Als wäre er schon ein Schriftsteller, läßt sich der kleine Gyuri von seinen älteren Geschwistern Papier und Bleistift geben und beginnt zu schreiben: »Es war einmal ein jüdischer Priester und seine Frau. Die hatte drei Kinder. Die beiden älteren aber liebten sie mehr als das kleinste ...« Doch dieses Märchen wirft Gyuri ins Feuer, es kommt ihm so harmlos und abgeschmackt vor, wie ihm die Wirklichkeit falsch und gefühllos begegnet, in der er stets brav und verständig sein soll. Seit er bei seinem Großvater gelebt hat, kann er sich in diese Welt nicht mehr fügen. Der Großvater wollte ihn nach den strengen Regeln der Schrift erziehen, konnte aber sein Werk nicht vollenden, da er alt war und starb. Seine Eltern sind froh, daß sie ihren jüngsten Sohn wieder zurückhaben, aber wie anders ist das Leben bei ihnen? Sie denken nur an Geld und wie die Christen an Weiterkommen. Der Vater ist ein angesehener Rabbiner, aber, fragt sich Gyuri, glaubt er überhaupt, was er verkündet? Zwischen ihm und der angepaßten Welt der Juden und seinem Vater tut sich ein tiefer Graben auf. »Azarel« ist 1937 zum ersten Mal erschienen und wurde als Skandalon empfunden. Die böse Ahnung des Großvaters, daß die Juden in den Hochöfen der Assimilation verlöschen könnten, erfüllte sich auf tragische Weise im Leben des Autors, er 1945 in Bergen-Belsen ermordet wurde.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Visionär findet Rezensent Richard Kämmerlings diesen, im ungarischen Original zuerst vor fast siebzig Jahren erschienenen Roman. Denn Károly Paps in der Tradition des Entwicklungsromans geschilderter Blick ins Innere eines jungen Mannes aus religiöser jüdischer Familie überschreitet in den Augen des Rezensenten durch seine Tiefenschärfe die Kontingenz eines Einzelschicksals. Meisterhaft findet Kämmerlings im Roman die kindliche Psychologie mit religiöser Skepsis und einer radikalen Infragestellung des jüdischen Selbstverständnis verbunden. Auf diesem Weg wird "Azarel" für ihn auch zum Dokument einer "tiefen Prägung durch die Herkunft, die sich später mit einem vollkommen modernen künstlerischen Bewusstsein" amalgamiere. Beim Lesen dachte Kämmerlings an Anton Reiser, aber auch an Kafkas Ringen mit dem übermächtigen Vater und Canettis Buhlen um die Aufmerksamkeit der Mutter. Der Rezensent lobt außerdem die große Einfühlsamkeit der Übersetzung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.06.2004Was der Weise in seinem Herzen meidet
Erstmals übersetzt: Károly Paps Roman "Azarel", ein Klassiker der ungarisch-jüdischen Literatur
Über literarische Werke wird in letzter Zeit wieder gern Gericht gehalten, und vielleicht ist es ein Qualitätsmerkmal einer bestimmten Art von Romanen, daß sie ihre Leser ganz automatisch in Ankläger und Verteidiger spaltet. Im Jahr 1937 fand in Budapest ein bemerkenswerter Prozeß statt, ein "Literaturtribunal", veranstaltet vom Zionistischen Verein. Gegenstand dieser Gerichtsverhandlung war ein Buch, der Roman "Azarel" des ungarisch-jüdischen Schriftstellers Károly Pap, eine autobiographisch getönte Kindheitsgeschichte.
Die Anklagerede hielt ein Dr. Dénes Friedmann, der die Verletzung des vierten Gebots in den Mittelpunkt stellte: Der Roman lasse jeden Respekt des Autors vor seinen Eltern vermissen; zumal mit der Darstellung des Vaters werde der Rabbinerberuf als solcher in den Schmutz gezogen. Dr. Béla Dénes als Vertreter der Verteidigung führte dagegen den Kunstcharakter des Werkes ins Feld, der sich nicht durch eine Übereinstimmung von Einzelheiten mit der Realität bestreiten lasse: "Nicht die mechanische Treue der Fotografie ist die Wahrheit seiner Darstellung, sondern die der Vision." Schließlich trat der Autor selbst auf und bezichtigte sich der Grausamkeit - die aber nur ein notwendiges Mittel sei, um "in die Tiefen der jüdischen Seele zu sehen, die jenseits aller wirtschaftlichen Nöte und jenseits aller gesellschaftlichen Nöte sind: dorthin, wo das gemeinsamewige Menschliche haust, unabhängig von der Geburt und den Strömungen der Zeit".
