Eine ergreifende Lebensgeschichte in Selbstzeugnissen und Briefen des Dichters, der die Verfolgung in Frankreich und Italien überlebte.»Was denn? Eine so tief persönliche Sache wie das, was Sie erleben mußten?! Wartet denn die Welt nicht auf ein Prosawerk, in dem einer, das, was schon viele gesagt haben, noch einmal sagt: zum ersten Mal?!«, so Werner Kraft aus Jerusalem, einer von vielen, mit denen Ludwig Greve regelmäßig Briefe wechselte. Der Schriftsteller korrespondierte u. a. mit Ludwig von Ficker, Wilhelm Lehmann, Hannah Arendt oder Helmut Heißenbüttel: Sie alle ließen es nicht an Aufforderungen und Ermutigungen fehlen, seine Lebensgeschichte zu erzählen, »zum ersten Mal«!Die vorliegende Edition versammelt die verstreut erschienenen Teile dieser Geschichte: Sie dokumentiert die in den frühen Fünfzigerjahren aufgezeichneten Fluchtberichte aus Deutschland und zeigt die Gründe für Greves Rückkehr nach Deutschland und sein »Festhalten an der Sprache als der eigentlichen Identität« in über 400 Briefen aus den Jahren 1944 bis 1991.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Alexander Košenina erntet reiche Lesefrüchte mit den dreibändigen von Friedrich Pfäfflin und Eva Dambacher herausgegebenen autobiografischen Schriften und Briefen von Ludwig Greve, ehemals Leiter des Marbacher Literaturarchivs. Košenina liest, wie Greve nur knapp den Nazischergen entkommt, wie er Vater und Schwester verliert und mit der Mutter nach Palästina emigiert, alles vom Autor prägnant, nüchtern und geistig scharf gefasst, wie der Rezensent versichert, der das Vorbild Karl Kraus deutlich heraushört. Einen Schlüssel zu dem so tönenden Erzählen über das Unfassbare findet Košenina in Ingo Schulzes Einleitungsessay, der Imre Kertész' "atonales Erzählen" dafür ins Spiel bringt, als ein Sprechen jenseits von Konvention und Tradition.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.08.2013Die einzige Sicherheit im Leben ist Schreiben
Vom Sprechen und Träumen: Die Briefe und autobiographischen Texte des Autors und Bibliothekars Ludwig Greve liegen in drei Bänden vor
Was für ein Leben! Odyssee klingt dafür beinahe zu harmlos: Ludwig Greve irrte unfreiwillig herum, bis er 1957 eine Heimat im Marbacher Literaturarchiv fand. Als Nachfolger des im letzten Monat verstorbenen Paul Raabe, mit dem Greve die legendäre Expressionismus-Ausstellung 1960 zusammengestellt hatte, leitete er diese Bibliothek für zwei Jahrzehnte. Mit seinem "Verfolgungsbericht" ging der bescheidene Mann dort nicht hausieren, er schrieb ihn aber immer wieder auf.
In drei gediegenen und sorgfältig kommentierten Bänden bringen jetzt Greves ehemalige Marbacher Kollegen Friedrich Pfäfflin und Eva Dambacher dieses Leben an die Öffentlichkeit. 1933, als Ludwig Greve (1924 bis 1991) noch die Berliner Volksschule am Prenzlauer Berg besuchte, scheidet sein Vater als langjähriges Vorstandsmitglied aus der Wäschefabrik Borchardt im Jakobowitzhof aus, wo heute Suhrkamp residiert. Aus einer neugegründeten Hemdenmanufaktur wird er 1938 entlassen und als Jude gleich nach dem Novemberpogrom für zwei Monate im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert. Schon 1936 sucht die Familie Möglichkeiten für eine Emigration nach Straßburg oder Manchester, im Mai 1939 geht man mit Visa nach Kuba auf die Schiffsreise. Dort darf man aber nicht landen, wird auch vor Florida abgedrängt und zur Umkehr nach Europa gezwungen. In Frankreich fällt die Familie auseinander. Greve geht durch Heime, flieht vor der Gendarmerie, lebt wochenlang in Wäldern, schließt sich als Louis Gabier der Résistance an, entgeht Anfang 1943 um ein Haar der Deportation nach Auschwitz, schlägt sich schließlich mit der Familie in die italienischen Berge des Piemont durch.
Hier setzen die meisten der autobiographischen Dokumente an. Immer wieder erzählt er von einem Artillerieangriff deutscher Truppen im Januar 1944. Greve saß lesend in einer Kneipe neben der Kirche, während weiter unten Haus und Scheune, die Orte ihrer Zuflucht, unter Granaten lagen. Die Mutter wird lebensgefährlich verletzt und wäre an ihren eiternden Wunden auf der weiteren Flucht beinahe gestorben. Noch größer aber ist das Trauma vom Verschwinden von Vater und Schwester: Unter dem Vorwand, italienische Papiere in der Provinzhauptstadt ausstellen zu lassen, locken Carabinieri sie aus ihrem Bergdorf und schicken sie sogleich weiter in den Tod. Das Bild von den beiden, die sich auf der verschneiten Landstraße auf immer entfernen, brennt sich Greve unauslöschlich ein. Es gleicht einem Wunder, dass im März 1945 die Flucht mit der Mutter nach Palästina gelingt.
