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1913, unweit von Bagdad. Der Archäologe Robert Koldewey leidet ohnehin schon genug unter den Ansichten seines Assistenten Buddensieg, nun quält ihn auch noch eine Blinddarmentzündung. Die Probleme sind menschlich, doch seine Aufgabe ist biblisch: die Ausgrabung Babylons. Zwischen Orient und Okzident bahnt sich gerade ein Umbruch an, der die Welt bis in unsere Gegenwart hinein erschüttern wird. Wie ein Getriebener dokumentiert Koldewey deshalb die mesopotamischen Schätze am Euphrat; Stein für Stein legt er die Wiege der Zivilisation frei - und das Fundament des Abendlandes. Kenah Cusanits…mehr

Produktbeschreibung
1913, unweit von Bagdad. Der Archäologe Robert Koldewey leidet ohnehin schon genug unter den Ansichten seines Assistenten Buddensieg, nun quält ihn auch noch eine Blinddarmentzündung. Die Probleme sind menschlich, doch seine Aufgabe ist biblisch: die Ausgrabung Babylons. Zwischen Orient und Okzident bahnt sich gerade ein Umbruch an, der die Welt bis in unsere Gegenwart hinein erschüttern wird. Wie ein Getriebener dokumentiert Koldewey deshalb die mesopotamischen Schätze am Euphrat; Stein für Stein legt er die Wiege der Zivilisation frei - und das Fundament des Abendlandes. Kenah Cusanits erster Roman ist Abenteuer- und Zeitgeschichte zugleich - klangvoll, hinreißend, klug.
Autorenporträt
Kenah Cusanit, geboren 1979, lebt in Berlin. Für ihre Essays und Gedichte wurde die Altorientalistin und Ethnologin bereits mehrfach ausgezeichnet. Bei Hanser erschien ihr Debütroman Babel (2019).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.01.2019

Die innovativsten Ausgräber im Orient

Der eine wollte nur entdecken, ein anderer widerlegen, ein Dritter auftrumpfen: An den Ufern des Euphrats gräbt Kenah Cusanit in ihrem Romandebüt "Babel" einen archäologischen Solitär aus.

Hauptsache, erst einmal Streit anfangen: Die Grabungen in Fara in den mesopotamischen Schilfsümpfen hatten noch gar nicht richtig begonnen, da bot sich Robert Koldewey, Archäologe, Architekt und Leiter der Unternehmung, schon der ersehnte nichtige Anlass dazu. Jemand hatte sein Pferd vor dem frisch befestigten Lager der Deutschen abgestellt, "in unerlaubter Nähe zu den Räumlichkeiten seiner vom Sultan des Osmanischen Reiches persönlich genehmigten Expedition". Prompt meldete Koldewey diesen Vorfall gleich drei verschiedenen Behörden, bis hinauf zum Bagdader Konsulat, das ihn über die Botschaft in Konstantinopel der dortigen Regierung meldete - die natürlich Besseres zu tun hatte, als sich um einen vierbeinigen Falschparker im Zweistromland zu kümmern. Ein ebenfalls informierter Scheich der umliegenden Dörfer jedoch, Onkel des unbedarften Reiters, ist so entzückt von dem Aufheben, dass er den Deutschen umgehend einen Besuch abstattet, um den empfindlichen Fremden mühsam und ergeben zu besänftigen. So knüpft man Freundschaften, zumindest als gewiefter Expeditionsleiter im Zweistromland vor dem Ersten Weltkrieg - zumindest in Kenah Cusanits Debütroman "Babel", der seiner Hauptfigur Koldewey an Kühnheit und Eigenwilligkeit in nichts nachsteht.

