Jacques Derrida im Gespräch - die hier zusammengestellten Gespräche zeugen von einer Vielfalt der Themen, mit denen Jacques Derrida sich über eine Zeitspanne von zwanzig Jahren beschäftigt hat, lassen aber auch Raum für brennende Themen unserer Zeit und für persönliche, autobiographische "Bekenntnisse". Durch eine Mannigfaltigkeit des Stils und des Tons - spielerisch, strategisch, leidenschaftlich, analytisch, kämpferisch - verleiht Derrida dem Gespräch die schwebende Offenheit und Unabgeschlossenheit der Auslassungspunkte: die im voraus bedachten Improvisationen werden von Zeiten der Stille interpunktiert, die sie in Atem, in der Schwebe hält. Durch Auslassungspunkte werden Grenzen, Normen, Erwartungen überschritten; ihre Flüchtigkeit hält die Gesprächspartner, aber auch die Leser in einer Schwebe, die Raum lässt für die Antwort des Anderen, für das Versprechen und die Verantwortung des gegebenen Wortes.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.07.1999Bei Anruf Wort
Dekonstruktion im Selbstgespräch: Jacques Derrida hat das Autotelefon neu erfunden
Lebte Flaubert heute, würde er für sein "Wörterbuch der Gemeinplätze" zu den Büchern Derridas vermutlich notieren: "Mit Lesezeichen versehen, geeignet, bei Freunden und Bekannten Ehrfurcht zu erwecken". Steht doch Derrida im Ruf der Schwerzugänglichkeit und partiellen Verrätselung. Jetzt beginne er, Derrida, aber hermetisch zu werden, läßt der Philosoph in einem fingierten Telefongespräch daher seinen Gesprächspartner ausrufen, einen Redakteur von "Le Monde", der ihn ersucht, unter Berücksichtigung der philosophisch nicht ausgebildeten Leserschaft einen Artikel über Sprache zu verfassen. Das ironische Spiel mit dem Vorwurf, einen Stil des Hermetischen zu zelebrieren, der autoritär "die Macht der Interpretation" besetze, führt mitten hinein in das Werk Derridas, dessen Zielsetzung, die Autorität des Begrifflichen zu dekonstruieren, sich rhetorisch in der Kultivierung diverser Sinnverschleifungen ausprägt. Diesem Werk steht nun eine umfangreiche Auswahl von Gesprächen zur Seite, unter ihnen das fingierte Telefonat mit "Le Monde".
Zwanzig Gespräche mit Derrida aus den Jahren 1976 bis 1991, vereint unter dem Titel "Auslassungspunkte", das sind zwanzig Dialoge, in denen Derridas Antworten die vorausgehenden Fragen der Dekonstruktion unterziehen. Fast immer entstehen dabei auch Antworten auf ungestellte Fragen zu seinen Texten, zu Schlüsselbegriffen und Denkbildern, auf Fragen zu Literatur und Philosophie in biographischer Hinsicht, auf Fragen zu Heidegger. Ganz im Zeichen der Dekonstruktion als eines Verfahrens, das sich gegen "die Logik des Zeichens" richtet, "deren Grenzen es zu erkennen gilt", steht das erste der Gespräche. Zugrunde liegt ihm ein zweiteiliges Interview über "Glas", Derridas experimentelle Verschränkung von Hegel und Jean Genet. In der Nachbearbeitung ist es zu einem furiosen Sinnwirbel nahezu monologischer Rede geworden. Begriffe, Wortwendungen und Diskursperspektiven werden mit Fragezeichen versehen, eigene Überlegungen mittels überbordender Parenthesen und Selbstkorrekturen, Apostrophierung und Disjunktion in der Bewegung des Umkreisens gehalten.
Scheint darüber gelegentlich die Argumentation wegzustrudeln, dies aber mit einer ihr eigenen Prosodie, so ist genau dies beabsichtigt. "Mein stärkstes Interesse", antwortet Derrida an anderer Stelle mit Bezug auf Stéphane Mallarmé, "galt zweifellos schon immer dem Bereich, wo das literarische Ereignis die Philosophie durchläuft und sogar überschreitet." Diese Vorliebe nivelliert den Unterschied zwischen der diskursiven Sprache der Philosophie und der flottierenden der Poesie. Über den Gewinn dabei bleibt zu diskutieren. Der diesbezügliche Vorbehalt von Jürgen Habermas, ausformuliert 1985 in seinem Buch "Der philosophische Diskurs der Moderne", verdiente jedenfalls etwas mehr als die abkanzelnde Bemerkung Derridas, da habe einer offenkundig vermieden, ihn zu lesen.