Greve erzählt nüchtern, präzise, lakonisch. Literarisch hat er sich als Lyriker einen Namen gemacht, hier zeigt er sich aber als ausgezeichneter Prosaschriftsteller: "Ich spreche, schreibe, träume" - heißt es in der "Übersetzung meines Lebens in Lebensläufische" - "manchmal deutsch, berlinisch, französisch, englisch, italienisch. Ich spreche hebräisch. Ich kann arabisch fluchen. Im Zeitalter der Sicherheiten kenne ich eine: schreiben." Und die hier erstmals gedruckte "Eidesstattliche Versicherung" für das Amt für Wiedergutmachung in Baden-Württemberg - eine Präzisierung der oben angedeuteten schrecklichen Ereignisse - endet mit der geschickt formulierten Zuversicht, "der Behörde dazu verhelfen zu können, ebenso großzügig zu sein wie das Volk, das sie vertritt, im Morden es war".
Für solchen Hintersinn bringt Ingo Schulze in seinem vorzüglichen Einleitungsessay Imre Kertészs Kategorie des "atonalen Erzählens" ins Spiel: Kertész meint damit eine Sprache jenseits von Konvention und Tradition zur Darstellung von Ausnahmezuständen, etwa einem vom Holocaust zerbrochenen Leben. Solche notwendigen Widerhaken finden sich nicht nur in Greves autobiographischen Schriften, sondern auch in den beiden Briefbänden voll glänzend formulierter Botschaften. Da ist etwa ein Brief an Gottfried Benn, der auf eine sehr bereichernde Begegnung mit dem bewunderten "Meister" im Dezember 1953 folgt. Greve entschuldigt sich für seine abermalige Belästigung, betont, "kein commis-voyageur der Literatur" zu sein, und bittet dann Benn, einen Brief zu unterzeichnen, der sich gegen die Herabwürdigung der modernen Kunst HAP Grieshabers und der Bernstein-Schule durch die "Stuttgarter Zeitung" richtete: "wie kann ich Sie, und mich (ich bitte zu notieren: Sie Komma und mich), ignorieren?"
Die in einem Brief an Adorno geäußerte Furcht, "in meinen eigenen Sachen dem Wohllaut auf Kosten der Strenge nachgegeben zu haben", erweist sich bei Lektüre dieser Korrespondenz als unbegründet. Greve formuliert stets prägnant und mit geistiger Schärfe, das Vorbild Karl Kraus findet wiederholt Erwähnung. Am schönsten sind seine Entschuldigungen - rührend ehrlich und ganz ohne Floskeln: "Bitte verzeihen Sie nochmals den lächerlichen Anruf", schreibt er der verehrten Marie Luise Kaschnitz, "ich kam mir vor wie ein 19jähriger auf Brautwerbung."
ALEXANDER KOSENINA
Ludwig Greve: "Autobiographische Schriften und Briefe".
Hrsg. Friedrich Pfäfflin, Eva Dambacher. Essay von Ingo Schulze. Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 3 Bde., 1128 S., geb., 49,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Sprechen und Träumen: Die Briefe und autobiographischen Texte des Autors und Bibliothekars Ludwig Greve liegen in drei Bänden vor
Was für ein Leben! Odyssee klingt dafür beinahe zu harmlos: Ludwig Greve irrte unfreiwillig herum, bis er 1957 eine Heimat im Marbacher Literaturarchiv fand. Als Nachfolger des im letzten Monat verstorbenen Paul Raabe, mit dem Greve die legendäre Expressionismus-Ausstellung 1960 zusammengestellt hatte, leitete er diese Bibliothek für zwei Jahrzehnte. Mit seinem "Verfolgungsbericht" ging der bescheidene Mann dort nicht hausieren, er schrieb ihn aber immer wieder auf.