Unerschrocken privat wird die Autorin bei einer der prominentesten Gestalten der wilhelminischen Ausgrabungsbegeisterung (Koldewey bescherte Berlin das Ischtar-Tor und die Thronsaalfassade Nebukadnezars, bis heute große Attraktionen im Pergamonmuseum). Als rücksichtslos gegen die missliebigen seiner Assistenten wie gegen die eigenen Bedürfnisse lernen die Leser diesen Robert Koldewey kennen, eigenwillig in seinen Methoden und einigermaßen widerwillig im Umgang mit Auftrag- und Geldgebern im fernen Berlin. Nicht nur einmal fragt sich der Leser, inwieweit der haarsträubende Umgang Koldeweys mit seiner Blinddarmentzündung, die Abfälligkeit im Umgang mit Untergebenen oder die an Respektlosigkeit grenzende Offenheit bei einer kaiserlichen Audienz dichterischer Freiheit entstammen oder aus Kalendereintragungen, Notizen und Briefen rekonstruiert werden konnten. "Sie waren die innovativsten Ausgräber, die jemals im Orient gegraben hatten, und die angeschlagensten", schreibt Kenah Cusanit, und beiden Eigenschaften widmet sie sich hingebungsvoll.

Dabei ist die Anlage ihrer Figur noch das kleinere Wagnis im Vergleich zu den geschichtlichen und diskursiven Linien, in deren Schnittpunkt die Geschichte der Ausgrabung von Babylon steht: Mit den archäologischen Expeditionen in Mesopotamien rückt Cusanit eine Gegend in den Blick, die in der aktuellen Diskussion um kulturelle Enteignung - Stichwort: koloniale Raubkunst - noch keine große Aufmerksamkeit erfahren hat. Um den Wettstreit mit Amerika, Frankreich und vor allem England um den Ruhm der Entdeckung und um die Reichtümer Vorderasiens geht es ebenso wie um die seinerzeit unerhörte These des Mitbegründers der Deutschen Orientgesellschaft, Friedrich Delitzsch, die Bibel, das Wort Gottes, habe eine heidnische Grundlage, nämlich Babylon.

Allein dem Mit- und Gegeneinander der unterschiedlichsten Berliner Ambitionen hätte ein eigenes Buch gelten können. Ein anderes den unterschiedlichen Ansätzen: "Die Engländer dachten in Funden, die Deutschen in Befunden", stellt Cusanit, selbst Altorientalistin, fest: "Denken in Zusammenhängen unter Berücksichtigung der Details war eine Vorgehensweise, mit der man sich aus englischer Sicht finanziell nur ruinieren konnte." Ein weiteres Buch hätte die Interessenlage zwischen osmanischen Herrschern, europäischen Ausgräbern und ebenso überforderten wie übervorteilten Einheimischen zum Thema haben können: "Es gab Kulturen, die ihre Vergangenheit wiederverwendeten, und es gab Kulturen, die ihre Vergangenheit ausstellten", fasst Cusanit den zentralen Unterschied zusammen, mit der Ergänzung, dass die Europäer zur eigenen Vergangenheit durchaus auch die außerkontinentalen Wurzeln ihrer Kultur zählten.

Dazu die weltpolitische Lage: Im Jahr 1913 ist Koldewey die Gefahr eines drohenden Kriegs mit England klar, genau so klar ist ihm, dass Deutschland im Kriegsfall den Kürzeren ziehen würde. Unklar hingegen, wie dann die 20 000 numerierten und 100 000 unnumerierten Fragmente in den fünfhundert Kisten nach Berlin zu bringen wären, die sich im Hof des Grabungshauses stapeln. Tatsächlich konnte der historische Koldewey in Babylon arbeiten, bis 1917 britische Truppen in Bagdad einmarschierten. Große Teile seiner Funde gelangten erst 1927 nach Berlin, zwei Jahre nach Koldeweys Tod.

Was für ein Stoff, was für ein köstliches Gewebe aus welt- und geistesgeschichtlich Großem und persönlichem Klein-Klein! Kenah Cusanit, bislang vor allem als Lyrikerin hervorgetreten, wirft sich hinein, mit Scharfsinn und Lust an der Pointe. Die eigentliche, nur wenige Stunden umfassende Handlung allerdings bleibt unter all den Abschweifungen und Ausdeutungen blass: In ihr machen Koldewey die Symptome einer Appendizitis zu schaffen, er nimmt wider besseres Wissen Rizinusöl, rappelt sich schließlich auf und quält sich durch das weitläufige Grabungsgelände, um an den Fundamenten des Turms von Babel Gertrude Bell zu treffen. Der englischen Abenteurerin und Archäologin gilt seine Bewunderung ebenso wie einige Befürchtungen - und seine Hoffnung auf Unterstützung beim Abtransport der Funde im Krisenfall. Doch Cusanits Roman endet vor der vielversprechenden Begegnung - und auch bevor sich zeigen kann, ob sich der Grabungsleiter mit seiner kühnen Selbstmedikamentierung gerettet oder nicht vielmehr in ernste gesundheitliche Schwierigkeiten gebracht hat. Die Eskalation von Koldeweys Konflikt mit seinem Assistenten Buddensieg bleibt ebenfalls eine noch vor dem ersten Kapitel gemachte Verheißung.

