Wer ist Austerlitz? Ein rätselhafter Fremder, der immer wieder an den ungewöhnlichsten Orten auftaucht: am Bahnhof, am Handschuhmarkt, im Industriequartier ... Und jedes Mal erzählt er ein Stück mehr von seiner Lebensgeschichte, der Geschichte eines unermüdlichen Wanderers durch unsere Kultur und Architektur und der Geschichte eines Mannes, dem als Kind Heimat, Sprache und Name geraubt wurden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.02.2008Europas Schrecken und Schönheit
W. G. Sebald: „Austerlitz”
Was verbirgt sich nicht alles im Namen „Austerlitz”? Ein Schlachtfeld in Mähren, auf dem Napoleon im Dezember 1805 zwei andere Kaiser besiegte. „Austerlitz” ist auch ein nach diesem Schlachtfeld benannter Pariser Bahnhof, im Westen der Stadt, hinter dem Jardin des Plantes gelegen. Und schließlich ist „Austerlitz” die Hauptfigur in W. G. Sebalds letztem Roman, der zuerst im Frühjahr 2001, ein gutes halbes Jahr vor dem Unfalltod seines Autors erschien – eines Autors, der gerade die Schwelle zum Weltruhm überschritten zu haben schien. Die Geschichte von Jacques Austerlitz ist das leichteste, das zugänglichste Werk dieses Schriftstellers, eine Wanderung rückwärts durch das Leben der Titelfigur, durch europäische Geschichtslandschaften, auf der immer wieder zwei Motive aufeinanderstoßen: die Schrecken der Geschichte und die Schönheit der Landschaften.
Jacques Austerlitz, zum Zeitpunkt des Erzählens ein rastloser Reisender kreuz und quer durch den Kontinent, gekleidet in eine Arbeitshose aus verschossener blauer Baumwolle sowie in ein „maßgeschneidertes, aber längst aus der Mode gekommenes Anzugsjackett”, hatte dreißig Jahre lang als Kunsthistoriker in London gearbeitet. Davor war er Schüler an einem wunderlich verstaubten Internat in England gewesen, davor Kind eines calvinistischen Predigers an der Küste von Wales. Bald aber ist Jacques Austerlitz unterwegs nach Prag, zu seiner eigentlichen, im Holocaust verschwundenen Familie, zu seinem eigentlichen Ich – und unterwegs nach Theresienstadt. Denn Jacques Austerlitz, der jüdische Knabe, war kurz vor dem Zweiten Weltkrieg mit einem „Kindertransport” aus der Tschechoslowakei nach England geschickt worden, um dort in der Adoption zu überleben. Die Suche nach der persönlichen Identität scheint diesem Buch das Handlungsmodell zu liefern. Doch so einfach ist es nicht. Denn dahinter, in einem beispiellosen Amalgam aus Essay, Poesie, Tatsachenbericht und Roman, entfaltet sich der Versuch, die europäische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts als das Leben eines einzelnen Menschen zu erzählen, so nah wie möglich, so vielfältig, so disparat wie nötig.
Zusammengehalten wird dieses Unternehmen durch eine einzigartige Sprache: W. G. Sebald ist ein Meister der literarischen Vergegenwärtigung und des Periodenbaus. Der ruhige Wellenschlag seiner Sätze erinnert an eine längst vergangene Kunst, die ins neunzehnte Jahrhundert zu gehören scheint, zu Adalbert Stifter vielleicht. In dieser Sprache wird das Persönliche, das Private, zu etwas schlicht und einfach Vorfallenden, und das Große schrumpft, und doch verliert es nicht das Ungeheuerliche. Diese Sprache bringt alles, was sie berührt, auf mehr oder minder menschliches Maß – auch das Unmenschliche. Darin gleicht sie dem Helden dieser Geschichte: einer seltsam ungebundene Gestalt von auswärtiger Verfassung, kultiviert, diskret und sehr ernst. THOMAS STEINFELD
Winfried Georg Sebald Foto: Tappe/SZ Photo
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
W. G. Sebald: „Austerlitz”
Was verbirgt sich nicht alles im Namen „Austerlitz”? Ein Schlachtfeld in Mähren, auf dem Napoleon im Dezember 1805 zwei andere Kaiser besiegte. „Austerlitz” ist auch ein nach diesem Schlachtfeld benannter Pariser Bahnhof, im Westen der Stadt, hinter dem Jardin des Plantes gelegen. Und schließlich ist „Austerlitz” die Hauptfigur in W. G. Sebalds letztem Roman, der zuerst im Frühjahr 2001, ein gutes halbes Jahr vor dem Unfalltod seines Autors erschien – eines Autors, der gerade die Schwelle zum Weltruhm überschritten zu haben schien. Die Geschichte von Jacques Austerlitz ist das leichteste, das zugänglichste Werk dieses Schriftstellers, eine Wanderung rückwärts durch das Leben der Titelfigur, durch europäische Geschichtslandschaften, auf der immer wieder zwei Motive aufeinanderstoßen: die Schrecken der Geschichte und die Schönheit der Landschaften.
