In seinem Buch über die Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Kanzleramt beschreibt Helmut Schmidt die umwälzenden historischen Entwicklungen seit dem Ende des Kalten Kriegs, er macht sich Gedanken über die gegenwärtige Politik und die Zukunft Deutschlands, und er spricht über sehr Persönliches: über prägende Kriegserfahrungen, über eigene Fehler und Versäumnisse, seinen Glauben und das Lebensende.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.10.2008Agenda 2008
Der bald 90-jährige Helmut Schmidt legt ein Kursbuch für die deutsche Politik vor Von Thomas Speckmann
Man könnte an dieser Stelle das Manko politischer Bücher demonstrieren: Wie schnell sie veralten. Denn selbst Helmut Schmidt kann nicht in die Zukunft sehen und diese in seine Analyse aktueller Geschehnisse einbeziehen. So fehlt beispielsweise der Georgien-Krieg in seinem neuesten Buch, das der Altkanzler im Juli abgeschlossen hat. Daher dürfte Schmidt Aussagen wie die, dass von Russland seit dem Ende der Sowjetunion keine Gefahr mehr ausgeht, und dass das heutige Russland friedlicher und weniger imperialistisch erscheint als jemals in seiner Geschichte, seit August sicherlich relativieren. Was also bleibt? Schmidt versucht nicht weniger, als Deutschland, Europa und dem Westen insgesamt eine Agenda für die nächsten Jahre zu setzen. Und das gelingt ihm – seinem Naturell entsprechend – wieder einmal in schonungslos offener Weise, wie es wohl nur jemand tun kann, der sich selbst „außer Dienst” sieht, in Wirklichkeit aber das nie sein wird.
Deutschland misst Schmidt in der Weltwirtschaft ein viel größeres Gewicht bei als jemals zu Zeiten der Weimarer Republik und als jemals während der vier Jahrzehnte der deutschen Teilung. Er warnt allerdings davor, dieses Gewicht in seiner politischen Bedeutung zu überschätzen. Wie bereits in seinen letzten Veröffentlichungen spricht er sich vehement gegen einen ständigen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aus: „Unser Land hat keine äußerlichen Rangabzeichen nötig.”
Das Gebot zur Zurückhaltung gilt für Schmidt besonders für den Nahen und Mittleren Osten. Zwar lobt er Gerhard Schröders Haltung in der Irakkriegsdebatte, rügt aber zugleich die 2003 „von unserer Diplomatie im Rahmen der UN betriebenen antiamerikanischen Aktivitäten”, da sie niemandem genützt, sondern vielmehr „unser wichtiges Verhältnis zur Supermacht Amerika” unnötig belastet hätten: „Hier hat Geltungsbedürfnis eine unangemessene Rolle gespielt.”
Im Fall Afghanistan ist für Schmidt „von vornherein” zu erkennen gewesen, dass eine erfolgreiche und dauerhafte Ausschaltung der Terroristen sehr fraglich sein würde. Daher hegt Schmidt große Zweifel hinsichtlich der Zweckmäßigkeit der deutschen Beteiligung. „Und diese Zweifel sind inzwischen noch größer geworden.”
Schmidt mahnt, darauf zu achten, dass der an vielen Orten auftretende islamistische Terrorismus nicht als typisches oder als inhärentes Element des Islam missdeutet wird. Es habe auch in der langen Geschichte des Christentums immer wieder Kriegsverbrechen und Terrorismus gegeben. Gleichwohl halte niemand etwa die Folterungen durch die Inquisition oder die Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen für typische Kennzeichen des Christentums. Schmidt weist dabei auf eine historische Tatsache hin, an die das Kurzzeitgedächtnis der heutigen Mediengesellschaft nicht oft genug erinnert werden kann: Hinterhältige Attentate, Morde und Geiselnahmen ziehen sich durch die gesamte Geschichte der Menschheit, unabhängig von der Religion. Und vor allem: Seit der Aufklärung hat man zu ihrer Verfolgung und Verurteilung den Rechtsstaat, Polizei und Strafgerichte. Wer hingegen ohne Not militärische Streitkräfte zu bewaffnetem Kampf gegen islamistische Terroristen einsetzt, kann dadurch Wut, Erbitterung und zusätzlichen Terrorismus provozieren. Schmidts Fazit: Der Westen kann auch im 21. Jahrhundert nicht jeglichen Terrorismus ausrotten. Er muss ihn mit politischen Mitteln zurückdrängen.
Was die Frage der Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union anbelangt, legt Schmidt den Finger mitten in die Wunde: Heute hat die EU 27 Mitgliedsstaaten. Und auf mehr als siebzig Sachgebieten gilt ausdrücklich das Prinzip der Einstimmigkeit. Das hat neben einer tiefgreifenden Handlungsunfähigkeit eine weitere fatale Konsequenz: Sowohl die Kommission als auch die Ministerräte der Union konzentrieren ihre Aktivitäten auf eher zweitrangige oder sogar unwichtige Nebengebiete, was eine unüberschaubare Flut von bürokratischen Detailregelungen zur Folge hat.
