Autokinos liegen an der Peripherie, wo die Straßen und Geschichten enden, sie sind Grenzstationen, an denen Wirklichkeit und Illusion, Enge und Weite ineinanderfließen. Die Motoren sterben ab, doch die Bilder beginnen zu laufen und verbrennen den Treibstoff der Träume. Menschen sitzen hinter Windschutzscheiben, während vor ihren Augen die Geschichten ablaufen: auf der Leinwand wie im Rückspiegel, dessen Reflexe das eigene Gesicht fremd werden lassen. Und sie ahnen: Die Dinge, die du siehst, sind näher, als du glaubst. Albert Ostermaiers neue Gedichte erzählen von Momenten, da die Filme reißen, von Orten, wo die Rollen wechseln, von Schnitten ins Bewußtsein und vom Aufblenden der Hoffnungen vor dem Abspann. Sie drehen sich im Wendekreis des Tachos, beschleunigen aus dem Stillstand der Verhältnisse ins Tempo der Veränderung, vom Stau der Gefühle in den Geschwindigkeitsrausch der Sinne: »ein gedicht beginnt in der lobby eines hotels und endet mit der wimper auf einem kotflügel.«Und wenn alles gutgeht, die Autos in der nächsten Nacht auf ihre Plätze zurückkehren, die Scheinwerferaugen sich schließen und die Leinwand zu leuchten beginnt, dann ist »das leben ein kleiner billiger film den du nicht mehr nachsynchronisieren mußt«.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.2002Im Kühlhaus der Identitäten
Speerspitze der Bewegung: Gedichte von Albert Ostermaier
Albert Ostermaier ist der letzte nennenswerte deutsche Lyriker. Das muß man jedenfalls den jüngsten Anthologien der deutschen Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart ("Der neue Conrady" und "Deutsche Gedichte in einem Band" von Hans Joachim Simm) entnehmen, die ihm und seinen Texten übereinstimmend in ihren Sammlungen das letzte Wort und die abschließende Position einräumen. Verdienen es seine Gedichte wirklich, den vorläufigen Abschluß einer Kette deutscher Gedichte zu markieren, die immerhin Meisterstücke von Walther von der Vogelweide, Goethe, Brentano, Mörike, Heine, Hofmannsthal, Benn und Brecht vorzuweisen hat? Oder verdanken Ostermaiers Gedichte ihre Attraktivität nur auffallenden Oberflächenreizen und modischen Attitüden, wie manche Kritiker meinen?
Dieses Modische fällt in Ostermaiers jüngstem Gedichtband "Autokino" sofort wieder ins Auge: Der Sound seiner Gedichte ist unüberhörbar, und ihre Manier ist, jedenfalls auf den ersten Blick, leicht zu bemerken: Sie erscheinen - wie übrigens auch zahlreiche seiner dramatischen Texte - auf den Buchseiten als ungegliederte Kolumnen aus etwa gleich langen Zeilen; sie sind nicht in überschaubare Strophen abgeteilt, sondern formieren sich zu blockartigen Gebilden, deren Zusammensetzung erst erschlossen werden muß. Die durchgehende Kleinschreibung und die völlig fehlende Interpunktion erleichtern es ebenfalls nicht, sich zu orientieren. Nichts deutet darauf hin, wo Sinnabschnitte, Hervorhebungen, Abhängigkeiten anzunehmen sind. Alle Wörter scheinen gleichwertig zu sein; wo Sätze beginnen und enden, ist nicht sogleich zu erkennen.
Erst die Lektüre muß diese Strukturierung leisten und die grammatischen und semantischen Beziehungsverhältnisse zwischen den Wörtern herstellen. Dabei wird das Lektüretempo durch die typographische Einrichtung der Texte einerseits beschleunigt, weil keine Pausen- oder Betonungsmarkierungen den Lesefluß regulieren oder gar hemmen; andererseits wird das Tempo aber auch gedrosselt, weil jeder Leser seine individuelle Orientierung erst finden muß. Es handelt sich, so könnte man sagen, um dekonstruierte Texte, die vom Leser wieder rekonstruiert werden wollen.
