Rithy Panh ist 13 Jahre alt, als er innerhalb weniger Wochen seine gesamte Familie verliert - ausgelöscht durch die Gräueltaten der Roten Khmer. Eindringlich erzählt der mittlerweile international zu Ruhm gelangte Regisseur von seinen Erlebnissen unter dem Pol-Pot Regime - und seiner Begegnung mit dem Folterchef von Phnom Penh dreißig Jahre später. Dreißig Jahre nach dem Ende des Pol-Pot-Regimes, dem 1,7 Millionen Menschen zum Opfer fielen, beschließt Rithy Panh, einen der Hauptverantwortlichen des Völkermords zu interviewen: Duch, den Chef des berüchtigten Folter- und Hinrichtungslagers S21. Vor der Kamera zeigt sich dieser jedoch nicht so bestialisch, wie man es hinsichtlich der unmenschlichen Leiden und der hohen Zahl seiner Opfer erwarten würde: Er ist ein gebildeter Organisator - ein Henker, der redet, vergisst, lügt, erklärt, an seiner Legende strickt. Auslöschung ist der Bericht über diese außergewöhnliche Konfrontation. Eine tiefgründige Annäherung an die Natur des Bösen in der Tradition von Primo Levis "Ist das ein Mensch?" und Elie Wiesels "Die Nacht".
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2013Das Böse ist nicht banal
Rithy Panh überlebte das Terrorregime der Roten Khmer. Nun hat er ein beeindruckendes Buch über den Massenmord in Kambodscha geschrieben: "Auslöschung"
Kambodscha ist weit entfernt von Europa, und das Terrorregime der Roten Khmer wird da leicht als fremdartige Grausamkeit abgetan, für uns gar nicht zu verstehen, da sie mit unserer Welt nichts zu tun habe. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass einige wenige Intellektuelle - die meisten von ihnen hatten in Paris studiert - die Landbevölkerung Kambodschas, bevorzugt Jugendliche, bewaffneten, um sie in den Kampf gegen weite Teile ihrer eigenen Bevölkerung zu schicken.
Am 17. April 1975 marschierten die Roten Khmer in der Hauptstadt Phnom Penh ein. In der mörderischen Logik der neuen Machthaber wurde die Bevölkerung in zwei Lager unterteilt, in das "Neue" und das "Alte" Volk, wobei das Neue mitleidlos zu vernichten war. Die Neuen, das waren alle, die studiert hatten, die gebildet waren, Lehrer, Ärzte, das gesamte Bürgertum. Von einem Tag auf den anderen reichte es aus, eine Brille zu tragen, um augenblicklich ermordet zu werden. Phnom Penh wurde innerhalb von Tagen nahezu komplett entvölkert, die Bewohner in Gewaltmärschen aufs Land verbracht, wo sie fortan unter unmenschlichen Bedingungen Sklavenarbeit im Ackerbau oder Kanalbau oder Ähnlichem leisten mussten. Innerhalb von weniger als vier Jahren - so lange dauerte die Gewaltherrschaft der Roten Khmer - ließ fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung ihr Leben: 1,7 Millionen Menschen starben, wurden zumeist erschlagen, und/oder es wurde ihnen mit Messern die Kehle aufgeschlitzt, bevor sie in einem der über 20000 Massengräber verscharrt wurden, die über das Land verteilt waren, den sogenannten Killing Fields. Viele starben auch an Hunger oder an Krankheiten, die wegen der Zerstörung des Ärztestandes nicht mehr behandelt werden konnten. Es ist eines der düstersten der vielen düsteren Kapitel des 20. Jahrhunderts, und dass es sich in Südostasien ereignete, heißt eben nicht, dass es uns nichts angehen würde.
Daran erinnert nun ein beeindruckendes Buch. Geschrieben hat es der gebürtige Kambodschaner Rithy Panh, selbst ein Überlebender dieser Zeit. Er war 13 Jahre alt, als die Roten Khmer die Macht übernahmen, nahezu seine gesamte Familie, die zum Bürgertum gerechnet wurde, starb. Später ging er nach Frankreich und wurde Regisseur. In seinen Filmen hat er sich schon öfter mit jenem mörderischen Kapitel der Geschichte seines Landes beschäftigt - seine Dokumentation "S21 - Die Todesmaschine der Roten Khmer" etwa wurde 2004 in Cannes gezeigt. Nun hat er auch darüber geschrieben: "Auslöschung - Ein Überlebender der Roten Khmer berichtet" heißt sein Buch.