Entwarnung gibt Schmidt hingegen in Sachen Lissabon-Vertrag: Wenn dieser scheitern sollte, wäre das ein Unglück, aber es würde nicht notwendig zum Zerfall der EU führen. Wahrscheinlich würde sich im Laufe von Jahren ein innerer Kern von Staaten herausbilden, die sich zu einer weitergehenden Kooperation entschließen, als dies innerhalb der Gesamtheit der Mitgliedsstaaten möglich ist. Auch bei allseitiger Ratifizierung des Lissaboner Vertrages könne dessen Unzulänglichkeit zur Bildung eines handlungsfähigen inneren Kerns führen. Schmidt hofft, dass Deutschland in einem solchen Fall dazu gehören will. Schließlich sei es nicht nur wegen seiner jüngeren Geschichte, sondern auch wegen seiner Lage im Zentrum des Kontinents auf die Integration Europas stärker angewiesen als die meisten anderen europäischen Staaten.
Zwar bezweifelt Schmidt, ob die Europäische Union jemals eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zustande bekommt, da auch der 2007 paraphierte Vertrag von Lissabon keine Gemeinsamkeit des Handelns erzwingen kann. Auf lange Zeit sieht Schmidt die EU nicht als Weltmacht. Aber die wirtschaftliche Union der Europäer wird nach seiner Analyse von Dauer sein und in der Weltwirtschaft großes Gewicht haben, ebenso der Euro.
Dieses Gewicht ist es auch, das Schmidt zur Lösung der internationalen Finanzmarktkrise in die Waagschale werfen will. Das informelle Zusammenspiel der wichtigsten Zentralbanken kann nach seinem Urteil die Haushalts- und Wirtschaftspolitiken der Staaten nicht koordinieren. Deshalb plädiert er für eine europäische Initiative: Der Weltwährungsfonds soll ein transnationales System zur Transparenz und Überwachung der globalen Finanzmärkte, aller ihrer Beteiligten und aller von ihnen in Verkehr gebrachten Finanzinstrumente entwickeln. Schließlich seien im internationalen Finanz- und Kapitalverkehr Verkehrsregeln und Verkehrssicherheit mindestens genauso notwendig wie im See- und Luftverkehr.
Bei der Lektüre dieser ja gerade besonders aktuell gewordenen Empfehlungen fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, wie Schmidt mit einem Journalisten erst eine Partie Schach spielt, um dann eine umfängliche politische Tour d’Horizon folgen zu lassen. Hans-Joachim Noack, ab 1968 Reporter der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Rundschau, schließlich bis 2005 Politikressortleiter des Spiegel, ist ein solcher Journalist. Er saß mit Schmidt im Herbst 1980 während des Wahlkampfs gegen Franz Josef Strauß im Sonderzug oder bei längeren Überseeflügen zusammen. Aus diesen gelegentlichen Treffen entstand bei Noack auch ein persönliches Interesse an der Person Schmidt, der ihm für seine Biographie das Privatarchiv öffnete.
Das Ergebnis ist eine Lebensbeschreibung, die überaus einfühlsam und distanziert zugleich erscheint und damit das Wesen ihres Gegenstandes selbst erfasst. Noack schildert Leben und Werk eines Vollblutpolitikers, der sich nicht als Parteipolitiker versteht: „Ich sah mich nie als einen Kanzler der SPD.” Das dürfte nach Noack auch die anhaltende Popularität des bald 90-jährigen Helmut Schmidt erklären: Keiner seiner Vorgänger wie Nachfolger wurde so sehr von Wählern favorisiert, die zu den jeweils regierenden Farben in Opposition standen, wie der eigenwillige „Sozi” aus Hamburg. Der wiederum achtete sorgsam darauf, das Genossen-Kürzel auf die ihm genehme Art zu übersetzen: Sozialdemokrat zu sein, hieß für ihn nicht, „irgendwelchen ideologisch überhöhten Spinnereien” anzuhängen, sondern sich als „sozialer Demokrat” zu bewähren. Oder wie es der ARD-Journalist Martin Rupps bereits 2002 in seiner (jetzt wieder aufgelegten) Schmidt-Biographie ausgedrückt hat: Der Altkanzler avancierte schon bald nach seiner Abwahl „zu einer Art heimlichem Bundespräsidenten.” Schließlich steht der Hanseat wie nur wenige andere für die häufig beschworene „Mitte” der Gesellschaft. Sie in der Person Schmidt porträtiert zu haben, ist das große Verdienst Noacks. Sein Buch wird daher auch in vielen Jahren nicht veraltet erscheinen.
Helmut Schmidt
Außer Dienst. Eine Bilanz
Siedler Verlag, München 2008. 350 Seiten, 22,95 Euro.
Hans-Joachim Noack
Helmut Schmidt. Die Biographie
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2008. 319 Seiten, 19,90 Euro.
