bewegungen des Kinos verwandte Sternberg, um Licht zu werfen auf Bereiche des Realen, denen mit Mitteln gegenständlicher Darstellung Gewalt angetan werden würde."

In den zwölf Bänden der Gesammelten Schriften finden sich neben den im engeren Sinn filmkritischen Arbeiten auch ihre längeren, essayistischen Texte, ihr Projekt über Gertrude Stein und ihre ursprünglich in England erschienene kleine Untersuchung von "The Ghost & Mrs. Muir" von Joseph L. Mankiewicz. Den Höhepunkt an Konzentration erreichte sie aber dort, wo sie ganz kurz angebunden war: In ihren Filmtipps reicht manchmal die bloße Nennung eines Filmtitels, um jene Welt zu öffnen, die das Kino für Frieda Grafe war.

BERT REBHANDL

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr