Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.1995Stärker als das Wort
Peter Weiss und das Kino der Avantgarde · Von Ralf Konersmann
Das ideale Drehbuch, schrieb Luis Buñuel in seinen Erinnerungen, müsse von einem unscheinbaren und ganz banalen Vorfall ausgehen. Der Meister des surrealistischen Films gibt ein Beispiel. Wir sehen eine Straße, die eben von einem Bettler überquert wird. Aus dem geöffneten Fenster einer Luxuslimousine fällt eine halb aufgerauchte Zigarre. Der Bettler bückt sich danach. Ein anderes Auto fährt heran, und der Bettler ist tot.
Es braucht nur ein klein wenig Vorstellungskraft, um diese Geschichte als Filmsequenz zu bebildern. Aber wodurch genau entsteht der Reiz? Buñuel verweist auf die Vielzahl denkbarer Anknüpfungen. Tatsächlich steckt sein Beispiel voller Rätsel. Warum und weshalb kommen Bettler und Zigarre überhaupt zusammen? Was mag den Mann auf diese Straße geführt haben? Wer hat die Zigarre weggeworfen, und warum geschah es gerade in diesem Augenblick? Es gibt viele solcher Fragen, und alle müssen offenbleiben. Das Zusammentreffen der Ereignisse ist eine Apotheose des Zufalls. Niemals kommt die Geschichte zu einem Abschluß, sie läßt sich nur fortspinnen. Die Kombinationsgabe des Betrachters gelangt an immer neue Schnittpunkte und in immer neue Labyrinthe, in denen er sich, wie Buñuel sagt, zu entscheiden hat.
Peter Weiss deutet das Kino Buñuels als einen Wendepunkt in der Geschichte des Avantgardefilms. Die Schockwirkung und die tumultuarischen Bildeffekte von Buñuels erstem Film, dem "Andalusischen Hund" von 1928, feiert er als triumphale Absage - als Absage an den Ästhetizismus, als Absage an das selbstgenügsame Spiel mit Licht und Schatten und als Absage an das genüßliche Auskosten technischer Finessen. Buñuels Film, auf Anregung Salvador Dalís entworfen und schon wenig später binnen vierzehn Tagen in Billancourt gedreht, brach abrupt mit den Idiosynkrasien des gehobenen Geschmacks. Von nun an durfte die Filmsprache realistisch und schäbig sein, grau und alltäglich. Weiss entschlüsselt die Drastik der Mittel als Konsequenz ihrer Reinheit. "Un chien andalou", folgert er, war mehr als ein Fanal des surrealistischen épater le bourgeois. Der Film schuf eine eigene visuelle Sprache, die sich endlich von den konkurrierenden Ausdrucksformen, von Literatur, Schauspiel und Malerei, befreit hatte.
"Keine Handlung, keine Logik, kein Starspiel; nur dieses ständig rotierende Kaleidoskop" - auf diese Grundfigur, die Buñuel mit beispielloser Konsequenz erfaßt hatte, konzentriert sich fortan die Sprache des Films. Weiss hat dieses Bekenntnis zur Autonomie in einer eigenen experimentellen Arbeit unterstrichen. Sein Schwarzweißfilm "Studie IV" von 1954 schildert, nach seinen eigenen Worten, den "Befreiungsprozeß" eines Mannes. In einer Einstellung sieht man diesen Mann in einem Kästchen nach Papieren kramen, wo er eine Erklärung für seine Situation und seine Empfindungen zu finden hofft. Doch das zu Erwartende geschieht nicht. Die Papiere bleiben ungelesen. Die Hände des Mannes zerknüllen die Blätter, der Mann wirft sie zum Fenster hinaus. Die nächste Einstellung zeigt ihn, wie er oben am Fenster steht, während "die Papiere an der Hauswand hinunterschaukeln".
Die Szene illustriert die Grundthese des Filmästhetikers Peter Weiss. Zusammen mit den hinunterschaukelnden Papieren sinken Rede und Schrift, Wort und Begriff zu Boden, und was bleibt, ist allein die "widerhallende Offenheit" des dargebotenen Bildes. Folgt man Weiss, dann geht es beim Film nur um das bewegte Bild und seine intuitive Erfassung, um sonst nichts.