Jacques Austerlitz, zum Zeitpunkt des Erzählens ein rastloser Reisender kreuz und quer durch den Kontinent, gekleidet in eine Arbeitshose aus verschossener blauer Baumwolle sowie in ein „maßgeschneidertes, aber längst aus der Mode gekommenes Anzugsjackett”, hatte dreißig Jahre lang als Kunsthistoriker in London gearbeitet. Davor war er Schüler an einem wunderlich verstaubten Internat in England gewesen, davor Kind eines calvinistischen Predigers an der Küste von Wales. Bald aber ist Jacques Austerlitz unterwegs nach Prag, zu seiner eigentlichen, im Holocaust verschwundenen Familie, zu seinem eigentlichen Ich – und unterwegs nach Theresienstadt. Denn Jacques Austerlitz, der jüdische Knabe, war kurz vor dem Zweiten Weltkrieg mit einem „Kindertransport” aus der Tschechoslowakei nach England geschickt worden, um dort in der Adoption zu überleben. Die Suche nach der persönlichen Identität scheint diesem Buch das Handlungsmodell zu liefern. Doch so einfach ist es nicht. Denn dahinter, in einem beispiellosen Amalgam aus Essay, Poesie, Tatsachenbericht und Roman, entfaltet sich der Versuch, die europäische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts als das Leben eines einzelnen Menschen zu erzählen, so nah wie möglich, so vielfältig, so disparat wie nötig.
Zusammengehalten wird dieses Unternehmen durch eine einzigartige Sprache: W. G. Sebald ist ein Meister der literarischen Vergegenwärtigung und des Periodenbaus. Der ruhige Wellenschlag seiner Sätze erinnert an eine längst vergangene Kunst, die ins neunzehnte Jahrhundert zu gehören scheint, zu Adalbert Stifter vielleicht. In dieser Sprache wird das Persönliche, das Private, zu etwas schlicht und einfach Vorfallenden, und das Große schrumpft, und doch verliert es nicht das Ungeheuerliche. Diese Sprache bringt alles, was sie berührt, auf mehr oder minder menschliches Maß – auch das Unmenschliche. Darin gleicht sie dem Helden dieser Geschichte: einer seltsam ungebundene Gestalt von auswärtiger Verfassung, kultiviert, diskret und sehr ernst. THOMAS STEINFELD
Winfried Georg Sebald Foto: Tappe/SZ Photo
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2001Die Wünschelrute in der Tasche eines Nibelungen
Der Kopfbahnhof der literarischen Welt heißt "Austerlitz", und darin befindet sich ein Saal der verlorenen Schritte: W. G. Sebald eröffnet einen Prozeß wider die Gegenwart / Von Thomas Steinfeld
Am Ende verläßt der Held sein Abteil im Expreßzug von Prag nach Hoek van Holland und geht durch eine deutsche Innenstadt. "Als erstes stach mir auf meiner Exkursion die große Zahl grauer, brauner und grüner Hüte in die Augen und überhaupt wie gut und zweckmäßig alles gekleidet, wie bemerkenswert solide das Schuhwerk der Nürnberger Fußgänger war." Der Held ist ob soviel Wohlstands beunruhigt, ihm fehlen auch die krummen Linien, die alte Häuser zu Dokumenten werden lassen. Schließlich ist er so entnervt, daß er unter einem Fensterbogen der "Nürnberger Nachrichten" Zuflucht sucht. Der Fensterbogen besteht aus "rötlichem Sandstein", und dem Helden wird immer "banger", während das Volk der Deutschen an ihm vorüberzieht. Da scheint das Schicksal ein Einsehen zu haben: Eine ältere Frau kommt vorbei, auf dem Kopf einen Tirolerhut mitsamt Hahnenfeder, und schenkt dem Benommenen, seines "alten Rucksacks" wegen, ein Markstück - geprägt, wie der Erzähler sorgfältig notiert, im Jahr 1956 und also ein Porträt Konrad Adenauers tragend: Der verwirrte Mann bekommt ein Andenken in die Hand gedrückt.
Kann W. G. Sebald ironisch sein, selbstironisch gar? In "Austerlitz", dem neuen Buch des in den vergangenen Jahren vor allem in den angelsächsischen Ländern zu erstaunlichem Ruhm gekommenen Schriftstellers, gibt es eine ganze Reihe von Stellen wie diese - Passagen, an denen es für einen Augenblick so aussieht, als sei auf der obersten Stufe einer langen Skala von immer geschichtsträchtiger, immer schicksalsschwerer, immer bedeutsamer werdenden Beobachtungen und Reflexionen ein kleiner, böser Witz, ein spöttisches Lachen voll bitterer Erkenntnis zu erwarten. Aber dann wird doch nichts daraus. Der Scherz war bitterer Ernst gewesen, und Deutschland verwandelt sich im Handumdrehen zurück in das "Original der so viele Jahre hindurch mich heimsuchenden Bilder". Die Episode mit dem Markstück hat also keine Pointe. Sie erzählt bloß von anrührender Hilflosigkeit und absichtsloser Schmähung. Und der Mann mit dem alten Rucksack trägt, wie so manche andere stumme Gestalt in deutschen Fußgängerzonen, in Wirklichkeit eine Tafel mit der Aufschrift "Erwachet" vor seiner Brust - nur daß diese Schrift, anders als bei den religiösen Eiferern, unsichtbar und an die Leser adressiert ist.