„Unser Land hat keine Rangabzeichen nötig”
Helmut Schmidts Fazit: Morde und Geiselnahmen ziehen sich durch die gesamte Geschichte. Der Westen kann auch im 21. Jahrhundert nicht jeglichen Terrorismus ausrotten. Er muss ihn mit politischen Mitteln zurückdrängen. Foto: ddp
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Der bald 90-jährige Helmut Schmidt legt ein Kursbuch für die deutsche Politik vor Von Thomas Speckmann
Man könnte an dieser Stelle das Manko politischer Bücher demonstrieren: Wie schnell sie veralten. Denn selbst Helmut Schmidt kann nicht in die Zukunft sehen und diese in seine Analyse aktueller Geschehnisse einbeziehen. So fehlt beispielsweise der Georgien-Krieg in seinem neuesten Buch, das der Altkanzler im Juli abgeschlossen hat. Daher dürfte Schmidt Aussagen wie die, dass von Russland seit dem Ende der Sowjetunion keine Gefahr mehr ausgeht, und dass das heutige Russland friedlicher und weniger imperialistisch erscheint als jemals in seiner Geschichte, seit August sicherlich relativieren. Was also bleibt? Schmidt versucht nicht weniger, als Deutschland, Europa und dem Westen insgesamt eine Agenda für die nächsten Jahre zu setzen. Und das gelingt ihm – seinem Naturell entsprechend – wieder einmal in schonungslos offener Weise, wie es wohl nur jemand tun kann, der sich selbst „außer Dienst” sieht, in Wirklichkeit aber das nie sein wird.
Deutschland misst Schmidt in der Weltwirtschaft ein viel größeres Gewicht bei als jemals zu Zeiten der Weimarer Republik und als jemals während der vier Jahrzehnte der deutschen Teilung. Er warnt allerdings davor, dieses Gewicht in seiner politischen Bedeutung zu überschätzen. Wie bereits in seinen letzten Veröffentlichungen spricht er sich vehement gegen einen ständigen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aus: „Unser Land hat keine äußerlichen Rangabzeichen nötig.”
Das Gebot zur Zurückhaltung gilt für Schmidt besonders für den Nahen und Mittleren Osten. Zwar lobt er Gerhard Schröders Haltung in der Irakkriegsdebatte, rügt aber zugleich die 2003 „von unserer Diplomatie im Rahmen der UN betriebenen antiamerikanischen Aktivitäten”, da sie niemandem genützt, sondern vielmehr „unser wichtiges Verhältnis zur Supermacht Amerika” unnötig belastet hätten: „Hier hat Geltungsbedürfnis eine unangemessene Rolle gespielt.”
Im Fall Afghanistan ist für Schmidt „von vornherein” zu erkennen gewesen, dass eine erfolgreiche und dauerhafte Ausschaltung der Terroristen sehr fraglich sein würde. Daher hegt Schmidt große Zweifel hinsichtlich der Zweckmäßigkeit der deutschen Beteiligung. „Und diese Zweifel sind inzwischen noch größer geworden.”
Schmidt mahnt, darauf zu achten, dass der an vielen Orten auftretende islamistische Terrorismus nicht als typisches oder als inhärentes Element des Islam missdeutet wird. Es habe auch in der langen Geschichte des Christentums immer wieder Kriegsverbrechen und Terrorismus gegeben. Gleichwohl halte niemand etwa die Folterungen durch die Inquisition oder die Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen für typische Kennzeichen des Christentums. Schmidt weist dabei auf eine historische Tatsache hin, an die das Kurzzeitgedächtnis der heutigen Mediengesellschaft nicht oft genug erinnert werden kann: Hinterhältige Attentate, Morde und Geiselnahmen ziehen sich durch die gesamte Geschichte der Menschheit, unabhängig von der Religion. Und vor allem: Seit der Aufklärung hat man zu ihrer Verfolgung und Verurteilung den Rechtsstaat, Polizei und Strafgerichte. Wer hingegen ohne Not militärische Streitkräfte zu bewaffnetem Kampf gegen islamistische Terroristen einsetzt, kann dadurch Wut, Erbitterung und zusätzlichen Terrorismus provozieren. Schmidts Fazit: Der Westen kann auch im 21. Jahrhundert nicht jeglichen Terrorismus ausrotten. Er muss ihn mit politischen Mitteln zurückdrängen.
Was die Frage der Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union anbelangt, legt Schmidt den Finger mitten in die Wunde: Heute hat die EU 27 Mitgliedsstaaten. Und auf mehr als siebzig Sachgebieten gilt ausdrücklich das Prinzip der Einstimmigkeit. Das hat neben einer tiefgreifenden Handlungsunfähigkeit eine weitere fatale Konsequenz: Sowohl die Kommission als auch die Ministerräte der Union konzentrieren ihre Aktivitäten auf eher zweitrangige oder sogar unwichtige Nebengebiete, was eine unüberschaubare Flut von bürokratischen Detailregelungen zur Folge hat.