"Das Bild ist stärker als das Wort", sagt der Autor Peter Weiss. Man muß sich klarmachen, daß er, als er dies ausspricht, seine schriftstellerischen Leistungen noch vor sich hat. Die autobiographisch getönten Romane kommen erst fünf Jahre später, Mitte der sechziger Jahre folgen die dokumentarischen Theaterstücke, und die schriftstellerische Großanstrengung der letzten Jahre, die enzyklopädisch ausladende "Ästhetik des Widerstandes", erscheint erst ab 1975. All dies, was sich rückblickend überschauen und in Schaffensphasen gliedern läßt, wird durch die Filmästhetik schon vorgreifend in eine sprachskeptische Perspektive gerückt. Keine Beschreibung könne an die unmittelbare Wirkung des Bildes heranreichen, sagt Weiss. "Das Wort ist abstrakt. Das Bild konkret." Aus dieser Spannung gewinnt er die theoretische Grundlage seiner Filmästhetik. "Nicht das Anekdotische soll den Film prägen, sondern eine neue, rein visuelle Gewalt."
"Avantgarde Film" erschien 1956 erstmals auf schwedisch, und es war, das verdient eigens hervorgehoben zu werden, eine filmhistorische Pioniertat. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit erzählt Peter Weiss die Geschichte der filmischen Ausdrucksformen von Marey und Dulac bis zum skandinavischen Experimentalfilm Anfang der fünfziger Jahre. Beat Mazenauer hat die erstmals vollständige deutsche Übersetzung um Aufzeichnungen erweitert, die sich 1982 in Weiss' Nachlaß fanden. Das Resultat rechtfertigt den editorischen Aufwand. Der gleichfalls 1956 entstandene und möglicherweise 1961 nochmals überarbeitete Text des Anhangs birgt die theoretisch prägnantesten Formulierungen. Hier tritt die konzeptionelle Verbindung mit den schriftstellerischen und künstlerischen Plänen hervor, die Weiss damals verfolgte. Vergleiche zwischen den künstlerischen Ausdrucksformen lassen erkennen, wie er über Jahre hinweg zwischen literarischen, graphischen und filmischen Versuchen schwankte, um einen Ausdruck zu finden für sein Grundthema, für den Brückenschlag zwischen der Radikalität der sozialen Veränderung und der Individualität des persönlichen Schicksals.
Aus dem Abstand von vier Jahrzehnten betrachtet, kreuzen sich in "Avantgarde Film" zwei thematische Bezüge und zweierlei Lektüren. Die eine betont den Einschnitt im OEuvre des Universalisten Peter Weiss, die andere den Originalbeitrag zur Ästhetik des Films. Als Filmtheorie gelesen, beeindruckt "Avantgarde Film" durch die Straffheit, mit der hier noch einmal Ästhetik und Engagement, Kunst und Moral zur Deckung gebracht sind. Weiss entdeckt das technisch avancierte Ausdrucksmittel als Ausdrucksmittel der künstlerischen Avantgarde. Er feiert den Film als Zuflucht eines künstlerischen Engagements, das seine herkömmlichen Mittel bereits an die Grenzen des Möglichen getrieben hatte.
Vom Film und, wie es gelegentlich scheint, nur von ihm scheint Weiss sich die Offenbarung ganz neuer Möglichkeiten erhofft zu haben. Mit gelinder Emphase spricht er, statt über "Regisseure" oder gar "Filmemacher", von "Filmdichtern". Allein mit dieser Wortwahl ist seine künstlerische Ambition bezeichnet. Gleichgültig, ob Weiss sich auf Buñuel oder Cocteau einläßt, ob er Eisenstein oder Vigo kommentiert - stets sucht er den Kunstcharakter und damit das unverwechselbare "Wesen" des Films: die rhythmische Verbindung von Bild- und Tonkunst. Der Grundsätzlichkeit dieser Figur ist alles übrige verpflichtet. Die Ansprüche der Farbgebung ("Die Farbe kommt im Film immer dann am besten zur Geltung, wenn sie völlig unnatürlich verwendet wird") fügen sich dem ebenso wie die Belange des Klangs ("Es ist eine völlig neue Musik erforderlich, eine Art innersekretorischer Musik").