Wie die früheren Bücher von W. G. Sebald, wie "Die Ausgewanderten" aus dem Jahr 1992 und "Die Ringe des Saturn" von 1995, ist "Austerlitz" ein Buch der tausendundeinen Offenbarung. Aufgeschrieben ist darin die Geschichte eines einsamen, schwermütigen Wanderers namens Jacques Austerlitz, den der Erzähler in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre in der "salle des pas perdus", dem Wartesaal des Hauptbahnhofs von Antwerpen, kennenlernt: Er ist ein "beinahe jugendlich wirkender Mann mit blondem, seltsam gewelltem Haar, wie ich es sonst nur gesehen habe an dem deutschen Helden Siegfried in Langs Nibelungenfilm". Immer wieder treffen sich die beiden, zunächst zufällig, am Resopaltisch eines Cafés im Industriegebiet von Lüttich zum Beispiel, dann nach Botschaften und Verabredungen. Und jedesmal trägt Jacques Austerlitz schwere Wanderschuhe, eine Arbeitshose aus verschossener blauer Baumwolle sowie "ein maßgeschneidertes, aber längst aus der Mode gekommenes Anzugsjackett". Manchmal holt er einen Fotoapparat aus dem Rucksack, und bei soviel Neigung zum Aparten darf auch die Kamera nicht irgendein Gerät sein, sondern ist "eine alte Ensign mit ausfahrbarem Balg". Und stets kritzelt Jacques Austerlitz vor sich hin.
W. G. Sebald kann offenbar schreiben, was er will. Eines unterscheidet ihn von allen anderen deutschen Schriftstellern: seine Sprache. Er ist ein Meister des Periodenbaus, der ruhige Wellenschlag seiner Sätze erinnert an eine längst vergangene Kunst, die ins neunzehnte Jahrhundert gehört, zu Adalbert Stifter vielleicht, aber nicht einmal mehr ins frühe zwanzigste. In dieser Sprache wird das Persönliche, das Private, zu etwas schlicht und einfach Vorgefallenem, das Große schrumpft, und die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts verwandeln sich in beinahe beschauliche Ereignisse - und täten es ganz, gäbe es da nicht den leicht erschütterten Satzbau, die wohltemperierten Anakoluthe, die zu eilig daherkommenden und dabei über sich selbst stolpernden Verben und die vielen Verweise auf die Erzählsituation: "sagte er, sagte Austerlitz". Diese Sprache hat eine dreifache Wirkung: Sie schafft Distanz, sie stilisiert Austerlitz als unangreifbar literarische Figur, und sie ist das Zeugnis einer unendlich groß gewordenen Souveränität gegenüber dem Stoff.
Schritt für Schritt und meistens rückwärtsgehend, erzählt W. G. Sebald in "Austerlitz" die Lebensgeschichte des Mannes mit diesem Namen: Vor seiner frühzeitigen Pensionierung ist er dreißig Jahre lang Architekturhistoriker gewesen, Dozent an einem kunsthistorischen Institut in London, mit einem bis an die Decke mit Papieren und Büchern vollgestopften Arbeitsplatz in der Nähe des British Museum. Später werden auch die Jugend und das frühe Erwachsenenalter nachgereicht: Aufgewachsen als "Dafydd Elias" im Haus eines calvinistischen Predigers an der Küste von Wales, erfährt er erst als Heranwachsender, als Zögling des wunderlich verstaubten Internats von Stower Grange, daß er in Wirklichkeit Jacques Austerlitz heißt - womit die Suche nach dem Ursprung, das tragende und treibende Motiv dieses Buches, ihren Lauf nimmt: "Seit meiner Kindheit und Jugend", erläutert Jacques Austerlitz, "habe ich nicht gewußt, wer ich in Wahrheit bin." In den letzten Passagen des Buches, nach über vierhundert Seiten, ist er dieser "Wahrheit" nahegekommen - allerdings ohne klüger oder gar glücklicher geworden zu sein.
Das Buch hat noch gar nicht begonnen, als Jacques Austerlitz von friedlichen Proportionen spricht, und er tut es nur dieses eine Mal: Es seien "die unter dem Normalmaß rangierenden Bauten", erklärt er, "die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schleusenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen". Er selbst aber, die Figur des Jacques Austerlitz, ist nicht nach diesem Prinzip geschaffen. Was verbirgt sich nicht schon allein im Namen? "Austerlitz", das ist ein Schlachtfeld in Mähren, wo Napoleon im Dezember 1805 zwei andere Kaiser besiegte. "Austerlitz" ist auch der Bahnhof hinter dem Jardin des Plantes - und der Platz, auf dem die Nationalsozialisten die konfiszierte Habe der Juden von Paris haben aufbewahren lassen. Und "Austerlitz" ist schließlich auch das Lebensthema des Lehrers André Hilary, eines pensionierten Offiziers, der den Geschichtsunterricht am Internat von Stower Grange, eines Bandscheibenleidens wegen häufig auf dem Fußboden liegend, vortrug. Jacques Austerlitz ist viele Austerlitz., und der Name ist Programm: Seit diesem Frühjahr steht er in mächtigen Lettern über einem der größten Kopfbahnhöfe der literarischen Welt.
