Man könnte ihn die Welt hinter Lampedusa nennen: den Krisengürtel, der sich von Kaschmir über Pakistan, Afghanistan und Iran bis in die Arabische Welt und bis an die Grenzen und Küsten Europas erstreckt. Von dieser Region berichtet Navid Kermani, von unserer unmittelbaren Nachbarschaft, so fern sie unserem medialen Bewusstsein auch erscheint. Wie von Zauberhand gelingt es ihm dabei, einzelne Schicksale und Situationen so lebendig werden zu lassen, dass schlagartig weltpolitische, ja existentielle Problemlagen deutlich werden, die uns unmittelbar berühren. Nicht erst hinter Lampedusa beginnt unsere Welt.
Navid Kermani hat die Orte besucht, an denen keine Übertragungswagen von CNN stehen und dennoch hoch gefährliche Schwelbrände den Weltfrieden bedrohen. In seiner oft gerühmten, wundersam beweglichen und behutsamen Prosa berichtet er von den Kriegen der NATO und den Schattenseiten der Globalisierung in Indien, vom Aufstand in Syrien und der prekären Lage in Palästina. Er war als einziger westlicher Reporter bei der Niederschlagung der Massenproteste in Teheran dabei und hat die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer beobachtet. Seine mitreißenden Reportagen lassen uns eine Welt im Aufruhr verstehen, lassen uns mitfiebern, mitleiden, aber auch den Alltag und das scheinbar Nebensächliche sehen.
Navid Kermani hat die Orte besucht, an denen keine Übertragungswagen von CNN stehen und dennoch hoch gefährliche Schwelbrände den Weltfrieden bedrohen. In seiner oft gerühmten, wundersam beweglichen und behutsamen Prosa berichtet er von den Kriegen der NATO und den Schattenseiten der Globalisierung in Indien, vom Aufstand in Syrien und der prekären Lage in Palästina. Er war als einziger westlicher Reporter bei der Niederschlagung der Massenproteste in Teheran dabei und hat die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer beobachtet. Seine mitreißenden Reportagen lassen uns eine Welt im Aufruhr verstehen, lassen uns mitfiebern, mitleiden, aber auch den Alltag und das scheinbar Nebensächliche sehen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zwei Dinge stören den Rezensenten an den nun als Buch vorliegenden Zeitungsreportagen Navid Kermanis aus den Krisengebieten der Welt, aus Afghanistan, Syrien, Kaschmir etc. Zum einen fügen sich die Texte nicht zu einem Ganzen, so lesenswert und mitreißend Kermanis Berichte für Christoph Erhardt auch sind. Zum anderen leiden sie unter dem Verfallsdatum aller aktuellen Reportagen. Die beim Rezensenten auftauchende Frage, wie die Situation jeweils derzeit ist, ob sich die schlaglichtartig vom Autor beleuchteten Konflikte gelöst oder verschärft haben, kann der Band nicht beantworten. Besonders erhellend scheinen ihm die Texte immer dann, wenn Kermani seine Beobachtungen nicht kommentiert, sondern für sich sprechen lässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Zeitgebundene Momentaufnahmen: Navid Kermanis gesammelte Reportagen aus den Krisengebieten dieser Welt
Da ist zum Beispiel diese Episode mit dem Fahrradfahrer, der zwischen den Ruinen von Homs herumfährt. Männer des syrischen Regimes winken ihn herbei und fordern ihn auf, seine Geschichte zu erzählen. Aber der Mann sieht nur hinüber zu den zerstörten Häusern und sagt: Wer lesen kann, der lese, denn das alles spreche doch für sich selbst. Der Mann hat keine Chance, die wahre Geschichte zu erzählen, das weiß auch Navid Kermani, der in seiner Reportage "Eingang zur Hölle" von ihm erzählt. Zum Glück kann Kermani lesen.