Es basiert auf Interviews, die er mit einem der Hauptverantwortlichen für den Völkermord geführt hat: Mit Kaing Guek Eav, genannt Duch, der als ehemaliger Leiter des Gefängnisses S21 für den Tod von mindestens 12000 Menschen verantwortlich ist, wahrscheinlich waren es viel mehr. Das S21 war ein Gefängnis, in dem jeder Gefangene unter Folter zu dem Geständnis gezwungen wurde, für einen ausländischen Geheimdienst zu arbeiten - worauf die Hinrichtung stand. Es befand sich in einem ehemaligen Schulgebäude und kann heute als Gedenkstätte besichtigt werden: ein helles Gebäude mit braunweiß gewürfelten Fliesen und einem mit Palmen bewachsenen Garten, über dem eine bedrückende Atmosphäre liegt. Hier herrschte Duch von 1976 bis 1979 über Leben und Tod. Zahlreiche Unterlagen sind erhalten, in denen er handschriftlich über die Behandlung der Insassen verfügte: "vernichten", "in Verwahrung behalten", "könnt ihr liquidieren"; er schien jeden einzelnen Fall zu kennen.
2009 wurde Duch der Prozess gemacht. Er wurde zunächst zu 35 Jahren Haft verurteilt, eine Strafe, die vor einem Jahr auf Lebenslänglich erhöht wurde. Er ist heute 70 Jahre alt. Rithy Panh hat alle Interviews, die er mit ihm führte, gefilmt, getrieben von dem Bedürfnis, der Notwendigkeit, zu verstehen: Wie konnte jemand, der Mathematik studiert und als Lehrer gearbeitet hatte, zu einem Massenmörder werden? Fühlt dieser Mensch heute Reue? Übernimmt er Verantwortung für das, was er getan oder zu tun angeordnet hat?
Im Buch schneidet Panh, der aus seinem Material bereits einen Film gemacht hat, seine Treffen mit Duch mit seinen persönlichen Erlebnissen zu Zeiten der Roten Khmer gegen und schiebt immer wieder Absätze mit Gedanken ein. In der Theorie hat er sich viel mit Völkermord befasst - zitiert Hannah Arendt und Primo Levi, bezieht sich auf Gitta Sereny und ihre Interviews mit Franz Stangl, dem Lagerkommandanten von Sobibor und Treblinka; in der Liste der Sekundärliteratur findet sich auch Harald Welzers aufschlussreiches Buch "Täter - Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden". Doch ihn interessieren am Massenmord vor allem zwei Aspekte: Menschen haben das getan. Und sie haben es so getan.
Immer wieder kommt er dabei auf Sprache zu sprechen. Nach der Machtergreifung der Roten Khmer wurden einige Wörter, die sexuell oder bürgerlich konnotiert waren, wie etwa "Frau" oder "Ehemann", in Kambodscha verboten. Menschen, die dem "Neuen Volk" zugerechnet wurden, hießen nunmehr "Feind" und konnten, dergestalt entmenschlicht, "vernichtet" werden, selbst Kinder, die nun "Feindkinder" hießen und getötet wurden, indem man sie an Bäumen zerschmetterte. Das ganze Land bekam einen neuen Namen: Demokratisches Kampuchea. Und die allwissende Organisation Angkar (Khmer für: Organisation), die angeblich über allem herrschte, alles wusste und sah, war in Wahrheit nicht mehr als: ein Wort. Eine perfide Erfindung, die zur Einschüchterung und Unterdrückung eines ganzen Volkes diente. (Pol Pot, der Mann, der an der Spitze der Roten Khmer stand, gab vor, auch selbst nur der Angkar zu dienen.)
"Meine Waffe ist die Sprache", erklärte Duch Rithy Panh. Dessen Buch kann als Kampf zweier Männer gelesen werden, als Ringen des Autors mit seinem Gegenüber, die Wahrheit zu sagen, sie auszusprechen, zuzugeben, in Worte zu fassen, was tatsächlich geschehen ist.