Aber er ist keine literarische Figur, und darin liegt die große Schwäche dieses "Prosabuchs unbestimmter Art". Austerlitz ist vielmehr der Sammelpunkt einer literarischen Technik, ein Mustermann für die poetische Welt des Schriftstellers W. G. Sebald, eine Archivgestalt von überdimensionalen Maßen, die alle Obsessionen dieses Autors in sich aufnimmt - und gegen die Harpo Marx mit seinem Staubmantel, in dem sich ein unendliches Arsenal von Gerätschaften befindet, von riesigen Scheren und monströsen Hupen bis zu flammenden Bunsenbrennern, eine kümmerliche Existenz abgibt.
Das Buch von "Austerlitz" ist eine Variation auf ein bekanntes Thema. Doch in den "Ausgewanderten" ging es um Menschen - um einen reichen englischen Arzt, um einen deutschen Lehrer, um einen jüdischen Maler deutscher Abstammung in Manchester und um den Butler der amerikanischen Bankiersfamilie Solomon. Alle vier Lebensläufe waren gezeichnet vom Entsetzen über die großen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts, und das heißt vor allem: vom Holocaust. Aber in den "Ausgewanderten" waren die vier Teile des Buches noch als diskrete Nacherzählungen komponiert, und dabei ging es immer wieder von neuem um die Rettung des Lebens in der Schrift. Dieses Motiv ist in "Austerlitz" verschwunden. Oder besser: Es ist in die Tasche eines einzelnen Helden gewandert, um dort als Wünschelrute für tausendundeine Offenbarung bereitzuliegen. Jacques Austerlitz herrscht - stellvertretend für seinen Autor - als absoluter Souverän in den dunklen Kammern des Gedächtnisses, als Erinnerungswächter, als Inquisitor der Vergegenwärtigung über die Jahrzehnte hinweg. Und alle Wege führen nach Theresienstadt.
Jacques Austerlitz ist ein Wanderer, einer, der nur im Provisorischen lebt und der auf seinem melancholischen Gang durch die Ruinen von einer Katastrophe in die nächste gerät. Er ist die Verbindung zwischen dem Unglück der historischen Welt und der Schönheit der Landschaft, eine seltsam ungebundene Gestalt von grundsätzlich auswärtiger Verfassung, kultiviert, diskret und ernst. Die Krise, das unbehagliche Gefühl ist sein Leitstern, und ihm folgt er, als sein Leben nach der Pensionierung ins Wanken gerät. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, so entdeckt er, ist er auf einem "Kindertransport" aus der Tschechoslowakei nach England geschickt worden. Er fährt nach Prag, findet seinen Namen im tschechischen Staatsarchiv, begegnet seinem Kindermädchen, entdeckt seine Muttersprache wieder, folgt den Spuren seiner Mutter nach Theresienstadt. Und irgendwann löst sich auch das Rätsel der Fotografie auf dem Buchumschlag. Der Kinderkavalier, der blondgelockte Knabe im schneeweißen Kostüm: Das ist er, bevor er seine Mutter Agáta, die Rosenkönigin, als Schleppenträger zu einem Maskenball begleitet. Aber dann führt auch dieser Weg nach Theresienstadt.
Warum muß Jacques Austerlitz all diese Dinge erfahren, warum wird er vom Antwerpener Bahnhof über das Naturalienkabinett von Andromeda Lodge zur Registraturkammer in Theresienstadt geführt, warum soll er eine Welt kennenlernen, die aus lauter Andenken besteht? "Genau kann niemand erklären, was in uns geschieht", sagt er, "wenn die Türe aufgerissen wird, hinter der die Schrecken der Kindheit verborgen sind." Ein solcher Satz ist keine Erklärung, ja nicht einmal eine Auskunft. Und doch steht dieser Satz an zentraler Stelle des Buches, nämlich zu Beginn der Reise in die Vergangenheit des Helden. So stellt sich der Verdacht ein, daß die Suche nach der persönlichen Identität, die diesem Buch das Handlungsschema liefert - daß dieser Gassenhauer der Selbstfindung nur ein Vorwand ist. Dahinter verbirgt sich ein Angriff auf jede Art von öffentlicher Geschichtsschreibung. Im gelassenen Erzähler steckt ein Polemiker, der einen Prozeß wider die Gegenwart eröffnen will - zu allerdings nicht ganz fairen Bedingungen.
