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  • Buch mit Leinen-Einband

Produktdetails
  • Verlag: DVA
  • Seitenzahl: 952
  • Abmessung: 235mm
  • Gewicht: 1596g
  • ISBN-13: 9783421050939
  • Artikelnr.: 24795569
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.04.1999

Öffentlicher Vorgang
Eine weitere Geschichte der außenpolitischen Aspekte der Wiedervereinigung

Werner Weidenfeld mit Peter M. Wagner und Elke Bruck: Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90. (Geschichte der deutschen Einheit, Band 4.) Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998. 952 Seiten, 16 Seiten Bildteil, 128,- Mark.

Der Fall der Mauer und die Vereinigung Deutschlands gehören zu jenen revolutionären Vorkommnissen der Weltgeschichte, die das nicht vorbereitete Publikum beinahe sprachlos verfolgt. Weil aber der Erfolg bekanntlich viele Väter hat und weil die dramatischen Vorgänge von 1989/90 der Erklärung bedurften, zu der sich nach anfänglicher Zurückhaltung viele berufen fühlten, gibt es heute, insbesondere im deutschsprachigen Raum, eine kaum übersehbare Fülle einschlägiger Literatur zum Thema. Noch eine Aufbereitung erscheint allenfalls sinnvoll, wenn sie sich - gut geschrieben, in knapper Form und im Lichte der historischen Entwicklung - an ein breites Publikum wendet oder wenn bis dahin nicht bekannte Quellen zur Verfügung stehen.

Diesen Anspruch erhebt eine Gruppe von Politikwissenschaftlern, deren "Geschichte der deutschen Einheit" jetzt abgeschlossen wurde. In vier Bänden und auf rund 3000 Seiten werden die Entwicklung zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 sowie ein bestimmter Ausschnitt aus ihrer Vorgeschichte entfaltet: Der einführende Band, in dem sich Karl-Rudolf Korte mit der Deutschlandpolitik der Bundesregierung seit dem Wechsel des Oktobers 1982 befaßt, will sich konzeptionell nicht so recht in das Gesamtwerk fügen, ist aber zum Verständnis der Folgebände unverzichtbar, weil er sorgfältig und kenntnisreich die Funktionsweise des "Systems Kohl" enthüllt und damit den Blick auf jene Entscheidungs- und Handlungsmuster freigibt, ohne welche die deutsche Politik der Jahre 1989/90 unverständlich bleiben muß.

Den Autoren des abschließenden vierten Bandes - Werner Weidenfeld, Peter M. Wagner und Elke Bruck - fiel eine undankbare Aufgabe zu. Einmal haben Dieter Grosser und Wolfgang Jäger in den Bänden zwei und drei mit dem Weg zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion sowie dem innerdeutschen Prozeß der Vereinigung einige der wichtigesten Etappen detailliert rekonstruiert; zudem ist gerade die Außenpolitik der Jahre 1989/90, die im Zentrum der Darstellung Weidenfelds und seiner Mitautoren steht, wie kein zweites Thema publizistisch behandelt worden: Man denke nur an die grundlegende Darstellung von Zelikow und Rice. Vor allem aber wurde fast zugleich mit der "Geschichte der deutschen Einheit" im Rahmen der "Dokumente zur Deutschlandpolitik" eine Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes für die Jahre 1989/90 publiziert. Dort sind auf knapp 1700 Seiten ebenjene Dokumente im Wortlaut zu studieren, welche die eigentliche Quellensubstanz des vierbändigen Werkes ausmachen.

Allerdings haben dessen Autoren ergänzend eine Fülle von Interviews und Hintergrundgesprächen mit Persönlichkeiten des In- und Auslandes geführt, die in irgendeiner Form an den Vorgängen beteiligt waren. Allein Weidenfeld und seine Mitautoren haben mehr als 150 Interviews mit 66 Gesprächspartnern hinter sich gebracht, darunter eine Dutzend mit Altkanzler Kohl. Wie Weidenfeld, Wagner und Bruck dabei das Problem der "drohenden Verklärung und Legendenbildung", die sie nicht ohne Grund in der einschlägigen Memoiren-Literatur ausgemacht haben, ihrerseits methodisch in den Griff bekommen und lösen, ist allerdings für den Leser nicht erkennbar.