Entwarnung gibt Schmidt hingegen in Sachen Lissabon-Vertrag: Wenn dieser scheitern sollte, wäre das ein Unglück, aber es würde nicht notwendig zum Zerfall der EU führen. Wahrscheinlich würde sich im Laufe von Jahren ein innerer Kern von Staaten herausbilden, die sich zu einer weitergehenden Kooperation entschließen, als dies innerhalb der Gesamtheit der Mitgliedsstaaten möglich ist. Auch bei allseitiger Ratifizierung des Lissaboner Vertrages könne dessen Unzulänglichkeit zur Bildung eines handlungsfähigen inneren Kerns führen. Schmidt hofft, dass Deutschland in einem solchen Fall dazu gehören will. Schließlich sei es nicht nur wegen seiner jüngeren Geschichte, sondern auch wegen seiner Lage im Zentrum des Kontinents auf die Integration Europas stärker angewiesen als die meisten anderen europäischen Staaten.
Zwar bezweifelt Schmidt, ob die Europäische Union jemals eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zustande bekommt, da auch der 2007 paraphierte Vertrag von Lissabon keine Gemeinsamkeit des Handelns erzwingen kann. Auf lange Zeit sieht Schmidt die EU nicht als Weltmacht. Aber die wirtschaftliche Union der Europäer wird nach seiner Analyse von Dauer sein und in der Weltwirtschaft großes Gewicht haben, ebenso der Euro.
Dieses Gewicht ist es auch, das Schmidt zur Lösung der internationalen Finanzmarktkrise in die Waagschale werfen will. Das informelle Zusammenspiel der wichtigsten Zentralbanken kann nach seinem Urteil die Haushalts- und Wirtschaftspolitiken der Staaten nicht koordinieren. Deshalb plädiert er für eine europäische Initiative: Der Weltwährungsfonds soll ein transnationales System zur Transparenz und Überwachung der globalen Finanzmärkte, aller ihrer Beteiligten und aller von ihnen in Verkehr gebrachten Finanzinstrumente entwickeln. Schließlich seien im internationalen Finanz- und Kapitalverkehr Verkehrsregeln und Verkehrssicherheit mindestens genauso notwendig wie im See- und Luftverkehr.
Bei der Lektüre dieser ja gerade besonders aktuell gewordenen Empfehlungen fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, wie Schmidt mit einem Journalisten erst eine Partie Schach spielt, um dann eine umfängliche politische Tour d’Horizon folgen zu lassen. Hans-Joachim Noack, ab 1968 Reporter der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Rundschau, schließlich bis 2005 Politikressortleiter des Spiegel, ist ein solcher Journalist. Er saß mit Schmidt im Herbst 1980 während des Wahlkampfs gegen Franz Josef Strauß im Sonderzug oder bei längeren Überseeflügen zusammen. Aus diesen gelegentlichen Treffen entstand bei Noack auch ein persönliches Interesse an der Person Schmidt, der ihm für seine Biographie das Privatarchiv öffnete.
Das Ergebnis ist eine Lebensbeschreibung, die überaus einfühlsam und distanziert zugleich erscheint und damit das Wesen ihres Gegenstandes selbst erfasst. Noack schildert Leben und Werk eines Vollblutpolitikers, der sich nicht als Parteipolitiker versteht: „Ich sah mich nie als einen Kanzler der SPD.” Das dürfte nach Noack auch die anhaltende Popularität des bald 90-jährigen Helmut Schmidt erklären: Keiner seiner Vorgänger wie Nachfolger wurde so sehr von Wählern favorisiert, die zu den jeweils regierenden Farben in Opposition standen, wie der eigenwillige „Sozi” aus Hamburg. Der wiederum achtete sorgsam darauf, das Genossen-Kürzel auf die ihm genehme Art zu übersetzen: Sozialdemokrat zu sein, hieß für ihn nicht, „irgendwelchen ideologisch überhöhten Spinnereien” anzuhängen, sondern sich als „sozialer Demokrat” zu bewähren. Oder wie es der ARD-Journalist Martin Rupps bereits 2002 in seiner (jetzt wieder aufgelegten) Schmidt-Biographie ausgedrückt hat: Der Altkanzler avancierte schon bald nach seiner Abwahl „zu einer Art heimlichem Bundespräsidenten.” Schließlich steht der Hanseat wie nur wenige andere für die häufig beschworene „Mitte” der Gesellschaft. Sie in der Person Schmidt porträtiert zu haben, ist das große Verdienst Noacks. Sein Buch wird daher auch in vielen Jahren nicht veraltet erscheinen.
Helmut Schmidt
Außer Dienst. Eine Bilanz
Siedler Verlag, München 2008. 350 Seiten, 22,95 Euro.
Hans-Joachim Noack
Helmut Schmidt. Die Biographie
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2008. 319 Seiten, 19,90 Euro.