Dieser Absicht verdankt sich das Genre: das "Prosabuch unbestimmter Art", das Amalgam aus Fiktion und Dokumentation, von Poesie, Essay und Tatsachenbericht. Dieser Absicht dienen auch die Fotografien, die Jacques Austerlitz unentwegt knipst und die in großer Zahl den Fluß des Textes unterbrechen. Denn sie dienen nicht der Beweisführung, sie haben nicht die Aufgabe, den Leser von der Wahrheit des Unglaublichen zu überzeugen. Statt dessen sind sie Teil einer Schwellenkunde. Fotografiert wird nicht, weil die abgebildeten Gegenstände existieren, sondern damit sie existieren. In ihnen geht es um die Privatheit der Erinnerung. Sie sind die Andenken, sie liefern den Stoff, damit die Wünschelruten ihre Arbeit aufnehmen können.
Auf dem Platz Austerlitz-Tolbiac stapelten sich im Jahr 1942 das Meißener Porzellan, die Perserteppiche und die Bibliotheken der Juden von Paris. An diesem Ort steht heute der Neubau der Bibliothèque Nationale. Ihm gilt die besondere Feindschaft von Jacques Austerlitz, er ist das absolute Gegenteil der privaten Erinnerung: ein "in seinem Monumentalismus offenbar von dem Selbstverewigungswillen des Staatspräsidenten inspirierten und, wie ich, sagte Austerlitz, gleich bei meinem ersten Besuch erkannt habe, in seiner ganzen äußeren Dimensionierung und inneren Konstitution menschenabweisendes und den Bedürfnissen jedes wahren Lesers von vornherein kompromißlos entgegengesetztes Gebäude". Durch eine lange Reihe gewaltig großer Anlagen geht der Leser von "Austerlitz", durch die Festung von Breendonk, durch den Justizpalast von Brüssel, durch das Konzentrationslager von Theresienstadt. Die Biblothèque Nationale, auch sie ein Monument der staatlichen Hybris, schließt diese Reihe ab: "wie ja überhaupt die ganze Geschichte im wahrsten Sinne begraben ist unter den Fundamenten der Grande Bibliothèque unseres pharaonischen Präsidenten". Drunten auf den menschenleeren Promenaden vergeht der letzte Rest Helligkeit.
Und so löst sich am Ende alles auf. W. G. Sebald hat ein Buch über die Theorie verfaßt, wie man Geschichte zu schreiben hat: und zwar allein zu dem Zweck, den einzelnen, das sonderbare Wesen, in all seiner Eigenheit hervorzubringen. Aber diese Theorie trägt ihren Widerspruch schon formal vor sich her: Denn der einzelne, und sei es ein Austerlitz mit seinen großen Taschen, erscheint ja keineswegs als einzelner, sondern als einer, an den schon wieder Tausende von Einzelheiten geknüpft haben. Und auch logisch hat das Unternehmen keinen festen Stand: Denn hätte W. G. Sebald recht, wäre dann wäre die Vergangenheit tatsächlich "begraben", abgedichtet gegen die Gegenwart. Und dann gäbe es den Helden Jacques Austerlitz nicht - und auch nicht den Erfolg dieser poetischen Geschichtsschreibung bei seinen Lesern. "Erwachet", ruft W. G. Sebald seinen Lesern zu. Aber das ist längst geschehen.
W.G. Sebald: "Austerlitz". Carl Hanser Verlag, München 2001. 416 S., geb., 46,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Kopfbahnhof der literarischen Welt heißt "Austerlitz", und darin befindet sich ein Saal der verlorenen Schritte: W. G. Sebald eröffnet einen Prozeß wider die Gegenwart / Von Thomas Steinfeld
Am Ende verläßt der Held sein Abteil im Expreßzug von Prag nach Hoek van Holland und geht durch eine deutsche Innenstadt. "Als erstes stach mir auf meiner Exkursion die große Zahl grauer, brauner und grüner Hüte in die Augen und überhaupt wie gut und zweckmäßig alles gekleidet, wie bemerkenswert solide das Schuhwerk der Nürnberger Fußgänger war." Der Held ist ob soviel Wohlstands beunruhigt, ihm fehlen auch die krummen Linien, die alte Häuser zu Dokumenten werden lassen. Schließlich ist er so entnervt, daß er unter einem Fensterbogen der "Nürnberger Nachrichten" Zuflucht sucht. Der Fensterbogen besteht aus "rötlichem Sandstein", und dem Helden wird immer "banger", während das Volk der Deutschen an ihm vorüberzieht. Da scheint das Schicksal ein Einsehen zu haben: Eine ältere Frau kommt vorbei, auf dem Kopf einen Tirolerhut mitsamt Hahnenfeder, und schenkt dem Benommenen, seines "alten Rucksacks" wegen, ein Markstück - geprägt, wie der Erzähler sorgfältig notiert, im Jahr 1956 und also ein Porträt Konrad Adenauers tragend: Der verwirrte Mann bekommt ein Andenken in die Hand gedrückt.