Doch Panh gleitet ab an seinem Gegner, der nicht gewillt ist, seinem Interviewer zu geben, wonach dieser sich so sehnt, dass er an einer Stelle schreibt, für ein paar Worte von Duch hätte er sogar auf seinen Film verzichtet (und damit vermutlich auch auf sein Buch). Hin und wieder gibt Duch einiges zu, stellt sich aber im Großen und Ganzen selbst als Opfer dar, als "Geisel des Regimes". Vor Gericht log er unter Eid.
Sein eigenes Schicksal erzählt Panh in einfachen, klaren Worten. Es wirkt, als versuche er, seinen persönlichen Schmerz durch eine möglichst nüchterne Sprache auf Distanz zu halten. Er sah seinen Vater, seine kleine Nichte und seinen Neffen an Hunger sterben, verlor Mutter und Geschwister, kam selbst nur durch ungeheures Glück mit dem Leben davon. Bis heute leidet er an Schlaflosigkeit und Albträumen; seine gesamte Arbeit als Filmemacher und nun auch Autor kann als Versuch gesehen werden, das Erlebte zu bewältigen.
Was sein Buch vor allem auszeichnet, ist Menschlichkeit. Mit aller Macht stemmt sich Panh dagegen, jenen Duch, einen der Hauptverantwortlichen für die Verbrechen der Roten Khmer, zu einem Ungeheuer oder Monster zu stilisieren. Er spricht sich entschieden gegen die heutzutage gerne vorgebrachte These aus, jeder (oder fast) sei ein potentieller Täter, Mörder oder Henker; uns alle trenne nur ein kleiner Schritt davon, auf der anderen, der bösen Seite zu stehen. "Ich will nicht leugnen", schreibt Panh, "dass manche Henker ganz gewöhnliche Männer sein mögen oder dass ein gewöhnlicher Mann ein Henker werden kann. Aber ich glaube an das Individuum und seine Einmaligkeit." Duch, schreibt er, sei weder Teufel noch Gott: "Aber dass er ein Mensch ist, ganz und gar ein Mensch, nimmt ihm nichts von seiner Einzigartigkeit. Im Gegenteil. Er ist dieser Mensch, der kein anderer sein kann - und der ein anderer nicht sein kann."
Duch, schreibt er, sei "ein Mann, der denkt". Und wäre dieser Mann mutig genug gewesen, sich der Wahrheit zu stellen, hätte er sich, so Panh, auf die anderen Menschen zubewegen können, die sich ihm, soweit es zumindest seinen Interviewer angeht, bis auf Armeslänge genähert hatten. "Die Wahrheit sagen, dann sterben, heißt sich auf die Menschen zuzubewegen", schreibt Panh. Doch Duch verweigert die Annäherung.
"Auslöschung" handelt vom Menschsein. Massenmord ist universell. "Ob wir wollen oder nicht, die Geschichte Kambodschas ist die unsere", schreibt Panh.
Für diejenigen, die die drei Jahre, acht Monate und zwanzig Tage andauernde Terrorherrschaft der Roten Khmer nicht überlebten, gibt es keine Gräber. Ihre Totenschädel sind in einigen der Killing Fields, die heute von Touristen besichtigt werden können, zu Haufen aufgetürmt. Doch es gebe ein anderes Grabmal, schreibt Panh: "Die Arbeit des Nachforschens, Verstehens, des Erklärens, die keineswegs eine traurige Leidenschaft ist: Sie kämpft gegen die Auslöschung. Natürlich werden bei dieser Arbeit die Toten nicht exhumiert. Wird keine Erde oder Asche durchwühlt. Natürlich erquickt uns diese Arbeit nicht. Besänftigt uns nicht. Aber sie gibt uns die Menschlichkeit, die Intelligenz, die Geschichte zurück. Manchmal auch die Würde. Sie macht uns lebendig."