Wenn Kenah Cusanit mit den Erwartungen ihrer Leser spielt, dann nicht, um letztlich deren Herz zu gewinnen. Wenn Koldewey etwa, die Bauchschmerzen nach Kräften ignorierend, mit Blick auf den Euphrat fahrig sinniert oder sich von seinem Lager am Fenster des Arbeitszimmers zur Tür oder zum Schreibtisch schleppt, hat auch der Text etwas Fahriges, Schleppendes. Der Schwung, den Cusanit ihrer Geschichte geben kann, zeigt sich vor allem in den Anekdoten, Brief- oder Wortwechseln Koldeweys. Als er zusammen mit Delitzsch von Fara wieder in Richtung Babylon zurückkehrt, verstricken sich die beiden Deutschen auf der Bootsfahrt durch die Schilfsümpfe, nicht unerwartet für den zwischen ihnen sitzenden osmanischen Ausgrabungskommissar, in eine hitzige Diskussion über den Zusammenhang von Glauben und Wissenschaft.

Eingangs hatte dieser Bedri Bey bezweifelt, dass die Europäer die Geschichte des Turmbaus von Babel vor zweitausend Jahren kennen könnten, wo dessen Fundament doch gerade erst freigelegt worden sei und nicht einmal er, geschweige denn die Einheimischen, sonderlich viel darüber wissen. Jetzt kämpft der Türke mit dem Schlaf "angesichts des immergleichen europäischen Geredes darüber, wie etwas früher gewesen sein möge, das man heute nicht mehr haben wolle, aber dennoch ganz genau erforschen müsse, um zu zeigen, wie weit man sich davon entfernt habe, nur um zu entdecken, dass man sich offenbar überhaupt nicht weit entfernt habe, was einem gar nicht aufgefallen wäre, wenn man nicht mit der ganzen Forscherei angefangen hätte". Dabei ist es solcherlei Gerede, womit Kenah Cusanit die Herzen ihrer Leser gewinnt. Schließlich haben wir uns auch heute noch nicht allzu weit von den Überzeugungen und Eitelkeiten entfernt, von denen in "Babel" die Rede ist.

FRIDTJOF KÜCHEMANN

Kenah Cusanit:

"Babel". Roman.

Carl Hanser Verlag,

München 2019. 272 S., geb., 23,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.02.2019