ür den Rummel und die Opulenz des Starkinos, für alles Dialogische und die Dramaturgie des Happy-Ends hat dieser Pathetiker der kargen Form kaum ein Achselzucken. Seine Kritik argumentiert strikt ästhetisch. Sie attackiert die mittelmäßigen Standards, alles bloß Unterhaltende, die Scheu vor dem Experiment. Weiss setzt dem die Pioniertaten der Avantgarde schroff entgegen: ihre Poesie, ihre Exklusivität, ihre Experimentierfreude. Befreit vom "Ballast der Vernunft und der Tradition", appelliere der Avantgardefilm an Intuition und Gefühl. Seine wichtigsten Gewährsleute sind Paul Wegener, René Clair, Man Ray, Hans Richter, Mario Peixoto und namentlich Carl Otto Dreyer, dessen Filme "Jeanne d'Arc" (1928), "Vampyr" (1932) und "Vredens dag" (1943) den Forderungen dieser Ästhetik so nahe kommen wie sonst nur Buñuel oder Vigo. Jean Vigos "Zéro de conduite" (1933) preist Weiss als Freudentaumel, als Groteske und als Aufruhr, der "wie eine Naturgewalt" um sich greife. In solchen Beschreibungen wird die Faszination deutlich, die Weiss dem Medium entgegenbrachte. Mit dem Film, so die Erwartung, werde die Avantgarde die Mächte des Mythischen für sich gewinnen.
Derlei Beschwörungen klingen herüber wie ein Echo aus vergangener Zeit. Der absolute Film, dessen Ausdrucksgestalt diese Ästhetik umkreist, erscheint als Monument der Revolte, als Provokation panischer Erregung, als künstlerische Gewalttat. Weiss selbst spricht die Sprache des Avantgardismus. Film, das ist für ihn der Appell an eine deformierte Natur und an eine verschüttete Wirklichkeit, der Angriff auf die Konvention und die Aufforderung zum Handeln. Sogar von einem speziellen "Realismus" ist die Rede, dessen visuelle Kraft die Bilder der Traumfabrik vertreiben werde. "Der erkünstelte Spielfilm, so, wie wir ihn täglich zu sehen bekommen, und so, wie er überall weiterproduziert wird, hat sich längst selbst überlebt - das große Publikum wandert Abend für Abend zu einer Leichenfigur und strengt sich an, des faden Geschmacks nicht bewußt zu werden."
Man könnte geneigt sein, solche Voraussagen abzutun. Der für die Avantgarde so charakteristische Trotz und das unbeirrbare Vertrauen in das tiefere Bündnis mit der "Wirklichkeit selbst" wirken heute leicht naiv. Für die Kunst, und das gilt ebenso für den Film, ist derlei Realistik kein Kriterium mehr. Gleichwohl ist die Unbedingtheit aufschlußreich, mit der Peter Weiss auf der Integrität der künstlerischen Form beharrte. Seine Filmtheorie ist engagiert und radikal, doch nirgends läßt sie sich dogmatisch vernehmen. Die Strenge dieses Entwurfs ist rein künstlerisch und so auch die Potentiale seiner Kritik. Mit Blick auf das kommerzielle Kino spricht Weiss vom Auseinandertreten von technischer Geschicklichkeit und künstlerischer Konsequenz. Wer wollte ihm da widersprechen? Peter Weiss erinnert an die Ausnahmen, an Buñuel und die anderen, und wie kein anderer vergegenwärtigt er ihr Faszinosum. Buñuel, sagt Weiss, gelangen Bilder voller Traumkraft, denn er zeigte, was unter den Künsten nur der Film zu erfassen vermag: die "unendliche Zusammengesetztheit eines Erlebnisses".
Peter Weiss: "Avantgarde Film". Aus dem Schwedischen übersetzt und herausgegeben von Beat Mazenauer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 208 S., br., 18,80 DM.