Nun erst, nach fast siebzig Jahren, ist dieser Roman erstmals in deutscher Übersetzung erschienen. Der Streit von damals ist längst eine Fußnote der Literaturgeschichte, die später, nach der fast vollständigen Vernichtung des mitteleuropäischen Judentums, wie eine skurrile Episode im Schatten der Katastrophe, als Schlaglicht auf eine untergegangene Welt erscheint. Viele der damaligen Protagonisten, darunter der 1897 geborene Autor selbst und seine Familie, wurden ermordet. Und doch hat es gerade ein Buch wie "Azarel" verdient, nicht lediglich auf Vorzeichen des Späteren abgeklopft oder gar nur aus einem unbewußten Drang zur Wiedergutmachung gelesen zu werden. Denn "visionär", wie sein Verteidiger will, ist dieser nun auch bei uns zu entdeckende Roman nicht in bezug auf das zukünftige Schicksal der ungarischen Juden - was sich damals auch der hellsichtigste Künstler nicht hätte ausmalen können -, sondern in seinem Blick ins Innere eines jungen Menschen, dessen Tiefenschärfe die Kontingenz seines Einzelschicksals überschreitet.
In der Tradition des Entwicklungsromans wird hier die Kindheit Gyuri Azarels erzählt, des jüngsten Sohns des allseits angesehenen Rabbiners einer Stadt im Westen Ungarns. Gyuris dem Reformjudentum zuneigender Vater liegt in zermürbendem Dauerstreit mit dem streng orthodoxen Großvater Jeremias, einem Anhänger mystischer Lehrschriften wie der "Geheimen Auslegungen" und des "Gedeckten Tisches", der die Assimilationsbestrebungen der jüngeren Generation verurteilt und zumindest einen Sproß seiner Familie auf den rechten Weg zu Jahwe führen will.
Weil die Eltern dem Alten zur Besänftigung einen ihrer Söhne versprochen hatten, wird Gyuri von ihm erzogen und so zum Zeugen und Opfer eines religiösen Reinigungs- und Askesewahns, der den Greis schließlich in den Tod treibt und dem Enkel eine gehörige Neurose beschert: "Nach der Vorschrift des ,Gedeckten Tisches' murmelte, sprang und tanzte er um das Feuer und meinte, diese Wörter und Bewegungen kämen nicht aus der Erinnerung, sondern aus seinem Herzen, ganz wie Jahwe es verlangt hatte, der düstere orientalische Despot." Der Junge muß Fastenübungen und Reinigungsrituale über sich ergehen lassen; für ihn bestehen die Vorbereitungen für die Pilgerfahrt ins Heilige Land vor allem darin, daß der Großvater sein Spielzeug verbrennt. All das legt den Seelengrund für die spätere Krise, in der das um Aufmerksamkeit werbende Kind in die Rebellion gegen seine Familie getrieben wird. Gyuris Geschichte gewinnt durch die Schilderung dieser traumatischen Erinnerung gleich zu Beginn eine quälende Intensität, die gleichwohl in der Rückschau durch ironische Distanz gebändigt wird: "Sein Körper wehrte sich. Großvater verzog das Gesicht. Aber seine Seele planschte im Symbol."