Als Gott die Fotografie erfand
In ihrem Debüt „Babel“ zeigt Kenah Cusanit, wie der Forscher Robert Koldewey im 19. Jahrhundert
Kulturgüter ausgrub, die heute in unseren Museen stehen. Ein Intellektuellenroman
VON THOMAS JORDAN
Während Kaiser Wilhelm II. von „Babylon Berlin“ träumt, hat Robert Koldewey Bauchschmerzen. In Kenah Cusanits Debütroman „Babel“ gräbt der Archäologe, der ausgesandt ist, Preußens Ruhm mit der Schaufel zu mehren, nicht. Stattdessen liegt der Abgesandte der Deutschen Orientgesellschaft Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts leidend auf einer Fensterbank zwischen Euphrat und Tigris und tut so, als würde er in einem Handbuch der inneren Medizin lesen. Vielleicht der Blinddarm. So genau will er es aber gar nicht wissen. Stattdessen beobachtet Koldewey seine Assistenten beim Fotografieren der Grabungsfunde und lässt den Leser am Mäandern seiner Gedanken teilhaben. Das ist faszinierend und problematisch zugleich.
Mit „Babel“ wagt sich die Berliner Essayistin und Lyrikerin Kenah Cusanit an einen Jahrtausendstoff. Dazu hat die studierte Altorientalistin Cusanit mit Robert Koldewey einen ortskundigen Protagonisten gefunden. Der Begründer der historischen Bauforschung grub ab dem Jahr 1899 das Fundament des legendären Turms zu Babel und ein Ischtar-Tor aus. Damals wurde die Rechtmäßigkeit dieses Tuns kaum hinterfragt. Heute kann man das Tor im Berliner Pergamonmuseum besichtigen. Und das ist nicht die einzige Verbindung zwischen den beiden Städten. Berlin und Babel wurden um 1900 häufig ineinander gespiegelt. Hier die seit der Gründung des Kaiserreichs 1871 aufstrebende Industriestadt, die zwar Fabriken hatte, sich aber nach einer eigenen großstädtischen Identität sehnte. Dort die antike Metropole, die Über-Stadt, an deren Mythos sich die Kulturen und Religionen seit Jahrtausenden abarbeiteten. Das Ausgangsszenario von „Babel“ ist faszinierend vielschichtig und die Referenzen und Symbole, die ihm zu Grunde liegen, nahezu unerschöpflich.
All dies genügt Kenah Cusanit nicht. Die Essayistin und Lyrikerin will in ihrem Roman nicht nur freilegen, sondern auch deuten und kommentieren, was in Tausenden von Jahren zwischen Ost und West an verwandten Ideen in Technik, Architektur, Medizin und auch Lebenskunst verschüttgegangen ist. An diesem doppelten Anspruch überhebt sich der Roman. Angesichts all der Wissensbrocken taumelt die Erzählung zwischen Dozieren und Fabulieren. Was dabei herauskommt ist kein historischer Roman. Es ist eine Art langatmiges lexikalisches Erzählen, das immer dann, wenn es gerade passt, von den Freiheiten der Fiktion Gebrauch macht. Vergangenheit wird auf diese Weise zum Wühltisch für intellektuelle Fabulierer.
Ein solcher ist nämlich Cusanits Protagonist Robert Koldewey. In seinen Gedankenfluss mischt sich immer wieder ein dozierender Tonfall. Etwa wenn der Archäologe in einem mehrere Seiten langen Exkurs über das Bilderverbot im Islam räsoniert: „Aus religiöser Sicht gebe es absolut nichts einzuwenden gegen das Photo“. Kulturgeschichtlich ist der darauf folgende Abschnitt über das Verhältnis von Natur, Licht und Gott durchaus aufschlussreich. Ebenso wie die Tatsache, dass sich an dieser Stelle die Ideen des preußischen Bauforschers und des algerischen Gelehrten Abd el Kader kreuzen. Das reicht Cusanit aber nicht. Sie sucht den geschichtlichen Extra-Spin, die besondere historische Pointe. Und so endet die Stelle mit der Feststellung, „die Photographie“ sei „in diesem Sinne eine Erfindung Gottes“. Hier macht sich ein erzählerisches Problem bemerkbar: Der Text zieht immer schon selbst die Schlüsse, die er nahelegt.
Kolonialismus, Imperialismus und der bevorstehende Erste Weltkrieg, in dieser unübersichtlichen Grabungslage mutiert Robert Koldewey zum misanthropisch monologisierenden Geschichtsfabulierer. Cusanit schreibt das auch als Satire und Kritik am heroischen Bild des Wissenschaftlers im 19. Jahrhundert. Nur ist Koldeweys Perspektive im Roman viel zu dominant, um nur Karikatur zu sein – sie ist die einzige Sicht auf das Geschehen in Babylon und Berlin. Und der Text tut nichts, um sich von dem intellektuellen Malstrom des preußischen Orientkenners zu distanzieren. Ganz im Gegenteil: die Erzählstimme bleibt immer nahe an der Gedankenwelt des Protagonisten. Koldewey ist die unangefochtene Autorität des Textes. Deswegen wird es zum Problem, dass die Koldewey’schen Kulturvergleiche öfters in banalen Beobachtungen stecken bleiben. Das ändert sich auch nicht im zweiten Teil, wenn der Bauforscher vom Euphrat an die Spree reist. Zu Schinkels historistischer Architektur fällt ihm etwa ein: „In Babylon verwendete man den Baustoff wieder, in Berlin den Baustil.“