Das hört sich kompliziert an. Aber es ist durchaus keine beschwerliche, sondern im Gegenteil eine lustvolle Tätigkeit, die dem Leser hier abverlangt wird. Denn er erfährt beim Entziffern der Gedichte zugleich seine eigene kombinatorische Produktivität. Er setzt zusammen, was seinem Verständnis nach zusammengehört. Und er entdeckt dabei, daß die zunächst ungegliedert erscheinenden Wörter sich zu sorgfältig formulierten Satzgefügen aus Haupt- und Nebensätzen zusammenschließen, so daß nicht wenige Gedichte sogar aus einem einzigen umfangreichen, schwungvollen, durch Binnenreime zusätzlich rhythmisch gegliederten Satz bestehen. Die dem Band "Autokino" beigefügte, nicht besonders professionell gemachte CD vermittelt allerdings nur einen ersten atmosphärischen Eindruck davon. Das coole Gleichmaß-Parlando der Stimme Ostermaiers geht mehrfach unter im Schlagrhythmus der Gitarre Bert Wredes. Man muß die Texte jedenfalls mitlesen, um sie verstehen zu können.
Wie der Titel "Autokino" schon sagt, geht es um Bewegung in mehrfacher Bedeutung: um bewegte Bilder im Kino und im TV und um die Fort-Bewegung im Auto, um das Fahren und um die Erfahrungen, die dabei gemacht werden. Gedichte wie "fernsehabend" und "sendeschluß", "o.m.u." (Original mit Untertiteln), "standphoto" und "straßenfilm", "autoschau", "im wendekreis des tachos" und "startschwierigkeiten" machen das schon in ihren Titeln deutlich: Es ist die durch Medien vermittelte Welt der modernen Kommunikation, des Verkehrs mit- und untereinander. Was vor aller Augen medial in Bewegung gesetzt wird, was wir selbst bewegen und was uns bewegt - davon handeln, bunt, tempo- und bilderreich, diese Gedichte.
Sie halten Situationen, Wahrnehmungen und Abläufe aus diesem thematischen Umkreis fest, wobei die Folge der Eindrücke und Kommentare einem assoziativen Verfahren zu folgen scheint, das von Wortbedeutungen und Wortklängen (Reimwörtern), Zitaten (auch aus Filmen) ausgelöst wird; doch diese gedankliche Parataxe wird konterkariert von einer grammatischen Hypotaxe: Die Sinneseindrücke gleiten ineinander, geraten in Abhängigkeitsverhältnisse des Raums und der Zeit; sie werden miteinander synchronisiert durch Relativsätze oder durch Konjunktionen wie "wenn", "während", "bis", "bevor", die dem Leser in Ostermaiers Gedichten geradezu inflationär begegnen:
ich werde dich ausziehen
müssen für den abspann
ob mein name auf deinem
herz auftaucht die ersten
blenden die scheinwerfer
auf und jagen mit offenen
verdecken hinaus bis sich
der regen über ihre köpfe
wie ein himmelsdach beugt
bevor er die aschenbecher an
der nächsten kreuzung unter
wasser setzt
heißt es beispielsweise in dem Gedicht "standphoto" über den Besuch in einem Autokino.
Im Unterschied zu vielen Gedichten der Gegenwart begnügen sich Ostermaiers Verse nicht mit stenogrammhaften Einzelwörtern und -bildern, die allenfalls in eine reduzierte Syntax eingebunden sind. Man könnte sie sogar als "Erzählgedichte" bezeichnen. Denn sie erzählen von den trivialen Sensationen aus der Film-, Fernseh- und Computerwelt, in der zwischen Authentizität und Rolle nicht mehr unterschieden werden kann: "was soll die ganze fron / authentisch zu sein zieh / eine line sternenstaub und / klick dir einen klon raub / dir die kopie von meiner / dns und es ist schluss mit / dem stress wir leben im / überfluss schaff dir ein / kühlhaus voller identitäten". Da wird ironisch und nach Herzenslust gereimt und gerappt, aber es gibt auch unterkühlt Zärtliches ("ich hauch dir mit / meinem eukalyptusatem / wellen durchs telefon") und - pfui! - sogar politische Töne: "übrigens finde ich es / gut dass man an ampeln / bei rot neuerdings auch / rechts abbiegen kann". Wer das allerdings nur als Wahlempfehlung lesen möchte, sollte auf die Lektüre des Gedichtes "leitkultur", aus dem dieses Zitat stammt, besser verzichten.