Akribisch analysieren die Autoren die sich mitunter überschlagenden Vorgänge zwischen dem 30. Oktober 1989 und dem 9. November 1989. Weil das Ganze Tag für Tag, mitunter Stunde für Stunde rekonstruiert und seziert wird, erschließt sich dem Leser die enorme Komplexität des Gesamtvorgangs. Führt man sich heute, im Abstand von fast einem Jahrzehnt, noch einmal die Reibungsverluste vor Augen, die durch die anfänglichen Widerstände auf britischer, französischer und sowjetischer Seite, aber auch dadurch entstanden sind, daß Kanzleramt und Auswärtiges Amt mitunter nicht an einem Strang zogen, dann sind das Ergebnis und das Tempo, mit dem es erreicht werden konnte, beeindruckend.

Weidenfeld und seine Mitautoren nennen die Gründe: Von entscheidender Bedeutung war die Entwicklung in der Sowjetunion, namentlich die Entscheidung Gorbatschows, anders als im Juni 1953 nicht mit militärischen Mitteln in der DDR zu intervenieren, von einem bestimmten Zeitpunkt an den Weg hin zu einer Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten nicht weiter zu blockieren und schließlich sogar einer Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands in der Nato zuzustimmen. Ob Gorbatschow noch über andere Optionen verfügte, lassen die Autoren dahingestellt.

Hingegen ist im einzelnen nachzulesen, welche entscheidende Rolle Kanzler Kohl und die Beratergruppe um Horst Teltschick dabei gespielt haben. Allerdings hätte diese Politik, und auch daran lassen die Autoren keinen Zweifel, kaum eine Aussicht auf Erfolg gehabt, hätte die Bundesregierung Gorbatschows Zugeständnisse nicht durch beträchtliche Konzessionen, insbesondere finanzieller Natur, erleichtert und hätte sie sich nicht von Anfang an der amerikanischen Zustimmung und Rückendeckung sicher gewußt.

Das alles noch einmal im Zusammenhang und zugleich im Detail nachlesen zu können ist vor allem für denjenigen von Interesse, der nach Nuancen sucht. So stellen die Autoren zum Beispiel recht anschaulich dar, warum und wie das Kanzleramt gelegentlich das zuständige Außenministerium "umging", oder deuten an, daß auch Kanzler Kohl, bis zu seinen Gesprächen in Camp David am 24. und 25. Februar 1990, in der Frage der Nato-Zugehörigkeit des vereinigten Deutschlands zögernder gewesen ist, als man das hierzulande, jedenfalls bis zum Erscheinen des erwähnten Buches von Zelikow und Rice, angenommen haben mag.

Insgesamt bestätigt die vierbändige "Geschichte der deutschen Einheit" und insbesondere die abschließende Darstellung Werner Weidenfelds und seiner Mitautoren, wie zuverlässig und umfassend der interessierte Zeitgenosse in der Mediengesellschaft selbst über hochvertrauliche Vorgänge und Ereignisse informiert sein kann. Der Drang der politischen Akteure in die Öffentlichkeit ist eben unaufhaltsam. Für den Historiker hat das Konsequenzen: Vor allem muß er die mediale Präsentation von Politik ungleich aufmerksamer verfolgen, als das in voraufgegangenen Epochen der Fall gewesen ist. Entsprechend nimmt die Chance ab, in der Masse des unveröffentlichten Materials wirklich Neues zu entdecken.

So gesehen, relativieren sich die Vorwürfe, die vor Erscheinen sowohl des Geschichtswerkes als auch der konkurrierenden Aktenedition des Bundeskanzleramtes erhoben worden sind: Gewiß, die Entscheidung, sich über die international übliche dreißigjährige Sperrfrist für Regierungsakten hinwegzusetzen und im Vorfeld der Bundestagswahlen an die Öffentlichkeit zu gehen, war nicht unproblematisch. Doch wäre dieser Schritt kaum getan worden, hätten die Publikationen Unerwartetes zutage fördern können. Der informative Bericht Werner Weidenfelds und seiner Mitautoren bestätigt das eindrucksvoll.

GREGOR SCHÖLLGEN

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