Faszinierend ist dagegen eine andere literarische Grabung: Den Übergang von Bild in Schrift, wie er sich in der babylonischen Keilschrift über Jahrhunderte vollzog, greift Cusanit mit dem Fotografie-Motiv auf, das im Roman wiederkehrt. Wenn Koldewey und seine Assistenten der Deutschen Orientgesellschaft in Berlin von den Ziegelfunden des Ischtartores berichten, dann tun sie das meist mit Fotos anstatt mit Worten. Das technisch erzeugte Bild der Moderne führt auf diese Weise zu den Ursprüngen der Zivilisation zurück.
Der ausufernde Gedankenfluss Koldeweys macht aber auch vor den anderen Figuren des Textes keinen Halt. Die Assistenten Reuther und Buddensieg, der briefeschreibende Ex-Assistent Andrae und der streitbare Berliner Professor Delitzsch: Diese Figuren sind nicht viel mehr als Stichwortgeber für die nächste historische Fantasterei: Über die Gemeinsamkeiten zwischen Berliner Hochbahnen und den Streitwagen auf babylonischen Mauern. Oder die sprachliche Verwandtschaft zwischen Berlin und Babel. Beide Städte haben, heißt es im Text, „sehr ähnliche Wurzelkonsonanten: BBL und BRL, zuzüglich einer Endung, die auf N auslautete.“
Koldewey biegt sich in „Babel“ seine kulturgeschichtlichen Parallelen so ungeniert zurecht, dass deren satirischer Gehalt oft aus dem Blick gerät. In den Strom des Wissens dieses Protagonisten gehen dabei Briefe, Namenslisten von Arbeitern und Gelehrten und sogar Pläne für die Wiederinbetriebnahme eines Dampfers auf dem Tigris ein. Zurück bleiben textuelle Mischformen, die oft weder Essay noch Erzählung sind. An manchen Stellen ähneln sie Aphorismen. So wird gegen Ende des Buches gefragt: „Wer braucht Theologen, wo es Theodolite (Winkelmessgeräte) gab?“
Sprachlich wimmelt es bei dieser Expedition in Koldeweys Orient nur so von Selbstbezügen. Das kann leicht manieriert erscheinen. Etwa wenn es über den babylonischen Grabungsboden heißt: „Lehm, der sich durch das Wasser bewegte, indem er sich drehte. Wissen, das sich durch den Kopf bewegte, indem es sich drehte.“ Das Pathos des Wissenden, das hier aufgerufen wird, findet sich im Roman auch in der Form der raunenden Prophezeiung wieder. Wenn etwa Wilhelm II. bei einem Treffen mit seinem Archäologen von „Berlin als Bewahrerin der babylonischen Kultur“ schwadroniert, kommentiert Koldewey und die Erzählstimme gibt es wieder: „Bis dann jemand Berlin unter Trümmern ausgrabe.“ Cusanits Protagonist weiß nicht nur, dass der kaiserliche Kulturimperialismus zum Scheitern verurteilt ist, Koldewey kennt im Jahr 1909 bereits die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Mitunter wirkt es so, als wolle Cusanit ihren Roman gegen den Vorwurf immunisieren, mal zu belehrend, mal zu fantasierend zu erscheinen. Etwa wenn sie Koldewey über eine „furchtbar evidente Geschichtsschreibung“ klagen lässt, „die den poetischen Trost des Geschriebenen nicht kannte“. Oder wenn sie den Philosophen Walter Benjamin zu Beginn des zweiten Teils „von dem Glück“ schwärmen lässt, das der „tastende Spatenstich ins dunkle Erdreich“ bereitet. Trotz faszinierender kulturgeschichtlicher Einzelfunde wird „Babel“ auf diese Weise zum Lehrstück für poetische Privatgeschichtsschreibung.
Kenah Cusanit: Babel. Roman. Hanser Verlag, München 2019. 272 Seiten, 23 Euro.
Cusanits Protagonist weiß,
dass der Kulturimperialismus
zum Scheitern verurteilt ist
Der Architekt, Bauforscher und Archäologe Robert Koldewey (1855 – 1925) wurde – wie die Autorin Kenah Cusanit – in Blankenburg (Harz) geboren.
Foto: mauritius image s
Die Ruinen der Prozessionsstraße mit einem Löwenrelief. Aquarell aus dem Jahr 1902.
Foto: akg-images
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Durchdacht und durchtrieben findet Judith von Sternburg Kenah Cusanits Romandebüt. Wie die Autorin die gesamte Archäologenszene um 1913 in einem einzigen Tag in Babylon erfasst und Preußen und Orient belebt, voraussetzungsreich, biografisch und historisch sorgfältig, reflexiv und auch witzig, scheint ihr einen Preis wert. Sprachlich, dialogisch überzeugt sie das Buch auch. Und dass Cusanit ihren Protagonisten Robert Koldewey zur Abwechslung mal über die Größe der Frauen nachdenken lässt, findet Sternburg schlicht beachtlich.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Ein spektakuläres Debüt ... turmhoch allem überlegen, was sonst in der deutschen Gegenwartsliteratur diesen Frühling erscheint." Denis Scheck, ARD druckfrisch, 27.01.19

