In Babyn Jar, einer Schlucht bei Kiew, wurden Ende September 1941 mehr als 33 000 Kiewer Juden von den deutschen Einsatzgruppen, der Wehrmacht und lokalen Helfern erschossen. Das Hier und Jetzt jener endlosen Tage verwandelt die ukrainische Lyrikerin Marianna Kijanowska in eine nicht mehr weichende Gegenwart. Die 67 Gedichte ihres Zyklus, die »Stimmen«, sind fiktive Selbstaussagen von Kiewer Bürgern, die durch die Straßen getrieben wurden, aber auch von anderen, die am Fenster standen oder von ferne die Schüsse hörten.
Das Buch ist in vieler Hinsicht einzigartig und wird Anlass zu Diskussionen geben. Der wohl bedeutsamste Aspekt: eine nicht-jüdische Ukrainerin klagt und erinnert an die Kiewer Juden, deren Ermordung erst nach und nach den Platz in der Erinnerungskultur der heutigen Ukraine einnimmt. Ihr Gedichtzyklus ist ein Monument aus Stimmen - visionär und verfremdend zugleich.
Das Buch ist in vieler Hinsicht einzigartig und wird Anlass zu Diskussionen geben. Der wohl bedeutsamste Aspekt: eine nicht-jüdische Ukrainerin klagt und erinnert an die Kiewer Juden, deren Ermordung erst nach und nach den Platz in der Erinnerungskultur der heutigen Ukraine einnimmt. Ihr Gedichtzyklus ist ein Monument aus Stimmen - visionär und verfremdend zugleich.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
In Babyn Jar fand 1941 das größte Massaker des Holocausts statt, weiß Rezensentin Kerstin Holm, die ukrainische Dichterin Marianna Kijanowska hat 2017 einen Gedichtband darüber geschrieben, der nun dank der Nachdichtungen von Claudia Dathe endlich auch auf Deutsch vorliegt. In rund sechzig Gedichten mit unregelmäßgem Versmaß, das das Stolpernde des Todesmarsches erinnern lässt, widmet sie sich pro Text einem Opfer, sodass ein "Wimmelbild fiktiver Endzeitporträts" entsteht, in dem in apokalyptischer Manier etwa von einer Frau schreibt, die ihren toten Bräutigam nach sich suchen sieht oder von einem Rabbi, der erschossen wird. Ein wichtiges literarisches Denkmal, bekräftigt Holm, die zudem weiß, dass der Band der Auftakt einer Trilogie über die Kriege werden soll, die die Ukraine heimgesucht haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.06.2024An der Schlucht
Ein ungeheuerliches Werk:
Marianna Kijanowskas Gedichte über Babyn Jar.
Im September 1941 ermordete ein nationalsozialistisches Sonderkommando mit Unterstützung der Wehrmacht und ukrainischer Hilfspolizisten in einer Schlucht bei Kiew innerhalb von nur zwei Tagen 34 000 Juden, vor allem Alte, Frauen und Kinder. Es ist die schiere Geschwindigkeit, die enorme physische Anstrengung, die die Nazis an den Tag legten, die die Massenerschießung in der Schlucht von Babyn Jar von anderen Massakern unterschied. Babyn Jar wurde zum Symbol auf der ganzen Welt, im Land der Täter allerdings erst spät und im Land der Opfer aus ganz anderen Gründen eher noch später.
Dass die ukrainische Dichterin Marianna Kijanowska diesem Verbrechen einen Gedichtzyklus gewidmet hat, der 2017 auf Ukrainisch und soeben auf Deutsch erschienen ist, lässt sich deshalb nicht hoch genug einschätzen. Die sowjetische Führung, oft antisemitisch wie Stalin oder Chruschtschow, hatte die Würdigung einzelner Opfergruppen unterbunden. Sie passte weder zur Heldenerzählung vom Sieg über die Faschisten noch zur behaupteten Einheit aller Sowjetbürger. Nach 1991 widmete sich die unabhängige Ukraine den Tragödien der Nation, dem Holodomor, der stalinistischen Repression – nicht der Vernichtung der Juden.
