»Ein einzigartiges, faszinierendes Buch, das nacheinander Irritation, Bewunderung, Stirnrunzeln, Faszination und so etwas wie Rührung hervorruft.« Die Welt
Welche Rolle der Leipziger Thomaskantor Johann Sebastian Bach für das Leben und Schreiben des Schriftstellers Maarten 't Hart spielt, kam schon in seinem Roman »Das Wüten der ganzen Welt« zum Ausdruck. Kenntnisreich rekonstruiert der Autor nun die Biografie Bachs, nähert sich vorsichtig, seriös und dennoch sehr persönlich seinem Lieblingskomponisten, beschäftigt sich mit der Legendenbildung und vor allem mit der Musik des großen Meisters.
Eine fundierte und liebevolle Hommage an den Bach der Kantaten, der Kammermusik und der Konzerte.
Welche Rolle der Leipziger Thomaskantor Johann Sebastian Bach für das Leben und Schreiben des Schriftstellers Maarten 't Hart spielt, kam schon in seinem Roman »Das Wüten der ganzen Welt« zum Ausdruck. Kenntnisreich rekonstruiert der Autor nun die Biografie Bachs, nähert sich vorsichtig, seriös und dennoch sehr persönlich seinem Lieblingskomponisten, beschäftigt sich mit der Legendenbildung und vor allem mit der Musik des großen Meisters.
Eine fundierte und liebevolle Hommage an den Bach der Kantaten, der Kammermusik und der Konzerte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.07.2000Das Wüten der Empfindung
Maarten 't Hart ist Bachs Erwählter · Von Hans-Herbert Räkel
Eine Rezension flattert durchs Internet: "Ja Leute, bei Nick Hornbys ,High Fidelity' kommen die Popfreunde zum Zug, bei ,Das Wüten der ganzen Welt' werden die Klassikfans bedient." Ob sich Maarten t' Hart in dieser Gesellschaft wohl fühlt? Nicht ohne Genugtuung vermerkt er in seinem neuen Buch, "daß in den sechziger Jahren die Melancholie der Beatles, Elvis Presley und die Rolling Stones völlig an mir vorbeigingen. Die Choralbearbeitungen Bachs waren unendlich viel schöner. Auch so schrecklichen Dingen wie dem Jazz bin ich dank Bach nie anheimgefallen." So getrennt die Wege der Musikbegeisterung bei Nick Hornby und bei Maarten 't Hart auch verlaufen mögen, in einem Punkt ist die Rezension auf der richtigen Spur, wenn sie die beiden in einem Atemzug nennt: Maarten 't Hart hat etwas vom Fan in der Unbedingtheit seiner Anhängerschaft an Bach, "der mich als Kind mit der Bearbeitung des Chorals ,Wohl mir, dass ich Jesum habe' aus der Kantate BWV 147 in seine Obhut genommen hat und den ich über alles liebe mit ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzem Verstand und all meiner Kraft". Und er hört Bach wie die Popfreunde die Beatles: "Ich habe (die Kantate) drei Wochen lang jeden Tag etwa zehnmal gehört."
Liebe kann man nicht rezensieren. Sie aber ist es, die dieses Buch trägt. "Seltsam, aber die erste Bekanntschaft mit einem so unglaublichen Musikstück gleicht gewissermaßen dem ersten Kuss", und beim Spielen "stammelt irgendwo im Gehirn ein Stimmchen Bach, Bach, Bach - wie ein Verliebter den Namen seiner Geliebten flüstert". Für Maarten 't Hart ist Bach ein Mystagog. In London betrat er einst eine Kirche, in der jemand Bach auf der Orgel übte: "Eine Stunde lang habe ich atemlos, mit meinen Tränen kämpfend, zugehört. Als hätte Bach gewusst, dass ich ihn in diesem Augenblick dringend brauchte", und der Erwählte bekennt: "Beim Spielen kommt es mir vor, als hätte Bach schon vor langer Zeit gewusst, dass ich einst auf der Welt sein würde."
Was in dem Roman "Das Wüten der ganzen Welt" durch das Prisma der Fiktion gebrochen war, wird hier unmittelbar. Aber der Autor ist nicht nur ein Liebhaber, sondern auch ein wirklicher Kenner, der Bachs Klavier- und Orgelwerke selber spielt und viel wissenschaftliche Literatur über den Meister gelesen hat. Sein Buch enthält ein durchaus seriöses Kapitel mit Lektüreempfehlungen, Bibliographie und Register. Der frische und kritische Blick macht es, mindestens in seinen ersten Kapiteln, zu einer spannenden und lehrreichen Lektüre. Das Wuchern der Biographie bei den verschiedensten Autoren wird nicht ohne Sarkasmus an den zahlreichen Versionen zu Bachs Streit mit dem Fagottisten Geyersbach in Arnstadt vorgeführt; eine fast pedantische Aufzählung aller Todesfälle in der Nähe des jungen Bach wird jeden Leser nachdenklich stimmen, mit seinem Kapitel über die angebliche Grobheit des Komponisten hat der Autor die Leser ganz auf seiner Seite. Bachs Ungeschick im Abfassen von Briefen wirft helles Licht auf ein Stück persönlicher und gesellschaftlicher Wirklichkeit.