„Unser Land hat keine Rangabzeichen nötig”
Helmut Schmidts Fazit: Morde und Geiselnahmen ziehen sich durch die gesamte Geschichte. Der Westen kann auch im 21. Jahrhundert nicht jeglichen Terrorismus ausrotten. Er muss ihn mit politischen Mitteln zurückdrängen. Foto: ddp
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2008Auftrag ausgeführt!
Helmut Schmidt zieht Bilanz, und Hans-Joachim Noack porträtiert den früheren Bundeskanzler / Von Gregor Schöllgen
Viel hat er geschrieben. Vor allem seit sich der fünfte Kanzler der Republik nach seinem Sturz im Oktober 1982 aus dem politischen Tagesgeschäft zurückgezogen hat, greift Helmut Schmidt regelmäßig zur Feder. Mehr als 20 Bücher hat er seither vorgelegt. Jetzt, wo er 90 wird - gegen "Ende des Lebens", da die meisten Weggefährten "schon endgültig ihre Adresse gewechselt" haben -, wollte er einmal aufschreiben, was er "glaube, im Laufe der Jahrzehnte politisch gelernt zu haben". So ist ein sehr persönliches, zugleich ein sehr politisches Buch entstanden, von dem man wohl sagen darf: Es ist das Vermächtnis des Helmut Schmidt.
Und es ist eine Handreichung für alle, die einmal das Bild dieses Mannes zeichnen werden. Helmut Schmidt weiß, wie er in die Geschichte eingehen will. Zum Beispiel als ein Mann, der "mehr durch Zufall" denn durch Planung zum Berufspolitiker wurde, der aber, einmal dort angekommen, "aus eigenem Willen geblieben" ist. Bislang hat Schmidt, auf sein "Verhältnis zur Macht" angesprochen, stets betont, keines der vielen Ämter angestrebt zu haben - das eines hamburgischen Senators nicht, das eines Verteidigungs- und Finanzministers nicht und das eines Bundeskanzlers auch nicht. Am Abend eines langen Lebens und "nach Lektüre mancher Psychologiebücher" ist er sich da nicht mehr so sicher: "Unbewusst könnte ich diese Ämter vielleicht doch gewollt haben." Allerdings war sein Ehrgeiz nicht auf die Ämter gerichtet, "sondern auf Anerkennung - ähnlich wie ein Künstler oder ein Sportler Anerkennung durch Leistung sucht".
Wer Jahrzehnte in diesem kräftezehrenden Geschäft tätig ist, der macht natürlich auch Fehler. Viele Fehler. Schmidt zählt sie auf. Dass sein Verhältnis zu seiner Partei und zu Willy Brandt im Mittelpunkt dieses Kapitels steht, ist kein Zufall. Denn zu den größten Fehlern des Politikers Schmidt gehört, im Mai 1974 mit der Übernahme des Kanzleramtes "nicht zugleich den Parteivorsitz beansprucht zu haben". So aber konnte er kaum etwas tun, als die "Auflösungserscheinungen an dem sich verbreiternden linken Rand der Sozialdemokratie" zu handfesten politischen Konflikten und diese schließlich über die Frage der Umsetzung des sogenannten Nato-Doppelbeschlusses zur Spaltung der SPD führten.
Brandt, der nach seinem Rücktritt als Kanzler - aus "völlig unzureichendem" Grund, so Schmidt noch heute - die Führung der Partei nicht aus der Hand gab, "förderte" die von Schmidt "kritisierte Entwicklung" eher, als dass er sie hinderte. So kam es zum Ende sozialdemokratischer Regierungsverantwortung und zum Ende einer Freundschaft: "Da standen sich zwei verschiedene politische Naturelle gegenüber, die nicht mehr ins Gespräch miteinander kamen ... Es mag sein, dass die langsame Abkühlung der Freundschaft auf beiderseitigen Fehlern beruhte. Als Brandt 1992 starb, war ich mir jedoch schmerzhaft bewusst, einen Freund verloren zu haben."
Und natürlich war das Verhältnis Schmidts zu seiner Partei ramponiert. Dass auf dem berühmten Kölner Sonderparteitag im November 1983 nur eine Handvoll Genossen für den Doppelbeschluss und damit für das politische Vermächtnis des Exkanzlers stimmten, hat der wohl nie verwunden - auch wenn Helmut Schmidt "tatsächlich ... immer Sozialdemokrat geblieben" ist: "Erst als sich Bundeskanzler Schröder 2003 einer Beteiligung an dem unsäglichen zweiten Irak-Krieg der USA verweigerte und die SPD ihm darin zustimmte ..., habe ich mich wieder in innerer Übereinstimmung mit der Politik der Mehrheit meiner Partei gefunden."