"Kenah Kusanit hat einen gebildeten wie unterhaltsamen Roman über das Großereignis der babylonischen Ausgrabung kurz vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben. Und damit - vielleicht ungewollt - einen interessanten Begleittext verfasst zur gegenwärtigen Raubkunst-Debatte. Wobei das Buch durchaus feine Zwischentöne anschlägt, die das Grabungsprojekt keineswegs nur im Licht von kolonialer Habgier und unstatthafter Bereicherung erscheinen lässt." Angela Gutzeit, Deutschlandfunk, 27.02.19

"Ein Roman über einen Archäologen - staubtrocken, was? Nein! Mit Witz erzählt Kenah Cusanit von Robert Koldewey und dem Grabungswahn - und kommentiert die Museumspolitik von heute. ... Das Debüt der Anthropologin ... ist die reinste Freude. Weil es so kostbar ist wie ein Stück Babylon, eine derart ungewöhnliche Stimme zu entdecken." Anne Haeming, Spiegel Online, 31.01.19

"'Babel' ist randvoll mit Atmosphäre, ohne deshalb ins Atmosphärische zu kippen. ... Eine grandiose und grandios kluge Feier der Vielsprachigkeit. Die Codes der Wissenschaften, der Religionen und der Kunst stellt dieser Roman mit grosser Lust nebeneinander. Denn er weiss, dass sie sich spätestens im Unendlichen treffen." Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 30.01.19

"Kenah Cusanit hat weit mehr als einen historischen Roman geschrieben. Ihre Sprache ist farbig, innovativ und reflektiert. Dank der Erfindungskraft der Autorin wird uns bewusst, was für eine einzigartige Kulturlandschaft die Region von Syrien bis zum Irak einmal war." Gundula Ludwig, NZZ am Sonntag, 27.01.19

"Der Roman ist voller Reflexionen über Heimat und Fremde, Wissenschaft und Religion, Oberfläche und Untergrund, Vergangenheit und Zukunft. ... Ein famoses Romandebüt, das sprachlich und formal überzeugt." Stefan Gmünder, Der Standard, 29.01.19

"Eine ebenso gelehrsame wie unterhaltsame, mitunter saukomische Babel Rhapsodie. Ein komödiantisches Meisterwerk ... Genüsslich lässt sich die Autorin auf die farcenhaften Episoden ein, an denen das Grabungsunternehmen am Euphrat so reich ist. Doch mit leichter Hand und wie nebenbei bringt sie auch alle wichtigen Fakten zur Stadt- und Ausgrabungsgeschichte Babylons im Erzähl-Fluss unter, ebenso die Mythen, die sich seit biblischen Zeiten um den Turm von Babel ranken." Sigrid Löffler, SWR 2 Lesenswert Magazin, 27.01.19

"Ein flirrender Debütroman ... Es ist die Weltgeschichte als Farce und Stimmengewirr, die 'Babel' entfaltet, aber die sardonische Intelligenz von Kenah Cusanit macht gleichzeitig die erhabenen Züge dahinter sichtbar." Ijoma Mangold, Die Zeit, 24.01.19
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Kenah Cusanits erster Roman ist Abenteuer- und Zeitgeschichte zugleich: klangvoll, hinreißend,klug. Bernd Kielmann Buch-Magazin, November 2020