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Fünf Studien über Autobiographen, die die Spannung von geschichtlicher und natürlicher Identität zum Ausdruck bringen.

Produktbeschreibung
Fünf Studien über Autobiographen, die die Spannung von geschichtlicher und natürlicher Identität zum Ausdruck bringen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.04.1996

Immer diese chaotische Zukunft
Michael Jaeger weiß Rat: Lieber Dilthey statt Nietzsche

"Autobiographie und Geschichte" - der Titel kündigt ein gewaltiges Programm an, und man ist daher zunächst über die Auswahl der Autoren verwundert, anhand derer es abgehandelt werden soll. Mutet diese Wahl doch recht zufällig an. Sie erklärt sich indessen, zumindest teilweise, aus der Grundthese, Nietzsche und Dilthey hätten "auf die Herausforderung einer chaotischen Zukunft" kontradiktorisch geantwortet. Nietzsche wird dabei purer Nihilismus in Gestalt eines radikalen Subjektivismus zugeschrieben, Dilthey aber der Historismus, und zwar verstanden als die am tiefsten und weitesten reichende Form von Geschichtsverständnis. Die vermeintliche Alternative soll den theoretischen und geistesgeschichtlichen Hintergrund bestimmen, "von dem die Geschichtsdeutung in den Autobiographien des 20. Jahrhunderts betrachtet werden muß".

Muß! Anstatt diese problematische These als Hypothese offenzuhalten oder wenigstens zu erproben, wird sie schon in der Einleitung wie ein Glaubenssatz verkündet. Nur von dieser Basis her erklärt sich die einzigartige Erhöhung, die dem Dilthey-Erben und Verwalter Georg Misch hier widerfährt. Seine "enzyklopädischen Forschungen" werden gar genial genannt. Sollten wir alle, die wir in Mischs riesiger, unvollendet gebliebener "Geschichte der Autobiographie" ein zwar unentbehrliches, aber nie ohne leises Stöhnen benutztes Fleißwerk gesehen haben, so ganz blind gewesen sein? Mischs Historiographie des Selbstbewußtseins illustriere "nicht weniger als Diltheys philosophische Theorie der Selbstreflexion die zeittypisch veränderte Relation von Selbst- und Geschichtsdeutung".

Die entscheidende Verstärkung als Antipode Nietzsches erfährt Dilthey jedoch weniger durch Misch als vielmehr durch Karl Löwith, und dies, obwohl Löwith Diltheys These von der uneingeschränkten Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz am entschiedensten verneint habe. Die Paradoxie löst sich für den Autor auf, weil Löwith 1940 in der Emigration an einem 1000-Dollar-Preisausschreiben der Universität Harvard zum Thema "Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933" teilnahm und sein autobiographischer "Bericht" sich angeblich "als streng konzipiertes Gegenbild zum ,Ecce homo' Nietzsches" lesen läßt. Im Hinblick auf die Fragestellung der Untersuchung sei diese Selbstbiographie als ein Glücks- und Idealfall anzusehen, denn Löwith habe seine wissenschaftliche Arbeit zu einem großen Teil den "Geschichtsbildern bzw. Geschichtsphilosophien und ihren - meist fatalen - Konsequenzen für die Freiheit des Individuums gewidmet".

Doch bleibt zu fragen, ob es sich da nicht viel eher um einen Problem- anstatt um einen Glücksfall handelt. Denn Löwiths Nietzsche-Deutung ist, bei allem Verdienst, nicht einfach nur deshalb historisch geworden, weil inzwischen Jahrzehnte vergangen sind, sondern weil sich in diesen Jahrzehnten ein so differenziertes Verständnis von Nietzsches Philosophie und nicht zuletzt auch von seinem Geschichtsverständnis herausgebildet hat, daß eine Zuordnung, wie sie ihm hier als Antipoden Diltheys widerfährt, nur möglich ist, wenn mehr als dreißig Jahre Nietzsche-Forschung weitgehend ausgeklammert werden.

Davon zeugt nicht nur die von Jaeger benutzte oder auch ignorierte Literatur, sondern die wieder und wieder auftretende Reduktion von Nietzsches Philosophie auf die generalisierenden Schlagwörter. Der an Dilthey contra Nietzsche gewonnenen Orientierung bleiben, positiv oder negativ, auch die übrigen Autoren unterworfen. Die einheitstiftende These des Buches droht dabei viele bedenkenswerte Details zu überlagern. Das ist auch deshalb zu bedauern, weil die historisch-hermeneutische Tradition gegen modische Tendenzen der Geisteswissenschaften ohne die übliche Halbherzigkeit mit Überzeugungskraft verteidigt wird. ECKHARD HEFTRICH

Michael Jaeger: "Autobiographie und Geschichte". Wilhelm Dilthey, Georg Misch, Karl Löwith, Gottfried Benn, Alfred Döblin. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart und Weimar 1995. 376 S., br., 68,- DM.

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