JOHANNA ADORJÁN
Rithy Panh: "Auslöschung - Ein Überlebender der Roten Khmer berichtet". Mit Christophe Bataille. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Erscheint am Freitag bei Hoffmann und Campe. 240 Seiten, 19,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rithy Panh überlebte das Terrorregime der Roten Khmer. Nun hat er ein beeindruckendes Buch über den Massenmord in Kambodscha geschrieben: "Auslöschung"
Kambodscha ist weit entfernt von Europa, und das Terrorregime der Roten Khmer wird da leicht als fremdartige Grausamkeit abgetan, für uns gar nicht zu verstehen, da sie mit unserer Welt nichts zu tun habe. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass einige wenige Intellektuelle - die meisten von ihnen hatten in Paris studiert - die Landbevölkerung Kambodschas, bevorzugt Jugendliche, bewaffneten, um sie in den Kampf gegen weite Teile ihrer eigenen Bevölkerung zu schicken.
Am 17. April 1975 marschierten die Roten Khmer in der Hauptstadt Phnom Penh ein. In der mörderischen Logik der neuen Machthaber wurde die Bevölkerung in zwei Lager unterteilt, in das "Neue" und das "Alte" Volk, wobei das Neue mitleidlos zu vernichten war. Die Neuen, das waren alle, die studiert hatten, die gebildet waren, Lehrer, Ärzte, das gesamte Bürgertum. Von einem Tag auf den anderen reichte es aus, eine Brille zu tragen, um augenblicklich ermordet zu werden. Phnom Penh wurde innerhalb von Tagen nahezu komplett entvölkert, die Bewohner in Gewaltmärschen aufs Land verbracht, wo sie fortan unter unmenschlichen Bedingungen Sklavenarbeit im Ackerbau oder Kanalbau oder Ähnlichem leisten mussten. Innerhalb von weniger als vier Jahren - so lange dauerte die Gewaltherrschaft der Roten Khmer - ließ fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung ihr Leben: 1,7 Millionen Menschen starben, wurden zumeist erschlagen, und/oder es wurde ihnen mit Messern die Kehle aufgeschlitzt, bevor sie in einem der über 20000 Massengräber verscharrt wurden, die über das Land verteilt waren, den sogenannten Killing Fields. Viele starben auch an Hunger oder an Krankheiten, die wegen der Zerstörung des Ärztestandes nicht mehr behandelt werden konnten. Es ist eines der düstersten der vielen düsteren Kapitel des 20. Jahrhunderts, und dass es sich in Südostasien ereignete, heißt eben nicht, dass es uns nichts angehen würde.
Daran erinnert nun ein beeindruckendes Buch. Geschrieben hat es der gebürtige Kambodschaner Rithy Panh, selbst ein Überlebender dieser Zeit. Er war 13 Jahre alt, als die Roten Khmer die Macht übernahmen, nahezu seine gesamte Familie, die zum Bürgertum gerechnet wurde, starb. Später ging er nach Frankreich und wurde Regisseur. In seinen Filmen hat er sich schon öfter mit jenem mörderischen Kapitel der Geschichte seines Landes beschäftigt - seine Dokumentation "S21 - Die Todesmaschine der Roten Khmer" etwa wurde 2004 in Cannes gezeigt. Nun hat er auch darüber geschrieben: "Auslöschung - Ein Überlebender der Roten Khmer berichtet" heißt sein Buch.
Es basiert auf Interviews, die er mit einem der Hauptverantwortlichen für den Völkermord geführt hat: Mit Kaing Guek Eav, genannt Duch, der als ehemaliger Leiter des Gefängnisses S21 für den Tod von mindestens 12000 Menschen verantwortlich ist, wahrscheinlich waren es viel mehr. Das S21 war ein Gefängnis, in dem jeder Gefangene unter Folter zu dem Geständnis gezwungen wurde, für einen ausländischen Geheimdienst zu arbeiten - worauf die Hinrichtung stand. Es befand sich in einem ehemaligen Schulgebäude und kann heute als Gedenkstätte besichtigt werden: ein helles Gebäude mit braunweiß gewürfelten Fliesen und einem mit Palmen bewachsenen Garten, über dem eine bedrückende Atmosphäre liegt. Hier herrschte Duch von 1976 bis 1979 über Leben und Tod. Zahlreiche Unterlagen sind erhalten, in denen er handschriftlich über die Behandlung der Insassen verfügte: "vernichten", "in Verwahrung behalten", "könnt ihr liquidieren"; er schien jeden einzelnen Fall zu kennen.