Marianna Kijanowska, die 1973 im westukrainischen Schowkwa nördlich von Lwiw geboren wurde, mehr als ein Dutzend Lyrikbände veröffentlicht hat und heute in Lwiw lebt, hat dieses Thema zum Gegenstand ihrer Dichtung gemacht, das in der Ukraine lange keines war. Dabei war der Zyklus „Babyn Jar“ gar nicht geplant, er sei ihr „passiert“. So beschrieb sie es unlängst bei einer Lesung im Suhrkamp-Verlag in Berlin. Sie, die als Kind, ohne es zu wissen, mit den Trümmern jüdischer Grabsteine gespielt hatte und sich erst als Erwachsene mit der jüdischen Geschichte auseinandergesetzt hatte, habe in drei Monaten mehr als 300 Gedichte geschrieben, manchmal acht bis zehn am Tag. 67 davon fanden in das Buch. Physisch und psychisch war der Verschleiß enorm. Oft habe sie Alkohol gebraucht, um es auszuhalten. Am Ende sei ihr Haar grau gewesen.
Dabei ist das Außergewöhnliche oder, wie sie selbst es nennt, Ungeheuerliche ihres Bandes nicht der Gegenstand, sondern die Form. Marianna Kijanowska schreibt fast ausschließlich aus der Perspektive der jüdischen Opfer. Sie nennt ihre Gedichte „Stimmen“. Bis auf zwei Stimmen gehören alle 67 Menschen, die von den Deutschen in den Tod getrieben wurden. Ihnen blieb keine Zeit, um letzte Gedanken niederzuschreiben oder um Zeugnis abzulegen. Mehr als 80 Jahre später will Kijanowskas Zyklus dies an ihrer Stelle tun.
Sie greife nicht auf historische Figuren oder belegte Schicksale zurück, habe nicht im akademischen Sinne recherchiert, sagt Kijanowska. Vielmehr seien die „Stimmen“ zu ihr gekommen, habe sie selbst sich plötzlich in einer anderen Realität wiedergefunden. Das Ergebnis ist größte szenische Eindringlichkeit: „ich mit rucksack alik mit koffer und cello / mark erbricht schon das dritte mal.“ Und: „unsere nachbarin chawiwa hat sich herausgeputzt wie für ein fest.“ Und: „je näher die schlucht kommt desto lauter schreien die krähen“. Ein Bräutigam wurde vor der Hochzeit erschossen, der Braut ist nur das weiße Kleid geblieben und der Hass der Schwiegermutter. Ein Mann hat seine Frau umgebracht, damit sie der Ermordung durch die Deutschen entgeht, aber zur Selbsttötung fehlt ihm der Mut.
Auch der Antisemitismus in der ukrainischen Bevölkerung – ein schwieriges und nach dem russischen Angriff noch schwierigeres Thema in der Ukraine – wird angedeutet. Die ukrainische Schriftstellerin Sofia Andruchowytsch hatte unlängst in ihrem Roman „Die Geschichte von Uljana“, dem zweiten Teil ihres „Amadoka“-Epos, die Frage nach der Mitschuld der Ukrainer am Holocaust auf schonungslose Weise zuspitzt. Kijanowska ist vorsichtiger, aber auch sie beschreibt, wie die ukrainischen Hilfstruppen, die „polizaj“, den Nazis die Juden zutrieben, sie beschreibt den Antisemitismus und die Ausflüchte. Sie hat einen vielstimmigen Chor von Gesprächen, Gedanken, Abschweifungen und übersteigert wahrgenommenen Details geschaffen, den die Übersetzerin Claudia Dathe in seiner Atemlosigkeit und der sich überschlagenden Panik eindrucksvoll ins Deutsche übertragen hat.
Und doch gibt es Passagen, die einem den Atem stocken lassen, die Fragen aufwerfen, und das sind nicht nur die Anspielungen auf die biblische Heilsgeschichte. Denn an einigen Stellen führt Kijanowskas Zyklus nicht nur auf die Straße voller Leichen, sondern direkt in die Schlucht, zwischen die Körper der Sterbenden und Toten. „wie ich gefallen bin liege ich rücklings / neue körper werden kommen tags drauf“, heißt es an einer Stelle. „unter mir eine frau ihr rotes haar ist versengt“. Und: „mein nachbar haucht mir in den rücken stirb stirb doch endlich elijasch“.
Geht das zu weit? Sind diese letzten Momente für den „Holocaust mit Kugeln“, was die Szenen aus den Gaskammern für Auschwitz sind: unaussprechlich? Zumal, wenn diese Verse von einer nicht-jüdischen Dichterin stammen? Für manchen mag das so sein. „Ich hätte dieses Buch gern aus der Perspektive einer Nicht-Jüdin geschrieben“, hat Kijanowska in Berlin gesagt: „Ich konnte es nicht.“ Zumal sie sich in einer Reihe mit jenen sieht, die bereits vor Jahrzehnten gegen das Schweigen anschrieben und andichteten wie der sowjetische Dichter Jewgenij Jewtuschenko.