Die Rückkehr zur Familie, zu den Eltern und den beiden älteren Geschwistern, läßt rasch den Grundkonflikt dieses Familienromans eskalieren: den Fängen des Großvaters entronnen, wird Gyuris Gefühl "unendlicher Wichtigkeit" und "beunruhigender Ausschließlichkeit" nicht befriedigt. Wie der junge Marcel in Combray buhlt der Junge um die Gunst und die Küsse der Mutter, will sich gar zum Schein aus dem Fenster stürzen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Es beginnt ein Teufelskreis: Gyuris Eifersucht und sein Geltungsdrang tragen ihm Liebesentzug, Strafen und den Vorwurf der Undankbarkeit seitens der Eltern ein. Und so flüchtet sich der Junge vor allem nach seiner Einschulung in eine Parallelwelt der Märchen und Fiktionen, in der alle Dinge belebt sind und nur um ihn allein kreisen. Über die Frage der Existenz Gottes kommt er schließlich zum offenen Konflikt mit dem Vater, der ihn verprügelt und als Lehrjungen weggeben will. Schließlich reißt Gyuri aus - in der Flucht zu den Christen sieht er seine letzte Chance -, will seinen Vater in der Synagoge bloßstellen und bricht schließlich zusammen, übermannt von Schuldgefühlen.
Pap, der selbst aus einer angesehenen Rabbinerfamilie stammt, verarbeitet offensichtlich eigene Erfahrungen. Die meisterhafte Darstellung der kindlichen Psychologie verbindet sich mit der religiösen Skepsis und einer radikalen Infragestellung des jüdischen Selbstverständnisses, die auch den um Erleuchtung ringenden Kaffeehausliteraten Pap im Budapest der dreißiger Jahre noch umgetrieben hat. Nach den Revolutionswirren nach dem Ersten Weltkrieg hatte Pap mit seinem konservativen Elternhaus gebrochen. "Azarel" ist so auch das Dokument einer tiefen Prägung durch die Herkunft, die sich später mit einem vollkommen modernen künstlerischen Bewußtsein amalgamiert. Vergleichen läßt sich Pap daher weniger mit anderen Chronisten jüdischen Lebens wie etwa Isaac B. Singer. Eher denkt man an die deutsche Tradition des (Anti-)Bildungsromans, vor allem an den "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz. Vergleichbar ist hier die Prägung durch religiöse idées fixes und der daraus folgende Hang zu überwacher Introspektion und Gewissenserforschung, die einer übertriebene Selbstzüchtigung die Tore öffnet. Aber man denkt auch an das Ringen eines Franz Kafka mit der übermächtigen Vaterfigur oder an Elias Canettis Buhlen um die Aufmerksamkeit seiner Mutter.
In seiner Sprache aber, die Hans Skirecki mit großer Einfühlung ins Deutsche gebracht hat, orientiert sich Pap an der Bibel und am Ton jüdischer Legenden. So tritt die traditionell anmutende Sprachgestalt des Romans in eine Spannung zur schonungslosen Musterung der Konventionen mit den von keinem Pragmatismus verstellten Augen des Heranwachsenden - ohne daß sich die Abrechnung je bis zum totalen Bruch steigern würde, gemäß dem Rat des Lehrers Chacham Tulczym: "Es gibt einen Ort, von dem alles lächerlich und verspottbar ist, und einen anderen, wo man über alles weinen kann. Diesen beiden Orten in seinem Herzen weicht der Weise aus."
Und was wurde eigentlich aus dem Tribunal? Es traf eine salomonische Entscheidung und vertagte sich auf die Zeit, wenn weitere Bände des Werks erschienen sein würden. Doch dazu kam es nicht mehr. Károly Pap, der lange an einem umfangreichen (und leider verlorenen) Jesus-Roman arbeitete, starb 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen.
Károly Pap: "Azarel". Roman. Aus dem Ungarischen übersetzt von Hans Skirecki. Luchterhand Verlag, München 2004. 304 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erstmals übersetzt: Károly Paps Roman "Azarel", ein Klassiker der ungarisch-jüdischen Literatur
Über literarische Werke wird in letzter Zeit wieder gern Gericht gehalten, und vielleicht ist es ein Qualitätsmerkmal einer bestimmten Art von Romanen, daß sie ihre Leser ganz automatisch in Ankläger und Verteidiger spaltet. Im Jahr 1937 fand in Budapest ein bemerkenswerter Prozeß statt, ein "Literaturtribunal", veranstaltet vom Zionistischen Verein. Gegenstand dieser Gerichtsverhandlung war ein Buch, der Roman "Azarel" des ungarisch-jüdischen Schriftstellers Károly Pap, eine autobiographisch getönte Kindheitsgeschichte.