Es sind solche Berichte, eingewoben in ein dichtes Netz von Einsichten, Reflexionen und Maximen, die den Reiz dieses Buches ausmachen. Gewiss ist dem Leser seiner Schriften vieles von dem, was Schmidt zu Protokoll gibt, nicht ganz unbekannt, und nicht selten schrammt der Altbundeskanzler nur haarscharf an banalen oder auch trivialen Feststellungen vorbei. Das gilt für die Thesen, und es gilt für die Lehren, die Schmidt aus seinem Gang durch die Weltgeschichte zieht. Allerdings wird manches durch die biographisch unterlegte, dabei konzentrierte Präsentation deutlicher, als man das bislang bei ihm lesen konnte. So zum Beispiel die gelassene Haltung zu einem wahrscheinlichen "Bedeutungsverlust der Nato", der für die Deutschen "ohne strategische Folgen" bliebe, oder das überraschend klare Bekenntnis zu Europa, das die von Schmidt sonst so gerne zelebrierte Klage über die Brüsseler Bürokratie hinter sich lässt: Weil die Deutschen "stärker als alle anderen Nationen darauf angewiesen" sind, dass "die Union zum Erfolg geführt wird", setzt er seine Hoffnung "auch für morgen auf die fortschreitende Vertiefung der europäischen Integration". Natürlich kommt das Ganze im pädagogischen Duktus daher. Man kennt das von Schmidt, wenn auch im hohen Alter besonders deutlich wird, was immer schon zu beobachten war: An Schmidt ist ein Lehrer verlorengegangen. Das mag damit zu tun haben, dass Gustav Schmidt, Helmuts Vater, diesen Beruf ausgeübt hat. Wahrscheinlicher aber ist, dass die Neigung, den Deutschen immer wieder vor Augen zu führen, was sie "leider nicht" oder wovon sie "nur wenig" wissen, auf den eigenen frühen Nachholbedarf des Mannes zurückgeht.
Denn als der 27 Jahre alte Soldat Helmut Schmidt nach acht Jahren Dienst in der Wehrmacht in einem britischen Gefangenenlager "frustriert seiner verlorenen Jugend" nachgeht, überfällt ihn eine "Gier nach allen erreichbaren Informationen". Der Nachholbedarf des "bildungshungrigen Exoffiziers" ist gewaltig, und so "stürzt er sich in eine Art Studium generale, büffelt Staatslehre, Philosophie und Soziologie und interessiert sich für alles, was ihm die ignoranten Nazis vorenthalten haben". Das kann man jetzt bei Hans-Joachim Noack nachlesen. Der frühere langjährige Mitarbeiter des "Spiegel" kennt Schmidt, seit er mit ihm während der Großen Koalition der Jahre 1966 bis 1969 ein erstes Interview geführt hat. "Die Biographie", die er zum Neunzigsten von Schmidt vorlegt, kündet von einer exzellenten Kenntnis des Mannes und seiner Zeit. Noack zeichnet ein differenziertes Bild mit klaren Konturen, das den Privatmann nicht vergisst, von Sympathie getragen ist, aber nie in hagiographische Überzeichnungen abgleitet.
So lernt man einen von Erfolgen und Triumphen, aber eben auch von Rückschlägen und Niederlagen geprägten Mann kennen, der wie die meisten seiner Generation durch das frühe Kriegserlebnis geformt ist: "Freunde sind nach seinem Empfinden zuallererst ,Kameraden', eine aus dem Schützengraben ins zivile Leben übernommene Analogie". Sie erklärt, warum "Verlässlichkeit und Berechenbarkeit im Wertekanon ... Schmidts obenan" stehen und warum er zum Beispiel dem CSU-Politiker Franz Josef Strauß - einem seiner schärfsten Widersacher, aber wie Schmidt Oberleutnant im Krieg mit ähnlicher Erfahrung - mit größerem Respekt begegnete als manchem prominenten Genossen aus den eigenen Reihen. Gut möglich, dass die Kriegserfahrung auch den erstaunlich souveränen Umgang Schmidts mit dem Machtverlust, aber auch mit der Erkenntnis erklärt, dass "große Kanzler ... große Themen" benötigen. Dabei gilt die von Noack zitierte, "leicht elegische" Erkenntnis Helmut Schmidts, das "Glück eines epochalen Auftrags" sei ihm nie beschieden gewesen, nur bedingt. Wer die Weichen in so elementaren Fragen wie dem Nato-Doppelbeschluss, dem Europäischen Währungssystem oder auch dem Kampf gegen den Terrorismus richtig stellt, ist ein bedeutender Mann - auch wenn er die Früchte seiner Arbeit nicht mehr im Amt geerntet hat.
Helmut Schmidt: Außer Dienst. Eine Bilanz. Siedler Verlag, München 2008. 350 S., 22,95 [Euro].
Hans-Joachim Noack: Helmut Schmidt. Die Biographie. Rowohlt Verlag, Berlin 2008. 317 S., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Helmut Schmidt zieht Bilanz, und Hans-Joachim Noack porträtiert den früheren Bundeskanzler / Von Gregor Schöllgen
Viel hat er geschrieben. Vor allem seit sich der fünfte Kanzler der Republik nach seinem Sturz im Oktober 1982 aus dem politischen Tagesgeschäft zurückgezogen hat, greift Helmut Schmidt regelmäßig zur Feder. Mehr als 20 Bücher hat er seither vorgelegt. Jetzt, wo er 90 wird - gegen "Ende des Lebens", da die meisten Weggefährten "schon endgültig ihre Adresse gewechselt" haben -, wollte er einmal aufschreiben, was er "glaube, im Laufe der Jahrzehnte politisch gelernt zu haben". So ist ein sehr persönliches, zugleich ein sehr politisches Buch entstanden, von dem man wohl sagen darf: Es ist das Vermächtnis des Helmut Schmidt.