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Peter Weiss und das Kino der Avantgarde · Von Ralf Konersmann
Das ideale Drehbuch, schrieb Luis Buñuel in seinen Erinnerungen, müsse von einem unscheinbaren und ganz banalen Vorfall ausgehen. Der Meister des surrealistischen Films gibt ein Beispiel. Wir sehen eine Straße, die eben von einem Bettler überquert wird. Aus dem geöffneten Fenster einer Luxuslimousine fällt eine halb aufgerauchte Zigarre. Der Bettler bückt sich danach. Ein anderes Auto fährt heran, und der Bettler ist tot.
Es braucht nur ein klein wenig Vorstellungskraft, um diese Geschichte als Filmsequenz zu bebildern. Aber wodurch genau entsteht der Reiz? Buñuel verweist auf die Vielzahl denkbarer Anknüpfungen. Tatsächlich steckt sein Beispiel voller Rätsel. Warum und weshalb kommen Bettler und Zigarre überhaupt zusammen? Was mag den Mann auf diese Straße geführt haben? Wer hat die Zigarre weggeworfen, und warum geschah es gerade in diesem Augenblick? Es gibt viele solcher Fragen, und alle müssen offenbleiben. Das Zusammentreffen der Ereignisse ist eine Apotheose des Zufalls. Niemals kommt die Geschichte zu einem Abschluß, sie läßt sich nur fortspinnen. Die Kombinationsgabe des Betrachters gelangt an immer neue Schnittpunkte und in immer neue Labyrinthe, in denen er sich, wie Buñuel sagt, zu entscheiden hat.
Peter Weiss deutet das Kino Buñuels als einen Wendepunkt in der Geschichte des Avantgardefilms. Die Schockwirkung und die tumultuarischen Bildeffekte von Buñuels erstem Film, dem "Andalusischen Hund" von 1928, feiert er als triumphale Absage - als Absage an den Ästhetizismus, als Absage an das selbstgenügsame Spiel mit Licht und Schatten und als Absage an das genüßliche Auskosten technischer Finessen. Buñuels Film, auf Anregung Salvador Dalís entworfen und schon wenig später binnen vierzehn Tagen in Billancourt gedreht, brach abrupt mit den Idiosynkrasien des gehobenen Geschmacks. Von nun an durfte die Filmsprache realistisch und schäbig sein, grau und alltäglich. Weiss entschlüsselt die Drastik der Mittel als Konsequenz ihrer Reinheit. "Un chien andalou", folgert er, war mehr als ein Fanal des surrealistischen épater le bourgeois. Der Film schuf eine eigene visuelle Sprache, die sich endlich von den konkurrierenden Ausdrucksformen, von Literatur, Schauspiel und Malerei, befreit hatte.
"Keine Handlung, keine Logik, kein Starspiel; nur dieses ständig rotierende Kaleidoskop" - auf diese Grundfigur, die Buñuel mit beispielloser Konsequenz erfaßt hatte, konzentriert sich fortan die Sprache des Films. Weiss hat dieses Bekenntnis zur Autonomie in einer eigenen experimentellen Arbeit unterstrichen. Sein Schwarzweißfilm "Studie IV" von 1954 schildert, nach seinen eigenen Worten, den "Befreiungsprozeß" eines Mannes. In einer Einstellung sieht man diesen Mann in einem Kästchen nach Papieren kramen, wo er eine Erklärung für seine Situation und seine Empfindungen zu finden hofft. Doch das zu Erwartende geschieht nicht. Die Papiere bleiben ungelesen. Die Hände des Mannes zerknüllen die Blätter, der Mann wirft sie zum Fenster hinaus. Die nächste Einstellung zeigt ihn, wie er oben am Fenster steht, während "die Papiere an der Hauswand hinunterschaukeln".
Die Szene illustriert die Grundthese des Filmästhetikers Peter Weiss. Zusammen mit den hinunterschaukelnden Papieren sinken Rede und Schrift, Wort und Begriff zu Boden, und was bleibt, ist allein die "widerhallende Offenheit" des dargebotenen Bildes. Folgt man Weiss, dann geht es beim Film nur um das bewegte Bild und seine intuitive Erfassung, um sonst nichts.