Die Anklagerede hielt ein Dr. Dénes Friedmann, der die Verletzung des vierten Gebots in den Mittelpunkt stellte: Der Roman lasse jeden Respekt des Autors vor seinen Eltern vermissen; zumal mit der Darstellung des Vaters werde der Rabbinerberuf als solcher in den Schmutz gezogen. Dr. Béla Dénes als Vertreter der Verteidigung führte dagegen den Kunstcharakter des Werkes ins Feld, der sich nicht durch eine Übereinstimmung von Einzelheiten mit der Realität bestreiten lasse: "Nicht die mechanische Treue der Fotografie ist die Wahrheit seiner Darstellung, sondern die der Vision." Schließlich trat der Autor selbst auf und bezichtigte sich der Grausamkeit - die aber nur ein notwendiges Mittel sei, um "in die Tiefen der jüdischen Seele zu sehen, die jenseits aller wirtschaftlichen Nöte und jenseits aller gesellschaftlichen Nöte sind: dorthin, wo das gemeinsamewige Menschliche haust, unabhängig von der Geburt und den Strömungen der Zeit".
Nun erst, nach fast siebzig Jahren, ist dieser Roman erstmals in deutscher Übersetzung erschienen. Der Streit von damals ist längst eine Fußnote der Literaturgeschichte, die später, nach der fast vollständigen Vernichtung des mitteleuropäischen Judentums, wie eine skurrile Episode im Schatten der Katastrophe, als Schlaglicht auf eine untergegangene Welt erscheint. Viele der damaligen Protagonisten, darunter der 1897 geborene Autor selbst und seine Familie, wurden ermordet. Und doch hat es gerade ein Buch wie "Azarel" verdient, nicht lediglich auf Vorzeichen des Späteren abgeklopft oder gar nur aus einem unbewußten Drang zur Wiedergutmachung gelesen zu werden. Denn "visionär", wie sein Verteidiger will, ist dieser nun auch bei uns zu entdeckende Roman nicht in bezug auf das zukünftige Schicksal der ungarischen Juden - was sich damals auch der hellsichtigste Künstler nicht hätte ausmalen können -, sondern in seinem Blick ins Innere eines jungen Menschen, dessen Tiefenschärfe die Kontingenz seines Einzelschicksals überschreitet.
In der Tradition des Entwicklungsromans wird hier die Kindheit Gyuri Azarels erzählt, des jüngsten Sohns des allseits angesehenen Rabbiners einer Stadt im Westen Ungarns. Gyuris dem Reformjudentum zuneigender Vater liegt in zermürbendem Dauerstreit mit dem streng orthodoxen Großvater Jeremias, einem Anhänger mystischer Lehrschriften wie der "Geheimen Auslegungen" und des "Gedeckten Tisches", der die Assimilationsbestrebungen der jüngeren Generation verurteilt und zumindest einen Sproß seiner Familie auf den rechten Weg zu Jahwe führen will.
Weil die Eltern dem Alten zur Besänftigung einen ihrer Söhne versprochen hatten, wird Gyuri von ihm erzogen und so zum Zeugen und Opfer eines religiösen Reinigungs- und Askesewahns, der den Greis schließlich in den Tod treibt und dem Enkel eine gehörige Neurose beschert: "Nach der Vorschrift des ,Gedeckten Tisches' murmelte, sprang und tanzte er um das Feuer und meinte, diese Wörter und Bewegungen kämen nicht aus der Erinnerung, sondern aus seinem Herzen, ganz wie Jahwe es verlangt hatte, der düstere orientalische Despot." Der Junge muß Fastenübungen und Reinigungsrituale über sich ergehen lassen; für ihn bestehen die Vorbereitungen für die Pilgerfahrt ins Heilige Land vor allem darin, daß der Großvater sein Spielzeug verbrennt. All das legt den Seelengrund für die spätere Krise, in der das um Aufmerksamkeit werbende Kind in die Rebellion gegen seine Familie getrieben wird. Gyuris Geschichte gewinnt durch die Schilderung dieser traumatischen Erinnerung gleich zu Beginn eine quälende Intensität, die gleichwohl in der Rückschau durch ironische Distanz gebändigt wird: "Sein Körper wehrte sich. Großvater verzog das Gesicht. Aber seine Seele planschte im Symbol."