Und es ist eine Handreichung für alle, die einmal das Bild dieses Mannes zeichnen werden. Helmut Schmidt weiß, wie er in die Geschichte eingehen will. Zum Beispiel als ein Mann, der "mehr durch Zufall" denn durch Planung zum Berufspolitiker wurde, der aber, einmal dort angekommen, "aus eigenem Willen geblieben" ist. Bislang hat Schmidt, auf sein "Verhältnis zur Macht" angesprochen, stets betont, keines der vielen Ämter angestrebt zu haben - das eines hamburgischen Senators nicht, das eines Verteidigungs- und Finanzministers nicht und das eines Bundeskanzlers auch nicht. Am Abend eines langen Lebens und "nach Lektüre mancher Psychologiebücher" ist er sich da nicht mehr so sicher: "Unbewusst könnte ich diese Ämter vielleicht doch gewollt haben." Allerdings war sein Ehrgeiz nicht auf die Ämter gerichtet, "sondern auf Anerkennung - ähnlich wie ein Künstler oder ein Sportler Anerkennung durch Leistung sucht".
Wer Jahrzehnte in diesem kräftezehrenden Geschäft tätig ist, der macht natürlich auch Fehler. Viele Fehler. Schmidt zählt sie auf. Dass sein Verhältnis zu seiner Partei und zu Willy Brandt im Mittelpunkt dieses Kapitels steht, ist kein Zufall. Denn zu den größten Fehlern des Politikers Schmidt gehört, im Mai 1974 mit der Übernahme des Kanzleramtes "nicht zugleich den Parteivorsitz beansprucht zu haben". So aber konnte er kaum etwas tun, als die "Auflösungserscheinungen an dem sich verbreiternden linken Rand der Sozialdemokratie" zu handfesten politischen Konflikten und diese schließlich über die Frage der Umsetzung des sogenannten Nato-Doppelbeschlusses zur Spaltung der SPD führten.
Brandt, der nach seinem Rücktritt als Kanzler - aus "völlig unzureichendem" Grund, so Schmidt noch heute - die Führung der Partei nicht aus der Hand gab, "förderte" die von Schmidt "kritisierte Entwicklung" eher, als dass er sie hinderte. So kam es zum Ende sozialdemokratischer Regierungsverantwortung und zum Ende einer Freundschaft: "Da standen sich zwei verschiedene politische Naturelle gegenüber, die nicht mehr ins Gespräch miteinander kamen ... Es mag sein, dass die langsame Abkühlung der Freundschaft auf beiderseitigen Fehlern beruhte. Als Brandt 1992 starb, war ich mir jedoch schmerzhaft bewusst, einen Freund verloren zu haben."
Und natürlich war das Verhältnis Schmidts zu seiner Partei ramponiert. Dass auf dem berühmten Kölner Sonderparteitag im November 1983 nur eine Handvoll Genossen für den Doppelbeschluss und damit für das politische Vermächtnis des Exkanzlers stimmten, hat der wohl nie verwunden - auch wenn Helmut Schmidt "tatsächlich ... immer Sozialdemokrat geblieben" ist: "Erst als sich Bundeskanzler Schröder 2003 einer Beteiligung an dem unsäglichen zweiten Irak-Krieg der USA verweigerte und die SPD ihm darin zustimmte ..., habe ich mich wieder in innerer Übereinstimmung mit der Politik der Mehrheit meiner Partei gefunden."
Es sind solche Berichte, eingewoben in ein dichtes Netz von Einsichten, Reflexionen und Maximen, die den Reiz dieses Buches ausmachen. Gewiss ist dem Leser seiner Schriften vieles von dem, was Schmidt zu Protokoll gibt, nicht ganz unbekannt, und nicht selten schrammt der Altbundeskanzler nur haarscharf an banalen oder auch trivialen Feststellungen vorbei. Das gilt für die Thesen, und es gilt für die Lehren, die Schmidt aus seinem Gang durch die Weltgeschichte zieht. Allerdings wird manches durch die biographisch unterlegte, dabei konzentrierte Präsentation deutlicher, als man das bislang bei ihm lesen konnte. So zum Beispiel die gelassene Haltung zu einem wahrscheinlichen "Bedeutungsverlust der Nato", der für die Deutschen "ohne strategische Folgen" bliebe, oder das überraschend klare Bekenntnis zu Europa, das die von Schmidt sonst so gerne zelebrierte Klage über die Brüsseler Bürokratie hinter sich lässt: Weil die Deutschen "stärker als alle anderen Nationen darauf angewiesen" sind, dass "die Union zum Erfolg geführt wird", setzt er seine Hoffnung "auch für morgen auf die fortschreitende Vertiefung der europäischen Integration". Natürlich kommt das Ganze im pädagogischen Duktus daher. Man kennt das von Schmidt, wenn auch im hohen Alter besonders deutlich wird, was immer schon zu beobachten war: An Schmidt ist ein Lehrer verlorengegangen. Das mag damit zu tun haben, dass Gustav Schmidt, Helmuts Vater, diesen Beruf ausgeübt hat. Wahrscheinlicher aber ist, dass die Neigung, den Deutschen immer wieder vor Augen zu führen, was sie "leider nicht" oder wovon sie "nur wenig" wissen, auf den eigenen frühen Nachholbedarf des Mannes zurückgeht.
