Sobald der feste Muskel des beim Verzehr noch lebenden Tiers durchtrennt ist, offenbart sich der darin lebende Mollusk: Er hat ein Herz, aber kein Gehirn, dafür Magen, Darm und After. Vielleicht steht die Auster genau deswegen im Zentrum erotischer Fantasien, als Inbegriff der Kreatürlichkeit. Als solcher findet sie im 16. Jahrhundert Eingang in die Malerei, um schließlich im 19. Jahrhundert eine Popularisierung zu erfahren: Bevor die Auster zur Delikatesse wurde, war sie billiges Streetfood, ein Arme-Leute-Essen. Und lange bevor die Queer Theory die Frage nach dem Geschlecht zu verflüssigen suchte, war diese unscheinbare Meeresbewohnerin bereits eine Meisterin der gender fluidity: Je nach Witterung wechseln Austern mehrmals im Leben ihr Geschlecht. Auf den Spuren dieses faszinierenden Tiers begibt sich Andreas Ammer auf Fischmärkte, in Hafenlokale und auf Schiffe, um letztendlich doch immer zu diesem einen Moment zurückzukehren: der Oyster Conversion Experience, der lebensverändernden Begegnung mit diesem unsichtbaren Meerestier, dessen Geschmack nach Ozean er immer wieder herbeisehnt. Und zu der Frage, wie sich von einem Tier erzählen lässt, das zwar schon weitaus länger als der Mensch lebt, sich jedoch die allermeiste Zeit zwischen zwei Schalen verbirgt.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Marie Schmidt hat nach der Lektüre des neuen Bands aus der Reihe der Tier- und Pflanzenporträts von Matthes & Seitz ein noch distanzierteres Verhältnis zur Auster. Zum einen, weil Andreas Ammer sein Thema recht unverdaulich angeht, findet die Rezensentin, zum anderen, weil der Autor die uralte Molluske als ein lebenslang einsames Wesen charakterisiert. Andererseits hat Schmidt im historischen Teil des Buches einiges über dieses äußerst widerstandsfähige Wesen und die Konsequenzen gelernt, die aus der massenhaften Zucht entstanden sind: Schadlos könne eine Auster das ganze Jahr über geknackt werden. Dass der Muskel nicht nur roh, sondern auch gekocht oder pochiert eine Delikatesse sein soll, kann sich Schmidt beim besten Willen nicht vorstellen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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