Die Rückkehr zur Familie, zu den Eltern und den beiden älteren Geschwistern, läßt rasch den Grundkonflikt dieses Familienromans eskalieren: den Fängen des Großvaters entronnen, wird Gyuris Gefühl "unendlicher Wichtigkeit" und "beunruhigender Ausschließlichkeit" nicht befriedigt. Wie der junge Marcel in Combray buhlt der Junge um die Gunst und die Küsse der Mutter, will sich gar zum Schein aus dem Fenster stürzen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Es beginnt ein Teufelskreis: Gyuris Eifersucht und sein Geltungsdrang tragen ihm Liebesentzug, Strafen und den Vorwurf der Undankbarkeit seitens der Eltern ein. Und so flüchtet sich der Junge vor allem nach seiner Einschulung in eine Parallelwelt der Märchen und Fiktionen, in der alle Dinge belebt sind und nur um ihn allein kreisen. Über die Frage der Existenz Gottes kommt er schließlich zum offenen Konflikt mit dem Vater, der ihn verprügelt und als Lehrjungen weggeben will. Schließlich reißt Gyuri aus - in der Flucht zu den Christen sieht er seine letzte Chance -, will seinen Vater in der Synagoge bloßstellen und bricht schließlich zusammen, übermannt von Schuldgefühlen.
Pap, der selbst aus einer angesehenen Rabbinerfamilie stammt, verarbeitet offensichtlich eigene Erfahrungen. Die meisterhafte Darstellung der kindlichen Psychologie verbindet sich mit der religiösen Skepsis und einer radikalen Infragestellung des jüdischen Selbstverständnisses, die auch den um Erleuchtung ringenden Kaffeehausliteraten Pap im Budapest der dreißiger Jahre noch umgetrieben hat. Nach den Revolutionswirren nach dem Ersten Weltkrieg hatte Pap mit seinem konservativen Elternhaus gebrochen. "Azarel" ist so auch das Dokument einer tiefen Prägung durch die Herkunft, die sich später mit einem vollkommen modernen künstlerischen Bewußtsein amalgamiert. Vergleichen läßt sich Pap daher weniger mit anderen Chronisten jüdischen Lebens wie etwa Isaac B. Singer. Eher denkt man an die deutsche Tradition des (Anti-)Bildungsromans, vor allem an den "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz. Vergleichbar ist hier die Prägung durch religiöse idées fixes und der daraus folgende Hang zu überwacher Introspektion und Gewissenserforschung, die einer übertriebene Selbstzüchtigung die Tore öffnet. Aber man denkt auch an das Ringen eines Franz Kafka mit der übermächtigen Vaterfigur oder an Elias Canettis Buhlen um die Aufmerksamkeit seiner Mutter.
In seiner Sprache aber, die Hans Skirecki mit großer Einfühlung ins Deutsche gebracht hat, orientiert sich Pap an der Bibel und am Ton jüdischer Legenden. So tritt die traditionell anmutende Sprachgestalt des Romans in eine Spannung zur schonungslosen Musterung der Konventionen mit den von keinem Pragmatismus verstellten Augen des Heranwachsenden - ohne daß sich die Abrechnung je bis zum totalen Bruch steigern würde, gemäß dem Rat des Lehrers Chacham Tulczym: "Es gibt einen Ort, von dem alles lächerlich und verspottbar ist, und einen anderen, wo man über alles weinen kann. Diesen beiden Orten in seinem Herzen weicht der Weise aus."
Und was wurde eigentlich aus dem Tribunal? Es traf eine salomonische Entscheidung und vertagte sich auf die Zeit, wenn weitere Bände des Werks erschienen sein würden. Doch dazu kam es nicht mehr. Károly Pap, der lange an einem umfangreichen (und leider verlorenen) Jesus-Roman arbeitete, starb 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen.
Károly Pap: "Azarel". Roman. Aus dem Ungarischen übersetzt von Hans Skirecki. Luchterhand Verlag, München 2004. 304 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"'Azarel' ist ein visionäres Meisterwerk der ungarisch-jüdischen Literatur." (György Konrad)
"Azarel ist ein Werk von weltliterarischer Bedeutung." (Tamas Lichtmann)
"Azarel ist ein Werk von weltliterarischer Bedeutung." (Tamas Lichtmann)