WULF SEGEBRECHT
Albert Ostermaier: "Autokino". Gedichte. Mit CD. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 111 S., geb., 20,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Speerspitze der Bewegung: Gedichte von Albert Ostermaier
Albert Ostermaier ist der letzte nennenswerte deutsche Lyriker. Das muß man jedenfalls den jüngsten Anthologien der deutschen Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart ("Der neue Conrady" und "Deutsche Gedichte in einem Band" von Hans Joachim Simm) entnehmen, die ihm und seinen Texten übereinstimmend in ihren Sammlungen das letzte Wort und die abschließende Position einräumen. Verdienen es seine Gedichte wirklich, den vorläufigen Abschluß einer Kette deutscher Gedichte zu markieren, die immerhin Meisterstücke von Walther von der Vogelweide, Goethe, Brentano, Mörike, Heine, Hofmannsthal, Benn und Brecht vorzuweisen hat? Oder verdanken Ostermaiers Gedichte ihre Attraktivität nur auffallenden Oberflächenreizen und modischen Attitüden, wie manche Kritiker meinen?
Dieses Modische fällt in Ostermaiers jüngstem Gedichtband "Autokino" sofort wieder ins Auge: Der Sound seiner Gedichte ist unüberhörbar, und ihre Manier ist, jedenfalls auf den ersten Blick, leicht zu bemerken: Sie erscheinen - wie übrigens auch zahlreiche seiner dramatischen Texte - auf den Buchseiten als ungegliederte Kolumnen aus etwa gleich langen Zeilen; sie sind nicht in überschaubare Strophen abgeteilt, sondern formieren sich zu blockartigen Gebilden, deren Zusammensetzung erst erschlossen werden muß. Die durchgehende Kleinschreibung und die völlig fehlende Interpunktion erleichtern es ebenfalls nicht, sich zu orientieren. Nichts deutet darauf hin, wo Sinnabschnitte, Hervorhebungen, Abhängigkeiten anzunehmen sind. Alle Wörter scheinen gleichwertig zu sein; wo Sätze beginnen und enden, ist nicht sogleich zu erkennen.
Erst die Lektüre muß diese Strukturierung leisten und die grammatischen und semantischen Beziehungsverhältnisse zwischen den Wörtern herstellen. Dabei wird das Lektüretempo durch die typographische Einrichtung der Texte einerseits beschleunigt, weil keine Pausen- oder Betonungsmarkierungen den Lesefluß regulieren oder gar hemmen; andererseits wird das Tempo aber auch gedrosselt, weil jeder Leser seine individuelle Orientierung erst finden muß. Es handelt sich, so könnte man sagen, um dekonstruierte Texte, die vom Leser wieder rekonstruiert werden wollen.
Das hört sich kompliziert an. Aber es ist durchaus keine beschwerliche, sondern im Gegenteil eine lustvolle Tätigkeit, die dem Leser hier abverlangt wird. Denn er erfährt beim Entziffern der Gedichte zugleich seine eigene kombinatorische Produktivität. Er setzt zusammen, was seinem Verständnis nach zusammengehört. Und er entdeckt dabei, daß die zunächst ungegliedert erscheinenden Wörter sich zu sorgfältig formulierten Satzgefügen aus Haupt- und Nebensätzen zusammenschließen, so daß nicht wenige Gedichte sogar aus einem einzigen umfangreichen, schwungvollen, durch Binnenreime zusätzlich rhythmisch gegliederten Satz bestehen. Die dem Band "Autokino" beigefügte, nicht besonders professionell gemachte CD vermittelt allerdings nur einen ersten atmosphärischen Eindruck davon. Das coole Gleichmaß-Parlando der Stimme Ostermaiers geht mehrfach unter im Schlagrhythmus der Gitarre Bert Wredes. Man muß die Texte jedenfalls mitlesen, um sie verstehen zu können.
Wie der Titel "Autokino" schon sagt, geht es um Bewegung in mehrfacher Bedeutung: um bewegte Bilder im Kino und im TV und um die Fort-Bewegung im Auto, um das Fahren und um die Erfahrungen, die dabei gemacht werden. Gedichte wie "fernsehabend" und "sendeschluß", "o.m.u." (Original mit Untertiteln), "standphoto" und "straßenfilm", "autoschau", "im wendekreis des tachos" und "startschwierigkeiten" machen das schon in ihren Titeln deutlich: Es ist die durch Medien vermittelte Welt der modernen Kommunikation, des Verkehrs mit- und untereinander. Was vor aller Augen medial in Bewegung gesetzt wird, was wir selbst bewegen und was uns bewegt - davon handeln, bunt, tempo- und bilderreich, diese Gedichte.