Kann W. G. Sebald ironisch sein, selbstironisch gar? In "Austerlitz", dem neuen Buch des in den vergangenen Jahren vor allem in den angelsächsischen Ländern zu erstaunlichem Ruhm gekommenen Schriftstellers, gibt es eine ganze Reihe von Stellen wie diese - Passagen, an denen es für einen Augenblick so aussieht, als sei auf der obersten Stufe einer langen Skala von immer geschichtsträchtiger, immer schicksalsschwerer, immer bedeutsamer werdenden Beobachtungen und Reflexionen ein kleiner, böser Witz, ein spöttisches Lachen voll bitterer Erkenntnis zu erwarten. Aber dann wird doch nichts daraus. Der Scherz war bitterer Ernst gewesen, und Deutschland verwandelt sich im Handumdrehen zurück in das "Original der so viele Jahre hindurch mich heimsuchenden Bilder". Die Episode mit dem Markstück hat also keine Pointe. Sie erzählt bloß von anrührender Hilflosigkeit und absichtsloser Schmähung. Und der Mann mit dem alten Rucksack trägt, wie so manche andere stumme Gestalt in deutschen Fußgängerzonen, in Wirklichkeit eine Tafel mit der Aufschrift "Erwachet" vor seiner Brust - nur daß diese Schrift, anders als bei den religiösen Eiferern, unsichtbar und an die Leser adressiert ist.
Wie die früheren Bücher von W. G. Sebald, wie "Die Ausgewanderten" aus dem Jahr 1992 und "Die Ringe des Saturn" von 1995, ist "Austerlitz" ein Buch der tausendundeinen Offenbarung. Aufgeschrieben ist darin die Geschichte eines einsamen, schwermütigen Wanderers namens Jacques Austerlitz, den der Erzähler in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre in der "salle des pas perdus", dem Wartesaal des Hauptbahnhofs von Antwerpen, kennenlernt: Er ist ein "beinahe jugendlich wirkender Mann mit blondem, seltsam gewelltem Haar, wie ich es sonst nur gesehen habe an dem deutschen Helden Siegfried in Langs Nibelungenfilm". Immer wieder treffen sich die beiden, zunächst zufällig, am Resopaltisch eines Cafés im Industriegebiet von Lüttich zum Beispiel, dann nach Botschaften und Verabredungen. Und jedesmal trägt Jacques Austerlitz schwere Wanderschuhe, eine Arbeitshose aus verschossener blauer Baumwolle sowie "ein maßgeschneidertes, aber längst aus der Mode gekommenes Anzugsjackett". Manchmal holt er einen Fotoapparat aus dem Rucksack, und bei soviel Neigung zum Aparten darf auch die Kamera nicht irgendein Gerät sein, sondern ist "eine alte Ensign mit ausfahrbarem Balg". Und stets kritzelt Jacques Austerlitz vor sich hin.
W. G. Sebald kann offenbar schreiben, was er will. Eines unterscheidet ihn von allen anderen deutschen Schriftstellern: seine Sprache. Er ist ein Meister des Periodenbaus, der ruhige Wellenschlag seiner Sätze erinnert an eine längst vergangene Kunst, die ins neunzehnte Jahrhundert gehört, zu Adalbert Stifter vielleicht, aber nicht einmal mehr ins frühe zwanzigste. In dieser Sprache wird das Persönliche, das Private, zu etwas schlicht und einfach Vorgefallenem, das Große schrumpft, und die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts verwandeln sich in beinahe beschauliche Ereignisse - und täten es ganz, gäbe es da nicht den leicht erschütterten Satzbau, die wohltemperierten Anakoluthe, die zu eilig daherkommenden und dabei über sich selbst stolpernden Verben und die vielen Verweise auf die Erzählsituation: "sagte er, sagte Austerlitz". Diese Sprache hat eine dreifache Wirkung: Sie schafft Distanz, sie stilisiert Austerlitz als unangreifbar literarische Figur, und sie ist das Zeugnis einer unendlich groß gewordenen Souveränität gegenüber dem Stoff.
Schritt für Schritt und meistens rückwärtsgehend, erzählt W. G. Sebald in "Austerlitz" die Lebensgeschichte des Mannes mit diesem Namen: Vor seiner frühzeitigen Pensionierung ist er dreißig Jahre lang Architekturhistoriker gewesen, Dozent an einem kunsthistorischen Institut in London, mit einem bis an die Decke mit Papieren und Büchern vollgestopften Arbeitsplatz in der Nähe des British Museum. Später werden auch die Jugend und das frühe Erwachsenenalter nachgereicht: Aufgewachsen als "Dafydd Elias" im Haus eines calvinistischen Predigers an der Küste von Wales, erfährt er erst als Heranwachsender, als Zögling des wunderlich verstaubten Internats von Stower Grange, daß er in Wirklichkeit Jacques Austerlitz heißt - womit die Suche nach dem Ursprung, das tragende und treibende Motiv dieses Buches, ihren Lauf nimmt: "Seit meiner Kindheit und Jugend", erläutert Jacques Austerlitz, "habe ich nicht gewußt, wer ich in Wahrheit bin." In den letzten Passagen des Buches, nach über vierhundert Seiten, ist er dieser "Wahrheit" nahegekommen - allerdings ohne klüger oder gar glücklicher geworden zu sein.