Neben dem Begriff der Dekonstruktion ist die Philosophie Martin Heideggers ein weiterer roter Faden. In der Beschäftigung mit dessen Daseinsanalyse und Kunstreflexion umkreist Derrida den Subjektbegriff, das Problem der Geschlechterdifferenz sowie die Besonderheit des poetischen Textes. Nicht selten wird dabei das Denken der Ambiguität auf eine Aporie hin zugespitzt, auch dort, wo man es so nicht erwartet. Gefragt, wie er Heideggers Schweigen über Auschwitz deute, stellt Derrida seinerseits die Frage nach der Struktur einer Antwort, die in der lapidaren Verurteilung dieses Schweigens bestünde. Der metonymische Gebrauch von "Auschwitz" gilt ihm als Sprachfigur, die alle anderen Lager und Orte des Terrors ausblendet. Und in der Verurteilung selbst sieht er vorrangig den "Zwang zum verurteilenden Diskurs, strategische Nutzbarmachung, Eloquenz der Denunziation".
Gebe man zu, schließt er, daß "das Ganze undenkbar" bleibe, daß man "keinen ihm angemessenen Diskurs" besitze, dann sei die Rede darüber mindestens ebenso verwerflich wie das Schweigen. Solche Auslegung Heideggers ergäbe gerade noch Sinn, spräche Derrida vom Verstummen statt vom Schweigen. Überhaupt: Ist "das Ganze" undenkbar, entzieht es sich auch der Findung eines ihm angemessenen Diskurses, den theologischen vielleicht ausgenommen.
Die Kritik am Logozentrismus, verstanden als Kritik an der Selbstbezüglichkeit des Denkens im Begriff des Denkens sowie an der Vorherrschaft diskursiver Begrifflichkeit, hat ihren Rückhalt in der Philosophie der Differenz. Sie sucht im Anwesenden das Abwesende geltend zu machen, das Nichtidentische, das Andere. Die "Spur" ist eines der Bilder, das Derrida in den Gesprächen verwendet, wo er vom Differierenden spricht, und dessen Verwendung auf die Auseinandersetzung mit Sigmund Freud zurückgeht. Diese Auseinandersetzung galt von Beginn an auch der Rezeption Freuds speziell bei Jacques Lacan und Michel Foucault. Drei Essays zu diesem Thema sind nun bei Suhrkamp neu erschienen.
Derrida erneuert und vertieft darin zum einen seine Kritik an Lacans "Seminar über E. A. Poes ,Der entwendete Brief'", zum anderen die an Foucaults "Wahnsinn und Gesellschaft". Gegen Lacan erhebt er im wesentlichen den Vorwurf, dieser schreibe dem im Akt der Verdrängung von seinem Signifikat getrennten Signifikanten Autonomie zu, bleibe mithin auf dem Feld der Psychoanalyse dem Identitätsdenken verhaftet. Foucault hingegen sieht Derrida, bei aller Bewunderung für dessen Werk, bisweilen der binären Logik von Begriffspaaren erlegen. In beiden Fällen nimmt sich die Kritik wurzelförmig verschlungen aus, rhizomatisch im besten Sinne des Wortes.
Setzt die Psychoanalyse ein Ursprüngliches an, das sie gegenwärtig zu machen sucht, so stellt Derrida dem das Bild einer "Spur" entgegen, die im Unauflösbaren bleibt. Ihr gilt die Arbeit der Dekonstruktion als einer fortlaufenden Überbietungsbewegung: "Denn um zu vermeiden, daß die Kritik der Ursprungsverhaftung unter ihrer transzendentalen oder ontologischen, analytischen oder dialektischen Form nicht einem uns wohlbekannten Gesetz gemäß dem Empirismus oder dem Positivismus weicht, müßte auf eine noch radikalere, noch analytischere Weise der traditionellen Suche nach den ursächlichen Gründen, dem Gesetz dessen, was gerade noch dekonstruiert worden war, stattgegeben werden: daher jene unmöglichen Begriffe, jene Quasi-Begriffe, jene Begriffe, die ich quasitranszendental genannt habe, wie die Ur-Spur oder die Ur-Schrift, das Ur-Ursprüngliche, das ,älter' ist als der Ursprung - und vor allem eine gebende Bejahung, die die letzte Unbekannte bleibt für die Analyse, die sie dennoch in Bewegung setzt." Soweit Derrida. Schön, wenn an solcher Stelle ein Lesezeichen eingelegt ist.