In drei gediegenen und sorgfältig kommentierten Bänden bringen jetzt Greves ehemalige Marbacher Kollegen Friedrich Pfäfflin und Eva Dambacher dieses Leben an die Öffentlichkeit. 1933, als Ludwig Greve (1924 bis 1991) noch die Berliner Volksschule am Prenzlauer Berg besuchte, scheidet sein Vater als langjähriges Vorstandsmitglied aus der Wäschefabrik Borchardt im Jakobowitzhof aus, wo heute Suhrkamp residiert. Aus einer neugegründeten Hemdenmanufaktur wird er 1938 entlassen und als Jude gleich nach dem Novemberpogrom für zwei Monate im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert. Schon 1936 sucht die Familie Möglichkeiten für eine Emigration nach Straßburg oder Manchester, im Mai 1939 geht man mit Visa nach Kuba auf die Schiffsreise. Dort darf man aber nicht landen, wird auch vor Florida abgedrängt und zur Umkehr nach Europa gezwungen. In Frankreich fällt die Familie auseinander. Greve geht durch Heime, flieht vor der Gendarmerie, lebt wochenlang in Wäldern, schließt sich als Louis Gabier der Résistance an, entgeht Anfang 1943 um ein Haar der Deportation nach Auschwitz, schlägt sich schließlich mit der Familie in die italienischen Berge des Piemont durch.
Hier setzen die meisten der autobiographischen Dokumente an. Immer wieder erzählt er von einem Artillerieangriff deutscher Truppen im Januar 1944. Greve saß lesend in einer Kneipe neben der Kirche, während weiter unten Haus und Scheune, die Orte ihrer Zuflucht, unter Granaten lagen. Die Mutter wird lebensgefährlich verletzt und wäre an ihren eiternden Wunden auf der weiteren Flucht beinahe gestorben. Noch größer aber ist das Trauma vom Verschwinden von Vater und Schwester: Unter dem Vorwand, italienische Papiere in der Provinzhauptstadt ausstellen zu lassen, locken Carabinieri sie aus ihrem Bergdorf und schicken sie sogleich weiter in den Tod. Das Bild von den beiden, die sich auf der verschneiten Landstraße auf immer entfernen, brennt sich Greve unauslöschlich ein. Es gleicht einem Wunder, dass im März 1945 die Flucht mit der Mutter nach Palästina gelingt.
Greve erzählt nüchtern, präzise, lakonisch. Literarisch hat er sich als Lyriker einen Namen gemacht, hier zeigt er sich aber als ausgezeichneter Prosaschriftsteller: "Ich spreche, schreibe, träume" - heißt es in der "Übersetzung meines Lebens in Lebensläufische" - "manchmal deutsch, berlinisch, französisch, englisch, italienisch. Ich spreche hebräisch. Ich kann arabisch fluchen. Im Zeitalter der Sicherheiten kenne ich eine: schreiben." Und die hier erstmals gedruckte "Eidesstattliche Versicherung" für das Amt für Wiedergutmachung in Baden-Württemberg - eine Präzisierung der oben angedeuteten schrecklichen Ereignisse - endet mit der geschickt formulierten Zuversicht, "der Behörde dazu verhelfen zu können, ebenso großzügig zu sein wie das Volk, das sie vertritt, im Morden es war".
Für solchen Hintersinn bringt Ingo Schulze in seinem vorzüglichen Einleitungsessay Imre Kertészs Kategorie des "atonalen Erzählens" ins Spiel: Kertész meint damit eine Sprache jenseits von Konvention und Tradition zur Darstellung von Ausnahmezuständen, etwa einem vom Holocaust zerbrochenen Leben. Solche notwendigen Widerhaken finden sich nicht nur in Greves autobiographischen Schriften, sondern auch in den beiden Briefbänden voll glänzend formulierter Botschaften. Da ist etwa ein Brief an Gottfried Benn, der auf eine sehr bereichernde Begegnung mit dem bewunderten "Meister" im Dezember 1953 folgt. Greve entschuldigt sich für seine abermalige Belästigung, betont, "kein commis-voyageur der Literatur" zu sein, und bittet dann Benn, einen Brief zu unterzeichnen, der sich gegen die Herabwürdigung der modernen Kunst HAP Grieshabers und der Bernstein-Schule durch die "Stuttgarter Zeitung" richtete: "wie kann ich Sie, und mich (ich bitte zu notieren: Sie Komma und mich), ignorieren?"
Die in einem Brief an Adorno geäußerte Furcht, "in meinen eigenen Sachen dem Wohllaut auf Kosten der Strenge nachgegeben zu haben", erweist sich bei Lektüre dieser Korrespondenz als unbegründet. Greve formuliert stets prägnant und mit geistiger Schärfe, das Vorbild Karl Kraus findet wiederholt Erwähnung. Am schönsten sind seine Entschuldigungen - rührend ehrlich und ganz ohne Floskeln: "Bitte verzeihen Sie nochmals den lächerlichen Anruf", schreibt er der verehrten Marie Luise Kaschnitz, "ich kam mir vor wie ein 19jähriger auf Brautwerbung."
ALEXANDER KOSENINA
Ludwig Greve: "Autobiographische Schriften und Briefe".
Hrsg. Friedrich Pfäfflin, Eva Dambacher. Essay von Ingo Schulze. Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 3 Bde., 1128 S., geb., 49,- [Euro].
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