"Das Bild ist stärker als das Wort", sagt der Autor Peter Weiss. Man muß sich klarmachen, daß er, als er dies ausspricht, seine schriftstellerischen Leistungen noch vor sich hat. Die autobiographisch getönten Romane kommen erst fünf Jahre später, Mitte der sechziger Jahre folgen die dokumentarischen Theaterstücke, und die schriftstellerische Großanstrengung der letzten Jahre, die enzyklopädisch ausladende "Ästhetik des Widerstandes", erscheint erst ab 1975. All dies, was sich rückblickend überschauen und in Schaffensphasen gliedern läßt, wird durch die Filmästhetik schon vorgreifend in eine sprachskeptische Perspektive gerückt. Keine Beschreibung könne an die unmittelbare Wirkung des Bildes heranreichen, sagt Weiss. "Das Wort ist abstrakt. Das Bild konkret." Aus dieser Spannung gewinnt er die theoretische Grundlage seiner Filmästhetik. "Nicht das Anekdotische soll den Film prägen, sondern eine neue, rein visuelle Gewalt."
"Avantgarde Film" erschien 1956 erstmals auf schwedisch, und es war, das verdient eigens hervorgehoben zu werden, eine filmhistorische Pioniertat. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit erzählt Peter Weiss die Geschichte der filmischen Ausdrucksformen von Marey und Dulac bis zum skandinavischen Experimentalfilm Anfang der fünfziger Jahre. Beat Mazenauer hat die erstmals vollständige deutsche Übersetzung um Aufzeichnungen erweitert, die sich 1982 in Weiss' Nachlaß fanden. Das Resultat rechtfertigt den editorischen Aufwand. Der gleichfalls 1956 entstandene und möglicherweise 1961 nochmals überarbeitete Text des Anhangs birgt die theoretisch prägnantesten Formulierungen. Hier tritt die konzeptionelle Verbindung mit den schriftstellerischen und künstlerischen Plänen hervor, die Weiss damals verfolgte. Vergleiche zwischen den künstlerischen Ausdrucksformen lassen erkennen, wie er über Jahre hinweg zwischen literarischen, graphischen und filmischen Versuchen schwankte, um einen Ausdruck zu finden für sein Grundthema, für den Brückenschlag zwischen der Radikalität der sozialen Veränderung und der Individualität des persönlichen Schicksals.
Aus dem Abstand von vier Jahrzehnten betrachtet, kreuzen sich in "Avantgarde Film" zwei thematische Bezüge und zweierlei Lektüren. Die eine betont den Einschnitt im OEuvre des Universalisten Peter Weiss, die andere den Originalbeitrag zur Ästhetik des Films. Als Filmtheorie gelesen, beeindruckt "Avantgarde Film" durch die Straffheit, mit der hier noch einmal Ästhetik und Engagement, Kunst und Moral zur Deckung gebracht sind. Weiss entdeckt das technisch avancierte Ausdrucksmittel als Ausdrucksmittel der künstlerischen Avantgarde. Er feiert den Film als Zuflucht eines künstlerischen Engagements, das seine herkömmlichen Mittel bereits an die Grenzen des Möglichen getrieben hatte.
Vom Film und, wie es gelegentlich scheint, nur von ihm scheint Weiss sich die Offenbarung ganz neuer Möglichkeiten erhofft zu haben. Mit gelinder Emphase spricht er, statt über "Regisseure" oder gar "Filmemacher", von "Filmdichtern". Allein mit dieser Wortwahl ist seine künstlerische Ambition bezeichnet. Gleichgültig, ob Weiss sich auf Buñuel oder Cocteau einläßt, ob er Eisenstein oder Vigo kommentiert - stets sucht er den Kunstcharakter und damit das unverwechselbare "Wesen" des Films: die rhythmische Verbindung von Bild- und Tonkunst. Der Grundsätzlichkeit dieser Figur ist alles übrige verpflichtet. Die Ansprüche der Farbgebung ("Die Farbe kommt im Film immer dann am besten zur Geltung, wenn sie völlig unnatürlich verwendet wird") fügen sich dem ebenso wie die Belange des Klangs ("Es ist eine völlig neue Musik erforderlich, eine Art innersekretorischer Musik").
