Von André Farin
Was passiert eigentlich, wenn sich ein Lyriker als Romanautor ausprobiert? Gute Frage. Gabriel Wolkenfeld liefert mit seinem neuen Roman „Babylonisches Repertoire“ eine passende Antwort dazu. Der 36-jährige Berliner sieht sich eher als Poet, der aus seinen Erlebnissen, Eindrücken
und Erfahrungen wort- und bildgewaltige Verszeilen macht. In seinem aktuellen Gedichtband „Sandoasen“…mehrVon André Farin
Was passiert eigentlich, wenn sich ein Lyriker als Romanautor ausprobiert? Gute Frage. Gabriel Wolkenfeld liefert mit seinem neuen Roman „Babylonisches Repertoire“ eine passende Antwort dazu. Der 36-jährige Berliner sieht sich eher als Poet, der aus seinen Erlebnissen, Eindrücken und Erfahrungen wort- und bildgewaltige Verszeilen macht. In seinem aktuellen Gedichtband „Sandoasen“ gelang ihm das zum Beispiel in erstaunlicher Weise. Der Schritt nun zu einem 500-Seiten-Werk wirkt dagegen als eine Herausforderung, der sich der studierte Germanist und Literaturwissenschaftler bewusst stellen wollte.
Gabriel Wolkenfeld beschäftigte sich mit dem Schicksal einer jüdischen Familie, deren Geschichte von Litauen über Taschkent und das ehemalige Gorki bis in das heutige Israel führte. Darin sind der 86-jährige Avigdor Seliger und sein Enkel Yair zwei der zentralen Figuren der zahlreichen Handlungsstränge durch ein gutes Jahrhundert. Der eine lebt in einem Seniorenwohnheim, weil er mit seiner Tochter nicht mehr sprechen wollte und möglicherweise dement ist. Sein eigenwilliger Charakter kommt noch dazu. Und der andere mit einem eher chaotischen Lebenswandel wohnt in Tel Aviv in einer lockeren Beziehung zu seinem Freund und mit kurz gehaltenen Kontakten zu seiner neugierigen und besorgten Mutter.
Yair kennt seinen Großvater aus den Geschichten, die er ihm selbst einmal in den Ferien am See Genezareth erzählte. Er will jetzt als Erwachsener nicht wahrhaben, dass dieser lebenserfahrene alte Mann vielleicht an Demenz leidet und den Bezug zur Realität verloren haben könnte. Daher möchte er ihn auf die Probe stellen und erzählt aus dessen Vergangenheit, manchmal etwas hinzudichtend, bewusst weglassend oder an anderer Stelle einfach nur abgewandelt. An jedem Besuchstag bringt er eine andere Frucht mit, die sie gemeinsam essen und damit eine Verbindung zu dem jeweiligen Lebensabschnitt seines Opas Avi herstellen, aus dem Yair ihm leidenschaftlich und anschaulich berichtet.
Eine Familiengeschichte aus mehreren Jahrzehnten braucht natürlich eine große Anzahl von Personen, wie sie Gabriel Wolkenfeld selbstverständlich aufnimmt. 27 Menschen finden so ihren dichterischen Platz in einer Ansammlung von Lebensgeschichten, die von vielfältigen gesellschaftlichen Verhältnissen und persönlichen Umständen bestimmt werden. Das Leben in dem viel zu großen Sowjetreich, das oft nur mit den Anordnungen der führenden Politriege und unlauteren Mitteln der Staatsicherheit zusammengehalten werden konnte, wird tiefgründig geschildert. Der Umgang von Volk und Partei mit den 2,5 Millionen Juden in der Sowjetunion oder die Auswanderung von jüdischen Bevölkerungsteilen werden thematisiert. Schwierige Zeiten und traurige Rückschläge für die agierenden Protagonisten wechseln mit amüsanten Höhepunkten, sagenhaften Momenten und lesenswerten Anekdoten.
Besonders schillernde Figuren umgeben Avigdor und machen den Reiz des Romans aus, denn wir erleben sie in vielen alltäglichen und besonderen Situationen äußerst bild- und gestenreich beschrieben. Etwa wie die bezaubernde Bella Rubinsteyn, Avigdors leibliche Mutter. Sie träumt davon, ein außergewöhnliches Wesen gebären zu können und isst daher während ihrer Schwangerschaft nur exotische Früchte, für die sie sogar ihren Schmuck eintauschte. In dem Roman sticht Avigdors zweite Frau Olympiada hervor. Sie ist lesebegeistert, interessiert sich für den literarischen Untergrund und versteht es mit fraulichem Geschick, Geheimdienstmänner zu umgarnen. Eine weitere bemerkenswerte Frauengestalt in Avigdors Leben ist Danuta, seine angenommene Schwester. Größtenteils wuchs sie in einem Taschkenter Waisenhaus auf und führte lange Zeit eine dortige Kinderbande an, die alle möglichen Märkte der Stadt unsicher machte.
Wie in einem Kaleidoskop fügen sich die wechselnden Zeiten, Orte und Personen des Romans zusammen. Die Fülle an Gesprächsstoff und erzählenswerten Details bringt der Autor mit großem schriftstellerisc