In diesem Text, der im September 2012 spielt, in kürzerer Form schon als Zeitungsartikel erschienen ist und nun mit einer Reihe von anderen Reportagen aus Krisengebieten in einem kleinen Sammelband vorliegt, gelingt es Kermani, seine Beobachtungen im syrischen Bürgerkrieg für sich selbst sprechen zu lassen: Wenn er von dem Fahrradfahrer erzählt, der weiß, dass er in der Nähe syrischer Soldaten nicht die Wahrheit sagen darf, wird die Propagandamaschine des Regimes entlarvt. Wenn er in derselben Reportage von der Intensivstation einer gynäkologischen Praxis berichtet, die offenbar von Schergen des Machthabers Baschar al Assads überfallen wurde, wird die Brutalität des Regimes auf bedrückende Weise spürbar. "An drei der Rückenlehnen, genau in Höhe der Köpfe, befinden sich die Einschusslöcher von zahlreichen Kugeln, die durch das Bettgestell gingen und in der Wand steckengeblieben sind, sowohl von Pistolen als auch von Gewehren, Kalaschnikows, um genau zu sein. Unter den Betten, ebenfalls in Kopfhöhe, sind die Blutlachen getrocknet."
In Zeiten, in denen sich die syrischen Bürgerkriegsparteien immer stärker entlang religiöser, konfessioneller Linien radikalisieren, ist es erhellend - wie es der Autor tut -, deutlich zu machen, dass die Rebellion gegen Assad kein Glaubenskrieg der Sunniten gegen die Alawiten ist, sondern auch ein Aufstand der benachteiligten ärmeren Bevölkerung in der Provinz und an den Rändern der Hauptstadt. Kermani beschreibt, wie das Assad-Regime systematisch den Hass schürt, um seine Feinde zu radikalisieren, weil es ihm nutzt, Furcht vor den Rebellen zu erzeugen. Jemand, der viel Zeitung liest, mag einige Fakten oder Analysen schon kennen. Doch die Beobachtungen, die Kermani in fesselnde Sprache fasst, sagen bisweilen mehr als mancher Leitartikel.
Navid Kermani führt seine Leser auch zu den Sufis in Pakistan, wo er viel über die Talibanisierung der Gesellschaft, deren Doppelmoral, Zerrissenheit, aber auch ihre kulturelle Vielfältigkeit erfährt. Er führt ins Afghanistan von 2006, wo in der Wiederaufbau-GmbH schon Katerstimmung herrschte und die ernüchterten Afghanen das Gefühl hatten, all die Millionen an Hilfsgeldern würden vor allem in die großen Flotten gepanzerter Geländewagen für die Ausländer investiert. Er führt ins Afghanistan von 2011, wo Unsicherheit und Misstrauen weiter zugenommen haben. Kermani nimmt den Leser mit in die tränengasverhangenen Straßen Teherans von 2009, wo die "Grüne Bewegung" vom Repressionsapparat des unerbittlichen Regimes unter Revolutionsführer Ali Chamenei niedergeknüppelt wurde. Es geht nach Kaschmir (2007), in den indischen Bundesstaat Gujarat (2007), in die palästinensischen Gebiete (2005) und die Flüchtlingslager auf Lampedusa (2008).
Das sind viele unterschiedliche Stationen - und darin steckt eine Schwäche des Buches. Jeder Reisebericht ist für sich lesenswert und mitreißend (am wenigsten gilt das für jenen zum palästinensisch-israelischen Konflikt, in dem Kermani ausdrücklich mehr Kommentator als Reporter ist). Doch wollen sich die Reportagen nicht zu einer kohärenten Sammlung fügen. Das spricht ein Stück weit schon aus dem weit ausgreifenden Untertitel "Reisen in eine beunruhigte Welt".
Reportagen sind Momentaufnahmen, die veralten. So zeigen die Berichte Kermanis aus Iran, wie erdrückend die Macht des dortigen Regimes war und noch immer ist. Und doch fragt man sich fast automatisch: Wie ist es jetzt in dem Land, in dem - vier Jahre später - ein neuer Präsident gewählt wird, Chamenei seine Macht zwar gefestigt hat, es aber weiter gärt? Kermani wirft Schlaglichter auf einzelne Konflikte, leuchtet sie auch in der Tiefe aus und verschafft interessante Einblicke. Doch viele Zusammenhänge bleiben im Dunkeln, wie auch die Entwicklungen, die Navid Kermani, als er seine Reisen unternahm, noch nicht kennen konnte, die der Leser seines Buches aber gern noch erführe.
CHRISTOPH EHRHARDT
Navid Kermani: "Ausnahmezustand". Reisen in eine beunruhigte Welt.
Verlag C. H. Beck, München 2013. 253 S., geb., 19,95 [Euro].
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