RALF DROST
Jacques Derrida: "Auslassungspunkte". Gespräche. Aus dem Französischen von Karin Schreiner und Dirk Weissmann unter Mitarbeit von Kathrin Murr. Passagen Verlag, Wien 1998. 434 S., geb., 98,- DM.
Jacques Derrida: "Vergessen wir nicht - die Psychoanalyse". Herausgegeben, aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Hans-Dieter Gondek. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 233 S., br., 19,80 DM.
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Dekonstruktion im Selbstgespräch: Jacques Derrida hat das Autotelefon neu erfunden
Lebte Flaubert heute, würde er für sein "Wörterbuch der Gemeinplätze" zu den Büchern Derridas vermutlich notieren: "Mit Lesezeichen versehen, geeignet, bei Freunden und Bekannten Ehrfurcht zu erwecken". Steht doch Derrida im Ruf der Schwerzugänglichkeit und partiellen Verrätselung. Jetzt beginne er, Derrida, aber hermetisch zu werden, läßt der Philosoph in einem fingierten Telefongespräch daher seinen Gesprächspartner ausrufen, einen Redakteur von "Le Monde", der ihn ersucht, unter Berücksichtigung der philosophisch nicht ausgebildeten Leserschaft einen Artikel über Sprache zu verfassen. Das ironische Spiel mit dem Vorwurf, einen Stil des Hermetischen zu zelebrieren, der autoritär "die Macht der Interpretation" besetze, führt mitten hinein in das Werk Derridas, dessen Zielsetzung, die Autorität des Begrifflichen zu dekonstruieren, sich rhetorisch in der Kultivierung diverser Sinnverschleifungen ausprägt. Diesem Werk steht nun eine umfangreiche Auswahl von Gesprächen zur Seite, unter ihnen das fingierte Telefonat mit "Le Monde".
Zwanzig Gespräche mit Derrida aus den Jahren 1976 bis 1991, vereint unter dem Titel "Auslassungspunkte", das sind zwanzig Dialoge, in denen Derridas Antworten die vorausgehenden Fragen der Dekonstruktion unterziehen. Fast immer entstehen dabei auch Antworten auf ungestellte Fragen zu seinen Texten, zu Schlüsselbegriffen und Denkbildern, auf Fragen zu Literatur und Philosophie in biographischer Hinsicht, auf Fragen zu Heidegger. Ganz im Zeichen der Dekonstruktion als eines Verfahrens, das sich gegen "die Logik des Zeichens" richtet, "deren Grenzen es zu erkennen gilt", steht das erste der Gespräche. Zugrunde liegt ihm ein zweiteiliges Interview über "Glas", Derridas experimentelle Verschränkung von Hegel und Jean Genet. In der Nachbearbeitung ist es zu einem furiosen Sinnwirbel nahezu monologischer Rede geworden. Begriffe, Wortwendungen und Diskursperspektiven werden mit Fragezeichen versehen, eigene Überlegungen mittels überbordender Parenthesen und Selbstkorrekturen, Apostrophierung und Disjunktion in der Bewegung des Umkreisens gehalten.
Scheint darüber gelegentlich die Argumentation wegzustrudeln, dies aber mit einer ihr eigenen Prosodie, so ist genau dies beabsichtigt. "Mein stärkstes Interesse", antwortet Derrida an anderer Stelle mit Bezug auf Stéphane Mallarmé, "galt zweifellos schon immer dem Bereich, wo das literarische Ereignis die Philosophie durchläuft und sogar überschreitet." Diese Vorliebe nivelliert den Unterschied zwischen der diskursiven Sprache der Philosophie und der flottierenden der Poesie. Über den Gewinn dabei bleibt zu diskutieren. Der diesbezügliche Vorbehalt von Jürgen Habermas, ausformuliert 1985 in seinem Buch "Der philosophische Diskurs der Moderne", verdiente jedenfalls etwas mehr als die abkanzelnde Bemerkung Derridas, da habe einer offenkundig vermieden, ihn zu lesen.