1961 beklagte Jewtuschenko in seinem Gedicht „Babij Jar“, so heißt der Ort auf Russisch, dass am Schauplatz des Verbrechens noch immer kein Denkmal stand. Damals war diese Kritik selbst für einen Star wie ihn nicht ohne Risiko. Zum Ärger der Sowjetführung wurde sein Gedicht umgehend weltberühmt. Dmitrij Schostakowitsch vertonte es, Paul Celan übersetzte es ins Deutsche. Eine Zeile darin lautet: „So alt wie das jüdische Volk bin ich heute. / Mir ist, als wenn ich selbst ein Jude bin.“ Es war keine Appropriation, keine Anmaßung, sondern eine Geste der Solidarität, des Mitgefühls. In dieser Tradition steht Kijanowska. In dieser Tradition sollte man sie lesen.
SONJA ZEKRI
Die Gedichte heißen
hier „Stimmen“
„Mir ist, als wenn
ich selbst ein Jude bin.“
Marianna Kijanowska:
Babyn Jar. Stimmen.
Gedichte.
Ukrainisch und deutsch.
Aus dem Ukrainischen von
Claudia Dathe.
Suhrkamp, Berlin 2024.
155 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein ungeheuerliches Werk:
Marianna Kijanowskas Gedichte über Babyn Jar.
Im September 1941 ermordete ein nationalsozialistisches Sonderkommando mit Unterstützung der Wehrmacht und ukrainischer Hilfspolizisten in einer Schlucht bei Kiew innerhalb von nur zwei Tagen 34 000 Juden, vor allem Alte, Frauen und Kinder. Es ist die schiere Geschwindigkeit, die enorme physische Anstrengung, die die Nazis an den Tag legten, die die Massenerschießung in der Schlucht von Babyn Jar von anderen Massakern unterschied. Babyn Jar wurde zum Symbol auf der ganzen Welt, im Land der Täter allerdings erst spät und im Land der Opfer aus ganz anderen Gründen eher noch später.
Dass die ukrainische Dichterin Marianna Kijanowska diesem Verbrechen einen Gedichtzyklus gewidmet hat, der 2017 auf Ukrainisch und soeben auf Deutsch erschienen ist, lässt sich deshalb nicht hoch genug einschätzen. Die sowjetische Führung, oft antisemitisch wie Stalin oder Chruschtschow, hatte die Würdigung einzelner Opfergruppen unterbunden. Sie passte weder zur Heldenerzählung vom Sieg über die Faschisten noch zur behaupteten Einheit aller Sowjetbürger. Nach 1991 widmete sich die unabhängige Ukraine den Tragödien der Nation, dem Holodomor, der stalinistischen Repression – nicht der Vernichtung der Juden.
Marianna Kijanowska, die 1973 im westukrainischen Schowkwa nördlich von Lwiw geboren wurde, mehr als ein Dutzend Lyrikbände veröffentlicht hat und heute in Lwiw lebt, hat dieses Thema zum Gegenstand ihrer Dichtung gemacht, das in der Ukraine lange keines war. Dabei war der Zyklus „Babyn Jar“ gar nicht geplant, er sei ihr „passiert“. So beschrieb sie es unlängst bei einer Lesung im Suhrkamp-Verlag in Berlin. Sie, die als Kind, ohne es zu wissen, mit den Trümmern jüdischer Grabsteine gespielt hatte und sich erst als Erwachsene mit der jüdischen Geschichte auseinandergesetzt hatte, habe in drei Monaten mehr als 300 Gedichte geschrieben, manchmal acht bis zehn am Tag. 67 davon fanden in das Buch. Physisch und psychisch war der Verschleiß enorm. Oft habe sie Alkohol gebraucht, um es auszuhalten. Am Ende sei ihr Haar grau gewesen.
Dabei ist das Außergewöhnliche oder, wie sie selbst es nennt, Ungeheuerliche ihres Bandes nicht der Gegenstand, sondern die Form. Marianna Kijanowska schreibt fast ausschließlich aus der Perspektive der jüdischen Opfer. Sie nennt ihre Gedichte „Stimmen“. Bis auf zwei Stimmen gehören alle 67 Menschen, die von den Deutschen in den Tod getrieben wurden. Ihnen blieb keine Zeit, um letzte Gedanken niederzuschreiben oder um Zeugnis abzulegen. Mehr als 80 Jahre später will Kijanowskas Zyklus dies an ihrer Stelle tun.
