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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2013

Mission in Marseille
Der Fluchthelfer Varian Fry rettete viele Leben

Varian Fry trifft im August 1940, zwei Monate nach der Niederlage Frankreichs, in Marseille ein. Der damals zweiunddreißigjährige amerikanische Journalist und Verlagsmann, der in Harvard Literatur studiert und 1935 auf einer Reise nach Deutschland von den Methoden der Nationalsozialisten gegenüber Juden und Regimegegnern einen Eindruck bekommen hatte, ist Gesandter des New Yorker "Emergency Rescue Committee". Er soll prominenten politischen wie intellektuellen Flüchtlingen, die in die unbesetzte französische Südzone geflüchtet sind, den Weg nach Amerika bahnen, bevor sie der Gestapo - oder auch den Geheimpolizisten Mussolinis oder Francos - in die Hände fallen.

Ein Monat war für diese Hilfsaktion geplant. Dreizehn Monate werden es schließlich für Fry, bis der Druck der Deutschen und der Vichy-Behörden so groß wird und er Marseille verlassen muss. Bis dahin ermöglichen er und sein kleiner Stab an Mitarbeitern mit unermüdlichem Einsatz, Improvisationstalent und Unerschrockenheit mehr als tausend Emigranten die Flucht vor den Verfolgern durch eines der letzten offenen Schlupflöcher Europas. Unter ihnen sind Golo und Heinrich Mann, die Werfels, Feuchtwanger, Kracauer, Walter Mehring, Max Ernst, Marc Chagall, André Breton und viele andere Künstler und Intellektuelle.

Über diese dreizehn Monate verfasste Varian Fry nach seiner Rückkehr aus Marseille einen Bericht in Buchform, "Auslieferung auf Verlangen", der noch vor dem Mai 1945 in New York erschien. Exzellent und lebendig geschrieben, führt Fry vor Augen, was es hieß, unter den Augen der zur Kooperation mit den Besatzern verpflichteten Vichy-Behörden Spielräume für die Rettungsarbeit zu nutzen. Fry versuchte die Flüchtlinge nach Lissabon schleusen, meist auf dem Landweg, manchmal über das Meer. Gebahnte Wege waren das nicht, schon wegen der sich unvorhersehbar ändernden Visa-Regelungen. Es galt, mit allen möglichen Allianzen und Deals zu arbeiten, mit legalen und mehr noch mit illegalen Mitteln.

Das Bild, das Fry zeichnet, bestimmen denn auch nicht nur Verfolger und Verfolgten. Die Verhältnisse waren unübersichtlicher, Lücken und Schlichen ließen sich finden, wenn man das Netzwerk erweiterte. Die französischen Behörden hatte ihre eigenen Gründe, den Deutschen nicht immer umstandslos in die Hände zu spielen, ein Offizier verkaufte schon auch einmal verwendbare Demobilisierungspapiere, zwielichtige Reisende hatten Koffer voller erstklassiger Pässe im Angebot, Fälscher bewiesen eindrucksvoll ihre Kunst, Konsularbeamte halfen mit mitunter exotischen Zielländern aus, der englische Geheimdienst hatte auch Soldaten auszuschleusen, korsische Anwälte waren nicht zu verachten, so wenig wie die Mafia in Marseille für den Devisentausch auf dem Schwarzmarkt und andere Hilfestellungen. Und wenn es darum ging, deutsche Sozialdemokraten und Widerständler aus Lagern zu holen, war die junge reiche Amerikanerin Mary Jayne Gold zur Stelle - die sehr viel später unter dem Titel "Crossroads Marseille", ihren eigenen Bericht über die Verhältnisse in Marseille nach dem Juni 1940 schrieb. So wie Daniel Bénédite, wichtiger Mitarbeiter Frys und dessen Nachfolger in Marseille ab September 1941, der in seinem Buch "La filière marseillaise" an die Hilfsaktionen erinnerte.

Die Würdigung Varian Frys setzte sehr spät, mit Nachdruck sogar erst fast drei Jahrzehnte nach seinem Tod im Jahr 1967 ein. 1994 wurde er in Yad Vashem unter die "Gerechten der Nationen" aufgenommen.

HELMUT MAYER

Varian Frys Buch "Auslieferung auf Verlangen" ist im Fischer Taschenbuch Verlag lieferbar.

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