Das Buch hat noch gar nicht begonnen, als Jacques Austerlitz von friedlichen Proportionen spricht, und er tut es nur dieses eine Mal: Es seien "die unter dem Normalmaß rangierenden Bauten", erklärt er, "die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schleusenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen". Er selbst aber, die Figur des Jacques Austerlitz, ist nicht nach diesem Prinzip geschaffen. Was verbirgt sich nicht schon allein im Namen? "Austerlitz", das ist ein Schlachtfeld in Mähren, wo Napoleon im Dezember 1805 zwei andere Kaiser besiegte. "Austerlitz" ist auch der Bahnhof hinter dem Jardin des Plantes - und der Platz, auf dem die Nationalsozialisten die konfiszierte Habe der Juden von Paris haben aufbewahren lassen. Und "Austerlitz" ist schließlich auch das Lebensthema des Lehrers André Hilary, eines pensionierten Offiziers, der den Geschichtsunterricht am Internat von Stower Grange, eines Bandscheibenleidens wegen häufig auf dem Fußboden liegend, vortrug. Jacques Austerlitz ist viele Austerlitz., und der Name ist Programm: Seit diesem Frühjahr steht er in mächtigen Lettern über einem der größten Kopfbahnhöfe der literarischen Welt.
Aber er ist keine literarische Figur, und darin liegt die große Schwäche dieses "Prosabuchs unbestimmter Art". Austerlitz ist vielmehr der Sammelpunkt einer literarischen Technik, ein Mustermann für die poetische Welt des Schriftstellers W. G. Sebald, eine Archivgestalt von überdimensionalen Maßen, die alle Obsessionen dieses Autors in sich aufnimmt - und gegen die Harpo Marx mit seinem Staubmantel, in dem sich ein unendliches Arsenal von Gerätschaften befindet, von riesigen Scheren und monströsen Hupen bis zu flammenden Bunsenbrennern, eine kümmerliche Existenz abgibt.
Das Buch von "Austerlitz" ist eine Variation auf ein bekanntes Thema. Doch in den "Ausgewanderten" ging es um Menschen - um einen reichen englischen Arzt, um einen deutschen Lehrer, um einen jüdischen Maler deutscher Abstammung in Manchester und um den Butler der amerikanischen Bankiersfamilie Solomon. Alle vier Lebensläufe waren gezeichnet vom Entsetzen über die großen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts, und das heißt vor allem: vom Holocaust. Aber in den "Ausgewanderten" waren die vier Teile des Buches noch als diskrete Nacherzählungen komponiert, und dabei ging es immer wieder von neuem um die Rettung des Lebens in der Schrift. Dieses Motiv ist in "Austerlitz" verschwunden. Oder besser: Es ist in die Tasche eines einzelnen Helden gewandert, um dort als Wünschelrute für tausendundeine Offenbarung bereitzuliegen. Jacques Austerlitz herrscht - stellvertretend für seinen Autor - als absoluter Souverän in den dunklen Kammern des Gedächtnisses, als Erinnerungswächter, als Inquisitor der Vergegenwärtigung über die Jahrzehnte hinweg. Und alle Wege führen nach Theresienstadt.
Jacques Austerlitz ist ein Wanderer, einer, der nur im Provisorischen lebt und der auf seinem melancholischen Gang durch die Ruinen von einer Katastrophe in die nächste gerät. Er ist die Verbindung zwischen dem Unglück der historischen Welt und der Schönheit der Landschaft, eine seltsam ungebundene Gestalt von grundsätzlich auswärtiger Verfassung, kultiviert, diskret und ernst. Die Krise, das unbehagliche Gefühl ist sein Leitstern, und ihm folgt er, als sein Leben nach der Pensionierung ins Wanken gerät. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, so entdeckt er, ist er auf einem "Kindertransport" aus der Tschechoslowakei nach England geschickt worden. Er fährt nach Prag, findet seinen Namen im tschechischen Staatsarchiv, begegnet seinem Kindermädchen, entdeckt seine Muttersprache wieder, folgt den Spuren seiner Mutter nach Theresienstadt. Und irgendwann löst sich auch das Rätsel der Fotografie auf dem Buchumschlag. Der Kinderkavalier, der blondgelockte Knabe im schneeweißen Kostüm: Das ist er, bevor er seine Mutter Agáta, die Rosenkönigin, als Schleppenträger zu einem Maskenball begleitet. Aber dann führt auch dieser Weg nach Theresienstadt.
Warum muß Jacques Austerlitz all diese Dinge erfahren, warum wird er vom Antwerpener Bahnhof über das Naturalienkabinett von Andromeda Lodge zur Registraturkammer in Theresienstadt geführt, warum soll er eine Welt kennenlernen, die aus lauter Andenken besteht? "Genau kann niemand erklären, was in uns geschieht", sagt er, "wenn die Türe aufgerissen wird, hinter der die Schrecken der Kindheit verborgen sind." Ein solcher Satz ist keine Erklärung, ja nicht einmal eine Auskunft. Und doch steht dieser Satz an zentraler Stelle des Buches, nämlich zu Beginn der Reise in die Vergangenheit des Helden. So stellt sich der Verdacht ein, daß die Suche nach der persönlichen Identität, die diesem Buch das Handlungsschema liefert - daß dieser Gassenhauer der Selbstfindung nur ein Vorwand ist. Dahinter verbirgt sich ein Angriff auf jede Art von öffentlicher Geschichtsschreibung. Im gelassenen Erzähler steckt ein Polemiker, der einen Prozeß wider die Gegenwart eröffnen will - zu allerdings nicht ganz fairen Bedingungen.