2009 wurde Duch der Prozess gemacht. Er wurde zunächst zu 35 Jahren Haft verurteilt, eine Strafe, die vor einem Jahr auf Lebenslänglich erhöht wurde. Er ist heute 70 Jahre alt. Rithy Panh hat alle Interviews, die er mit ihm führte, gefilmt, getrieben von dem Bedürfnis, der Notwendigkeit, zu verstehen: Wie konnte jemand, der Mathematik studiert und als Lehrer gearbeitet hatte, zu einem Massenmörder werden? Fühlt dieser Mensch heute Reue? Übernimmt er Verantwortung für das, was er getan oder zu tun angeordnet hat?
Im Buch schneidet Panh, der aus seinem Material bereits einen Film gemacht hat, seine Treffen mit Duch mit seinen persönlichen Erlebnissen zu Zeiten der Roten Khmer gegen und schiebt immer wieder Absätze mit Gedanken ein. In der Theorie hat er sich viel mit Völkermord befasst - zitiert Hannah Arendt und Primo Levi, bezieht sich auf Gitta Sereny und ihre Interviews mit Franz Stangl, dem Lagerkommandanten von Sobibor und Treblinka; in der Liste der Sekundärliteratur findet sich auch Harald Welzers aufschlussreiches Buch "Täter - Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden". Doch ihn interessieren am Massenmord vor allem zwei Aspekte: Menschen haben das getan. Und sie haben es so getan.
Immer wieder kommt er dabei auf Sprache zu sprechen. Nach der Machtergreifung der Roten Khmer wurden einige Wörter, die sexuell oder bürgerlich konnotiert waren, wie etwa "Frau" oder "Ehemann", in Kambodscha verboten. Menschen, die dem "Neuen Volk" zugerechnet wurden, hießen nunmehr "Feind" und konnten, dergestalt entmenschlicht, "vernichtet" werden, selbst Kinder, die nun "Feindkinder" hießen und getötet wurden, indem man sie an Bäumen zerschmetterte. Das ganze Land bekam einen neuen Namen: Demokratisches Kampuchea. Und die allwissende Organisation Angkar (Khmer für: Organisation), die angeblich über allem herrschte, alles wusste und sah, war in Wahrheit nicht mehr als: ein Wort. Eine perfide Erfindung, die zur Einschüchterung und Unterdrückung eines ganzen Volkes diente. (Pol Pot, der Mann, der an der Spitze der Roten Khmer stand, gab vor, auch selbst nur der Angkar zu dienen.)
"Meine Waffe ist die Sprache", erklärte Duch Rithy Panh. Dessen Buch kann als Kampf zweier Männer gelesen werden, als Ringen des Autors mit seinem Gegenüber, die Wahrheit zu sagen, sie auszusprechen, zuzugeben, in Worte zu fassen, was tatsächlich geschehen ist.
Doch Panh gleitet ab an seinem Gegner, der nicht gewillt ist, seinem Interviewer zu geben, wonach dieser sich so sehnt, dass er an einer Stelle schreibt, für ein paar Worte von Duch hätte er sogar auf seinen Film verzichtet (und damit vermutlich auch auf sein Buch). Hin und wieder gibt Duch einiges zu, stellt sich aber im Großen und Ganzen selbst als Opfer dar, als "Geisel des Regimes". Vor Gericht log er unter Eid.
Sein eigenes Schicksal erzählt Panh in einfachen, klaren Worten. Es wirkt, als versuche er, seinen persönlichen Schmerz durch eine möglichst nüchterne Sprache auf Distanz zu halten. Er sah seinen Vater, seine kleine Nichte und seinen Neffen an Hunger sterben, verlor Mutter und Geschwister, kam selbst nur durch ungeheures Glück mit dem Leben davon. Bis heute leidet er an Schlaflosigkeit und Albträumen; seine gesamte Arbeit als Filmemacher und nun auch Autor kann als Versuch gesehen werden, das Erlebte zu bewältigen.