Denn als der 27 Jahre alte Soldat Helmut Schmidt nach acht Jahren Dienst in der Wehrmacht in einem britischen Gefangenenlager "frustriert seiner verlorenen Jugend" nachgeht, überfällt ihn eine "Gier nach allen erreichbaren Informationen". Der Nachholbedarf des "bildungshungrigen Exoffiziers" ist gewaltig, und so "stürzt er sich in eine Art Studium generale, büffelt Staatslehre, Philosophie und Soziologie und interessiert sich für alles, was ihm die ignoranten Nazis vorenthalten haben". Das kann man jetzt bei Hans-Joachim Noack nachlesen. Der frühere langjährige Mitarbeiter des "Spiegel" kennt Schmidt, seit er mit ihm während der Großen Koalition der Jahre 1966 bis 1969 ein erstes Interview geführt hat. "Die Biographie", die er zum Neunzigsten von Schmidt vorlegt, kündet von einer exzellenten Kenntnis des Mannes und seiner Zeit. Noack zeichnet ein differenziertes Bild mit klaren Konturen, das den Privatmann nicht vergisst, von Sympathie getragen ist, aber nie in hagiographische Überzeichnungen abgleitet.
So lernt man einen von Erfolgen und Triumphen, aber eben auch von Rückschlägen und Niederlagen geprägten Mann kennen, der wie die meisten seiner Generation durch das frühe Kriegserlebnis geformt ist: "Freunde sind nach seinem Empfinden zuallererst ,Kameraden', eine aus dem Schützengraben ins zivile Leben übernommene Analogie". Sie erklärt, warum "Verlässlichkeit und Berechenbarkeit im Wertekanon ... Schmidts obenan" stehen und warum er zum Beispiel dem CSU-Politiker Franz Josef Strauß - einem seiner schärfsten Widersacher, aber wie Schmidt Oberleutnant im Krieg mit ähnlicher Erfahrung - mit größerem Respekt begegnete als manchem prominenten Genossen aus den eigenen Reihen. Gut möglich, dass die Kriegserfahrung auch den erstaunlich souveränen Umgang Schmidts mit dem Machtverlust, aber auch mit der Erkenntnis erklärt, dass "große Kanzler ... große Themen" benötigen. Dabei gilt die von Noack zitierte, "leicht elegische" Erkenntnis Helmut Schmidts, das "Glück eines epochalen Auftrags" sei ihm nie beschieden gewesen, nur bedingt. Wer die Weichen in so elementaren Fragen wie dem Nato-Doppelbeschluss, dem Europäischen Währungssystem oder auch dem Kampf gegen den Terrorismus richtig stellt, ist ein bedeutender Mann - auch wenn er die Früchte seiner Arbeit nicht mehr im Amt geerntet hat.
Helmut Schmidt: Außer Dienst. Eine Bilanz. Siedler Verlag, München 2008. 350 S., 22,95 [Euro].
Hans-Joachim Noack: Helmut Schmidt. Die Biographie. Rowohlt Verlag, Berlin 2008. 317 S., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Persönlich und politisch begegnet Helmut Schmidt dem Rezensenten Gregor Schöllgen in diesem Buch, das Schöllgen schlicht und ergreifend als Schmidts Vermächtnis versteht. Zugleich macht er auf ein Fährnis des Buches aufmerksam, indem er es als Handreichung für künftige Biografen, aber auch als bewusste Weichenstellung des Autors bezüglich seines Bildes in der Galerie der Geschichte bezeichnet. Dass Schmidt dennoch keine Fehler verschweigt (siehe sein Verhältnis zu Willy Brandt), rechnet Schöllgen ihm hoch an. Den Reiz des Buches sieht er allerdings in der "biografisch unterlegten, dabei konzentrierteren" Präsentation durchaus bekannter Fakten. Über die Themen Nato und Europa etwa hat Schöllgen derart deutlich bei Schmidt noch nicht gelesen. Wenn der Autor mitunter den Pädagogen heraushängen lässt oder auch mal weniger Belangvolles erzählt, kann der Rezensent damit leben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ein gutes Buch ohne jede politische Gebetstrommelei.« Der Tagesspiegel