Dieser Absicht verdankt sich das Genre: das "Prosabuch unbestimmter Art", das Amalgam aus Fiktion und Dokumentation, von Poesie, Essay und Tatsachenbericht. Dieser Absicht dienen auch die Fotografien, die Jacques Austerlitz unentwegt knipst und die in großer Zahl den Fluß des Textes unterbrechen. Denn sie dienen nicht der Beweisführung, sie haben nicht die Aufgabe, den Leser von der Wahrheit des Unglaublichen zu überzeugen. Statt dessen sind sie Teil einer Schwellenkunde. Fotografiert wird nicht, weil die abgebildeten Gegenstände existieren, sondern damit sie existieren. In ihnen geht es um die Privatheit der Erinnerung. Sie sind die Andenken, sie liefern den Stoff, damit die Wünschelruten ihre Arbeit aufnehmen können.
Auf dem Platz Austerlitz-Tolbiac stapelten sich im Jahr 1942 das Meißener Porzellan, die Perserteppiche und die Bibliotheken der Juden von Paris. An diesem Ort steht heute der Neubau der Bibliothèque Nationale. Ihm gilt die besondere Feindschaft von Jacques Austerlitz, er ist das absolute Gegenteil der privaten Erinnerung: ein "in seinem Monumentalismus offenbar von dem Selbstverewigungswillen des Staatspräsidenten inspirierten und, wie ich, sagte Austerlitz, gleich bei meinem ersten Besuch erkannt habe, in seiner ganzen äußeren Dimensionierung und inneren Konstitution menschenabweisendes und den Bedürfnissen jedes wahren Lesers von vornherein kompromißlos entgegengesetztes Gebäude". Durch eine lange Reihe gewaltig großer Anlagen geht der Leser von "Austerlitz", durch die Festung von Breendonk, durch den Justizpalast von Brüssel, durch das Konzentrationslager von Theresienstadt. Die Biblothèque Nationale, auch sie ein Monument der staatlichen Hybris, schließt diese Reihe ab: "wie ja überhaupt die ganze Geschichte im wahrsten Sinne begraben ist unter den Fundamenten der Grande Bibliothèque unseres pharaonischen Präsidenten". Drunten auf den menschenleeren Promenaden vergeht der letzte Rest Helligkeit.
Und so löst sich am Ende alles auf. W. G. Sebald hat ein Buch über die Theorie verfaßt, wie man Geschichte zu schreiben hat: und zwar allein zu dem Zweck, den einzelnen, das sonderbare Wesen, in all seiner Eigenheit hervorzubringen. Aber diese Theorie trägt ihren Widerspruch schon formal vor sich her: Denn der einzelne, und sei es ein Austerlitz mit seinen großen Taschen, erscheint ja keineswegs als einzelner, sondern als einer, an den schon wieder Tausende von Einzelheiten geknüpft haben. Und auch logisch hat das Unternehmen keinen festen Stand: Denn hätte W. G. Sebald recht, wäre dann wäre die Vergangenheit tatsächlich "begraben", abgedichtet gegen die Gegenwart. Und dann gäbe es den Helden Jacques Austerlitz nicht - und auch nicht den Erfolg dieser poetischen Geschichtsschreibung bei seinen Lesern. "Erwachet", ruft W. G. Sebald seinen Lesern zu. Aber das ist längst geschehen.
W.G. Sebald: "Austerlitz". Carl Hanser Verlag, München 2001. 416 S., geb., 46,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Schon lange ist W.G. Sebalds Erzählkunst in der gegenwärtigen deutschen Literatur etwas Einzigartiges. In dieser beunruhigend formvollendeten Geschichte hat sie eine Art Vollkommenheit erreicht. Dass der Versuch gelingen könnte, Hebels Unverhofftes Wiedersehen, diese anderthalb Seiten makellose Prosa über die Wiederkehr der Toten und die Aufhebung der Zeit, in einem vierhundertseitigen Buch gleichsam neu zu erzählen: das wäre ein poetisches Wunder. Hier ist es geschehen." (Heinrich Detering, Literaturen, 3/4 2001)
"Man liest das Buch wie im Sog, gefesselt und fasziniert wie von einem jener bösen deutschen Märchen in denen man, wie es in den "Ausgewanderten" heißt, "einmal in Bann geschlagen, mit dem Erinnern fortfahren muss, bis einem das Herz bricht". (Andrea Köhler, Neue Zürcher Zeitung, 24./25.02.01)
"Man liest das Buch wie im Sog, gefesselt und fasziniert wie von einem jener bösen deutschen Märchen in denen man, wie es in den "Ausgewanderten" heißt, "einmal in Bann geschlagen, mit dem Erinnern fortfahren muss, bis einem das Herz bricht". (Andrea Köhler, Neue Zürcher Zeitung, 24./25.02.01)