Neben dem Begriff der Dekonstruktion ist die Philosophie Martin Heideggers ein weiterer roter Faden. In der Beschäftigung mit dessen Daseinsanalyse und Kunstreflexion umkreist Derrida den Subjektbegriff, das Problem der Geschlechterdifferenz sowie die Besonderheit des poetischen Textes. Nicht selten wird dabei das Denken der Ambiguität auf eine Aporie hin zugespitzt, auch dort, wo man es so nicht erwartet. Gefragt, wie er Heideggers Schweigen über Auschwitz deute, stellt Derrida seinerseits die Frage nach der Struktur einer Antwort, die in der lapidaren Verurteilung dieses Schweigens bestünde. Der metonymische Gebrauch von "Auschwitz" gilt ihm als Sprachfigur, die alle anderen Lager und Orte des Terrors ausblendet. Und in der Verurteilung selbst sieht er vorrangig den "Zwang zum verurteilenden Diskurs, strategische Nutzbarmachung, Eloquenz der Denunziation".
Gebe man zu, schließt er, daß "das Ganze undenkbar" bleibe, daß man "keinen ihm angemessenen Diskurs" besitze, dann sei die Rede darüber mindestens ebenso verwerflich wie das Schweigen. Solche Auslegung Heideggers ergäbe gerade noch Sinn, spräche Derrida vom Verstummen statt vom Schweigen. Überhaupt: Ist "das Ganze" undenkbar, entzieht es sich auch der Findung eines ihm angemessenen Diskurses, den theologischen vielleicht ausgenommen.
Die Kritik am Logozentrismus, verstanden als Kritik an der Selbstbezüglichkeit des Denkens im Begriff des Denkens sowie an der Vorherrschaft diskursiver Begrifflichkeit, hat ihren Rückhalt in der Philosophie der Differenz. Sie sucht im Anwesenden das Abwesende geltend zu machen, das Nichtidentische, das Andere. Die "Spur" ist eines der Bilder, das Derrida in den Gesprächen verwendet, wo er vom Differierenden spricht, und dessen Verwendung auf die Auseinandersetzung mit Sigmund Freud zurückgeht. Diese Auseinandersetzung galt von Beginn an auch der Rezeption Freuds speziell bei Jacques Lacan und Michel Foucault. Drei Essays zu diesem Thema sind nun bei Suhrkamp neu erschienen.
Derrida erneuert und vertieft darin zum einen seine Kritik an Lacans "Seminar über E. A. Poes ,Der entwendete Brief'", zum anderen die an Foucaults "Wahnsinn und Gesellschaft". Gegen Lacan erhebt er im wesentlichen den Vorwurf, dieser schreibe dem im Akt der Verdrängung von seinem Signifikat getrennten Signifikanten Autonomie zu, bleibe mithin auf dem Feld der Psychoanalyse dem Identitätsdenken verhaftet. Foucault hingegen sieht Derrida, bei aller Bewunderung für dessen Werk, bisweilen der binären Logik von Begriffspaaren erlegen. In beiden Fällen nimmt sich die Kritik wurzelförmig verschlungen aus, rhizomatisch im besten Sinne des Wortes.
Setzt die Psychoanalyse ein Ursprüngliches an, das sie gegenwärtig zu machen sucht, so stellt Derrida dem das Bild einer "Spur" entgegen, die im Unauflösbaren bleibt. Ihr gilt die Arbeit der Dekonstruktion als einer fortlaufenden Überbietungsbewegung: "Denn um zu vermeiden, daß die Kritik der Ursprungsverhaftung unter ihrer transzendentalen oder ontologischen, analytischen oder dialektischen Form nicht einem uns wohlbekannten Gesetz gemäß dem Empirismus oder dem Positivismus weicht, müßte auf eine noch radikalere, noch analytischere Weise der traditionellen Suche nach den ursächlichen Gründen, dem Gesetz dessen, was gerade noch dekonstruiert worden war, stattgegeben werden: daher jene unmöglichen Begriffe, jene Quasi-Begriffe, jene Begriffe, die ich quasitranszendental genannt habe, wie die Ur-Spur oder die Ur-Schrift, das Ur-Ursprüngliche, das ,älter' ist als der Ursprung - und vor allem eine gebende Bejahung, die die letzte Unbekannte bleibt für die Analyse, die sie dennoch in Bewegung setzt." Soweit Derrida. Schön, wenn an solcher Stelle ein Lesezeichen eingelegt ist.
RALF DROST
Jacques Derrida: "Auslassungspunkte". Gespräche. Aus dem Französischen von Karin Schreiner und Dirk Weissmann unter Mitarbeit von Kathrin Murr. Passagen Verlag, Wien 1998. 434 S., geb., 98,- DM.
Jacques Derrida: "Vergessen wir nicht - die Psychoanalyse". Herausgegeben, aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Hans-Dieter Gondek. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 233 S., br., 19,80 DM.
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