ür den Rummel und die Opulenz des Starkinos, für alles Dialogische und die Dramaturgie des Happy-Ends hat dieser Pathetiker der kargen Form kaum ein Achselzucken. Seine Kritik argumentiert strikt ästhetisch. Sie attackiert die mittelmäßigen Standards, alles bloß Unterhaltende, die Scheu vor dem Experiment. Weiss setzt dem die Pioniertaten der Avantgarde schroff entgegen: ihre Poesie, ihre Exklusivität, ihre Experimentierfreude. Befreit vom "Ballast der Vernunft und der Tradition", appelliere der Avantgardefilm an Intuition und Gefühl. Seine wichtigsten Gewährsleute sind Paul Wegener, René Clair, Man Ray, Hans Richter, Mario Peixoto und namentlich Carl Otto Dreyer, dessen Filme "Jeanne d'Arc" (1928), "Vampyr" (1932) und "Vredens dag" (1943) den Forderungen dieser Ästhetik so nahe kommen wie sonst nur Buñuel oder Vigo. Jean Vigos "Zéro de conduite" (1933) preist Weiss als Freudentaumel, als Groteske und als Aufruhr, der "wie eine Naturgewalt" um sich greife. In solchen Beschreibungen wird die Faszination deutlich, die Weiss dem Medium entgegenbrachte. Mit dem Film, so die Erwartung, werde die Avantgarde die Mächte des Mythischen für sich gewinnen.
Derlei Beschwörungen klingen herüber wie ein Echo aus vergangener Zeit. Der absolute Film, dessen Ausdrucksgestalt diese Ästhetik umkreist, erscheint als Monument der Revolte, als Provokation panischer Erregung, als künstlerische Gewalttat. Weiss selbst spricht die Sprache des Avantgardismus. Film, das ist für ihn der Appell an eine deformierte Natur und an eine verschüttete Wirklichkeit, der Angriff auf die Konvention und die Aufforderung zum Handeln. Sogar von einem speziellen "Realismus" ist die Rede, dessen visuelle Kraft die Bilder der Traumfabrik vertreiben werde. "Der erkünstelte Spielfilm, so, wie wir ihn täglich zu sehen bekommen, und so, wie er überall weiterproduziert wird, hat sich längst selbst überlebt - das große Publikum wandert Abend für Abend zu einer Leichenfigur und strengt sich an, des faden Geschmacks nicht bewußt zu werden."
Man könnte geneigt sein, solche Voraussagen abzutun. Der für die Avantgarde so charakteristische Trotz und das unbeirrbare Vertrauen in das tiefere Bündnis mit der "Wirklichkeit selbst" wirken heute leicht naiv. Für die Kunst, und das gilt ebenso für den Film, ist derlei Realistik kein Kriterium mehr. Gleichwohl ist die Unbedingtheit aufschlußreich, mit der Peter Weiss auf der Integrität der künstlerischen Form beharrte. Seine Filmtheorie ist engagiert und radikal, doch nirgends läßt sie sich dogmatisch vernehmen. Die Strenge dieses Entwurfs ist rein künstlerisch und so auch die Potentiale seiner Kritik. Mit Blick auf das kommerzielle Kino spricht Weiss vom Auseinandertreten von technischer Geschicklichkeit und künstlerischer Konsequenz. Wer wollte ihm da widersprechen? Peter Weiss erinnert an die Ausnahmen, an Buñuel und die anderen, und wie kein anderer vergegenwärtigt er ihr Faszinosum. Buñuel, sagt Weiss, gelangen Bilder voller Traumkraft, denn er zeigte, was unter den Künsten nur der Film zu erfassen vermag: die "unendliche Zusammengesetztheit eines Erlebnisses".
Peter Weiss: "Avantgarde Film". Aus dem Schwedischen übersetzt und herausgegeben von Beat Mazenauer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 208 S., br., 18,80 DM.
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