Sie greife nicht auf historische Figuren oder belegte Schicksale zurück, habe nicht im akademischen Sinne recherchiert, sagt Kijanowska. Vielmehr seien die „Stimmen“ zu ihr gekommen, habe sie selbst sich plötzlich in einer anderen Realität wiedergefunden. Das Ergebnis ist größte szenische Eindringlichkeit: „ich mit rucksack alik mit koffer und cello / mark erbricht schon das dritte mal.“ Und: „unsere nachbarin chawiwa hat sich herausgeputzt wie für ein fest.“ Und: „je näher die schlucht kommt desto lauter schreien die krähen“. Ein Bräutigam wurde vor der Hochzeit erschossen, der Braut ist nur das weiße Kleid geblieben und der Hass der Schwiegermutter. Ein Mann hat seine Frau umgebracht, damit sie der Ermordung durch die Deutschen entgeht, aber zur Selbsttötung fehlt ihm der Mut.
Auch der Antisemitismus in der ukrainischen Bevölkerung – ein schwieriges und nach dem russischen Angriff noch schwierigeres Thema in der Ukraine – wird angedeutet. Die ukrainische Schriftstellerin Sofia Andruchowytsch hatte unlängst in ihrem Roman „Die Geschichte von Uljana“, dem zweiten Teil ihres „Amadoka“-Epos, die Frage nach der Mitschuld der Ukrainer am Holocaust auf schonungslose Weise zuspitzt. Kijanowska ist vorsichtiger, aber auch sie beschreibt, wie die ukrainischen Hilfstruppen, die „polizaj“, den Nazis die Juden zutrieben, sie beschreibt den Antisemitismus und die Ausflüchte. Sie hat einen vielstimmigen Chor von Gesprächen, Gedanken, Abschweifungen und übersteigert wahrgenommenen Details geschaffen, den die Übersetzerin Claudia Dathe in seiner Atemlosigkeit und der sich überschlagenden Panik eindrucksvoll ins Deutsche übertragen hat.
Und doch gibt es Passagen, die einem den Atem stocken lassen, die Fragen aufwerfen, und das sind nicht nur die Anspielungen auf die biblische Heilsgeschichte. Denn an einigen Stellen führt Kijanowskas Zyklus nicht nur auf die Straße voller Leichen, sondern direkt in die Schlucht, zwischen die Körper der Sterbenden und Toten. „wie ich gefallen bin liege ich rücklings / neue körper werden kommen tags drauf“, heißt es an einer Stelle. „unter mir eine frau ihr rotes haar ist versengt“. Und: „mein nachbar haucht mir in den rücken stirb stirb doch endlich elijasch“.
Geht das zu weit? Sind diese letzten Momente für den „Holocaust mit Kugeln“, was die Szenen aus den Gaskammern für Auschwitz sind: unaussprechlich? Zumal, wenn diese Verse von einer nicht-jüdischen Dichterin stammen? Für manchen mag das so sein. „Ich hätte dieses Buch gern aus der Perspektive einer Nicht-Jüdin geschrieben“, hat Kijanowska in Berlin gesagt: „Ich konnte es nicht.“ Zumal sie sich in einer Reihe mit jenen sieht, die bereits vor Jahrzehnten gegen das Schweigen anschrieben und andichteten wie der sowjetische Dichter Jewgenij Jewtuschenko.
1961 beklagte Jewtuschenko in seinem Gedicht „Babij Jar“, so heißt der Ort auf Russisch, dass am Schauplatz des Verbrechens noch immer kein Denkmal stand. Damals war diese Kritik selbst für einen Star wie ihn nicht ohne Risiko. Zum Ärger der Sowjetführung wurde sein Gedicht umgehend weltberühmt. Dmitrij Schostakowitsch vertonte es, Paul Celan übersetzte es ins Deutsche. Eine Zeile darin lautet: „So alt wie das jüdische Volk bin ich heute. / Mir ist, als wenn ich selbst ein Jude bin.“ Es war keine Appropriation, keine Anmaßung, sondern eine Geste der Solidarität, des Mitgefühls. In dieser Tradition steht Kijanowska. In dieser Tradition sollte man sie lesen.
SONJA ZEKRI
Die Gedichte heißen
hier „Stimmen“
„Mir ist, als wenn
ich selbst ein Jude bin.“
Marianna Kijanowska:
Babyn Jar. Stimmen.
Gedichte.
Ukrainisch und deutsch.
Aus dem Ukrainischen von
Claudia Dathe.
Suhrkamp, Berlin 2024.
155 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»[Ein] zu Recht preisgekrönter Zyklus ... nun in einer ukrainisch-deutschen Ausgabe mit kongenialen Nachdichtungen von Claudia Dathe sowie deren Nachwort herausgebracht.« Kerstin Holm Frankfurter Allgemeine Zeitung 20241012