Sie halten Situationen, Wahrnehmungen und Abläufe aus diesem thematischen Umkreis fest, wobei die Folge der Eindrücke und Kommentare einem assoziativen Verfahren zu folgen scheint, das von Wortbedeutungen und Wortklängen (Reimwörtern), Zitaten (auch aus Filmen) ausgelöst wird; doch diese gedankliche Parataxe wird konterkariert von einer grammatischen Hypotaxe: Die Sinneseindrücke gleiten ineinander, geraten in Abhängigkeitsverhältnisse des Raums und der Zeit; sie werden miteinander synchronisiert durch Relativsätze oder durch Konjunktionen wie "wenn", "während", "bis", "bevor", die dem Leser in Ostermaiers Gedichten geradezu inflationär begegnen:
ich werde dich ausziehen
müssen für den abspann
ob mein name auf deinem
herz auftaucht die ersten
blenden die scheinwerfer
auf und jagen mit offenen
verdecken hinaus bis sich
der regen über ihre köpfe
wie ein himmelsdach beugt
bevor er die aschenbecher an
der nächsten kreuzung unter
wasser setzt
heißt es beispielsweise in dem Gedicht "standphoto" über den Besuch in einem Autokino.
Im Unterschied zu vielen Gedichten der Gegenwart begnügen sich Ostermaiers Verse nicht mit stenogrammhaften Einzelwörtern und -bildern, die allenfalls in eine reduzierte Syntax eingebunden sind. Man könnte sie sogar als "Erzählgedichte" bezeichnen. Denn sie erzählen von den trivialen Sensationen aus der Film-, Fernseh- und Computerwelt, in der zwischen Authentizität und Rolle nicht mehr unterschieden werden kann: "was soll die ganze fron / authentisch zu sein zieh / eine line sternenstaub und / klick dir einen klon raub / dir die kopie von meiner / dns und es ist schluss mit / dem stress wir leben im / überfluss schaff dir ein / kühlhaus voller identitäten". Da wird ironisch und nach Herzenslust gereimt und gerappt, aber es gibt auch unterkühlt Zärtliches ("ich hauch dir mit / meinem eukalyptusatem / wellen durchs telefon") und - pfui! - sogar politische Töne: "übrigens finde ich es / gut dass man an ampeln / bei rot neuerdings auch / rechts abbiegen kann". Wer das allerdings nur als Wahlempfehlung lesen möchte, sollte auf die Lektüre des Gedichtes "leitkultur", aus dem dieses Zitat stammt, besser verzichten.
WULF SEGEBRECHT
Albert Ostermaier: "Autokino". Gedichte. Mit CD. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 111 S., geb., 20,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ob der beträchtliche Ruhm, der Ostermeier in den letzten Jahren zuteil geworden ist, berechtigt ist, das zu überprüfen nimmt sich Wulf Segebrecht am neusten Band mit Lyrik des Autors vor. Die Manier, stellt er fest, ist auf den ersten Blick ersichtlich: hypotaktische Sätze ohne Punkt und Komma, geschichtet zu Zeilenblöcken, den Weg zum Sinn muss der Leser selber suchen, aber es gibt ihn, den Sinn, keine Frage, so Segebrecht, und das Finden und das Suchen bereiten durchaus Lust. Oftmals seien die Gedichte geradezu narrativ, dazu "bunt, tempo- und bilderreich", es werde "gereimt und gerappt", nachzuhören ist es auf einer beigegebenen CD, das Dichter-Parlando wird perkussiv unterstützt (und übertönt), so Segebrecht, der die CD insgesamt als "nicht besonders professionell gemacht" bezeichnet. Für die Gedichte selbst gilt, da lässt der Rezensent keinen Zweifel, das Gegenteil.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Das Lesen dieser Lektüre ist durchaus keine beschwerliche, sondern im Gegenteil eine lustvolle Tätigkeit, die dem Leser hier abverlangt wird.« Wulf Segebrecht Frankfurter Allgemeine Zeitung 20020812