Was sein Buch vor allem auszeichnet, ist Menschlichkeit. Mit aller Macht stemmt sich Panh dagegen, jenen Duch, einen der Hauptverantwortlichen für die Verbrechen der Roten Khmer, zu einem Ungeheuer oder Monster zu stilisieren. Er spricht sich entschieden gegen die heutzutage gerne vorgebrachte These aus, jeder (oder fast) sei ein potentieller Täter, Mörder oder Henker; uns alle trenne nur ein kleiner Schritt davon, auf der anderen, der bösen Seite zu stehen. "Ich will nicht leugnen", schreibt Panh, "dass manche Henker ganz gewöhnliche Männer sein mögen oder dass ein gewöhnlicher Mann ein Henker werden kann. Aber ich glaube an das Individuum und seine Einmaligkeit." Duch, schreibt er, sei weder Teufel noch Gott: "Aber dass er ein Mensch ist, ganz und gar ein Mensch, nimmt ihm nichts von seiner Einzigartigkeit. Im Gegenteil. Er ist dieser Mensch, der kein anderer sein kann - und der ein anderer nicht sein kann."
Duch, schreibt er, sei "ein Mann, der denkt". Und wäre dieser Mann mutig genug gewesen, sich der Wahrheit zu stellen, hätte er sich, so Panh, auf die anderen Menschen zubewegen können, die sich ihm, soweit es zumindest seinen Interviewer angeht, bis auf Armeslänge genähert hatten. "Die Wahrheit sagen, dann sterben, heißt sich auf die Menschen zuzubewegen", schreibt Panh. Doch Duch verweigert die Annäherung.
"Auslöschung" handelt vom Menschsein. Massenmord ist universell. "Ob wir wollen oder nicht, die Geschichte Kambodschas ist die unsere", schreibt Panh.
Für diejenigen, die die drei Jahre, acht Monate und zwanzig Tage andauernde Terrorherrschaft der Roten Khmer nicht überlebten, gibt es keine Gräber. Ihre Totenschädel sind in einigen der Killing Fields, die heute von Touristen besichtigt werden können, zu Haufen aufgetürmt. Doch es gebe ein anderes Grabmal, schreibt Panh: "Die Arbeit des Nachforschens, Verstehens, des Erklärens, die keineswegs eine traurige Leidenschaft ist: Sie kämpft gegen die Auslöschung. Natürlich werden bei dieser Arbeit die Toten nicht exhumiert. Wird keine Erde oder Asche durchwühlt. Natürlich erquickt uns diese Arbeit nicht. Besänftigt uns nicht. Aber sie gibt uns die Menschlichkeit, die Intelligenz, die Geschichte zurück. Manchmal auch die Würde. Sie macht uns lebendig."
JOHANNA ADORJÁN
Rithy Panh: "Auslöschung - Ein Überlebender der Roten Khmer berichtet". Mit Christophe Bataille. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Erscheint am Freitag bei Hoffmann und Campe. 240 Seiten, 19,99 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Schwer zu sagen, was sich die FAZ davon versprochen hat, Joscha Schmierer zwei Bücher über die Terrorherrschaft der Roten Khmer besprechen zu lassen. Der einstige Chef des KBW hatte noch 1980 Pol Pot zu seinem erfolgreichen Kampf gegen den amerikanischen und sowjetischen Imperialismus gratuliert und sich von seinen damaligen Positionen nie öffentlich distanziert. Und auch in dieser Rezension sucht man Reflektion vergeblich, obwohl sich gerade Peter Fröberg Idling in "Pol Pots Lächeln" mit einem Besuch schwedischer Khmer-Sympathisanten auseinandersetzt, die den Terror damals nicht gesehen haben wollen. Rithy Panh dagegen berichtet als Augenzeuge von den Schrecken, die er im Foltergefängnis S 21 erlebt und erlitten hat. Schmierer empfiehlt beide Bücher, vor allem Fröberg Idlings Buch als Reflexion über die Begrenztheit des Augenscheins, die aber nicht in den Relativismus führen müsse, und belässt es am Ende bei recht trockenen Bemerkungen über seine eigene Verblendung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Wer wirklich wissen will, wie die Kambodschaner unter der Herrschaft Pol Pots leben oder vielmehr vegetierten, der sollte die Autobiografie des Regisseurs Rithy Pahns lesen.« Sibylle Peine Braunschweiger Zeitung, 04.05.2013