Wie viele seiner mit der Barocklyrik wenig vertrauten Vorgänger, darunter Albert Schweitzer, findet 't Hart Bachs Kantatentexte schlecht. Aber ein Wort wie das monierte "Kreuzesstamm" hat eine gewaltige theologische Bedeutung hinter sich und füllt nicht nur einen etwas zu langen Vers! Und die mehrfach getadelten "Knittelverse" gibt es gar nicht - gemeint sind die damals sehr modernen Madrigalverse. Hängt 't Harts Abneigung nicht einfach daran, dass für ihn jeder Text die Musik nur verunreinigen kann? Sein musikalisches Schlüsselerlebnis war nicht zufällig die textfreie Klavierbearbeitung Dinu Lipattis, die dadurch eine besondere Aura gewann, dass der frühreife Pianist schon mit dreiunddreißig Jahren 1950 in Genf verstorben war: Nicht nur die Komposition Bachs, auch die Interpretation klang herüber aus einer Welt jenseits des Grabes. Auf der beiliegenden Platte ist dieser Choral "Wohl mir, dass ich Jesum habe" in der Erato-Aufnahme von Ton Koopman (1998) das erste Stück: Lipattis sphärenharmonische Diskretion genügt heute nicht mehr, jede betonte Note bekommt jetzt eigens den Geist der Musik in einem Crescendo eingeblasen.
Diesem Geist will Maarten 't Hart treu und unverbrüchlich dienen: privat, indem er Bachs Klavier- und Orgelwerke spielt und alles sammelt, was es an Tonaufnahmen gibt; mit öffentlichem Anspruch und großem Publikumserfolg dadurch, dass er ihn literarisch zu Wort kommen lässt. Wenn aber der Geist der Musik zu Wort kommt, muss er etwas sagen und also gerade das tun, wovon er in der Sphäre der Töne und Klänge weitgehend frei ist. So stellt die Literarisierung Bachs und seiner Musik ihn notwendig in den Dienst anderer Geister, die sich nun um ihren Anteil am Geist seiner Musik streiten dürfen. Maarten 't Hart fühlt nur zu deutlich den Besitzanspruch der Theologie und der evangelischen Frömmigkeit, und er versucht ihn mit allen Mitteln abzuwehren. Dabei scheut er auch kleine Frechheiten nicht: "Immer wenn ich das ,Ich ruf' zu dir, Herr Jesu Christ' spiele, denke ich: Noch nie wurde Jesus eindringlicher gerufen. Trotzdem ist nicht bekannt, dass er jemals zurückgerufen hätte." In den Niederlanden hat er kürzlich mit einer Polemik gegen die "albernen" Wundergeschichten des Neuen Testaments einen Wirbel von Zustimmung und Protest ausgelöst. Fromme Seelen hielten ihm vor, dass "Jesus auch für Maarten 't Hart gestorben ist". Der etwas donquichoteske Eifer des Schriftstellers verdankt sich der immer wieder mit Abscheu erwähnten religiösen Erziehung seiner Kindheit. In sein Buch hat er ein Kapitel über Bach und die Theologie eingefügt, worunter er allerdings hauptsächlich die Frage nach Bachs Gläubigkeit versteht. Dass Bach "in der Bibel nach einer Rechtfertigung für seine Kompositionspraxis suchte", dass er "seine kirchlichen Pflichten weniger aus Überzeugung als vielmehr mit Kalkül erfüllte", dass bei ihm "keine tiefe Gläubigkeit als Inspirationsquelle" zu finden sei, "dass Bach in theologischer Hinsicht eher ein Opportunist als ein Fanatiker war" - das alles lässt sich wohl behaupten, zumal auch Maarten 't Hart für sehr wahrscheinlich hält, dass der Thomaskantor "tief gläubig war" und dass "ohne gewisse theologische Kenntnisse uns manche Aspekte in Bachs Werk verschlossen bleiben".
Abwehren möchte er wohl doch nur jene eifernde Ausschließlichkeit, mit welcher einige Gläubige Bachs Musik in Beschlag nehmen, nicht nur 't Harts Landsmann Willem J. Ouweneel, der noch 1994 behauptete, "dass nur der gläubige Christ die Größe der Matthäus-Passion wirklich erfassen kann". Welcher Bach-Verehrer könnte da zustimmen? Er ist mit seinem Protest auch in bester Gesellschaft. Friedrich Blume hatte sich 1962 gegen eine solche Vereinnahmung gewehrt, und 't Hart bezieht sich auch dankbar auf ihn. Entschiedener hatte schon 1951 Theodor W. Adorno "Bach gegen seine Liebhaber verteidigt": "Das Werk, das einmal aus der Enge des theologischen Horizonts sich erzeugte, um ihn zu durchbrechen und in Universalität überzugehen, wird in die Schranken zurückgerufen, die es überstieg."
Freilich haben die Schranken auch ihre musikalische Bedeutung, und in nachromantischer Zeit ist man nur allzu schnell bereit, den Ort der Bach'schen Musik im Lebenszusammenhang seines Zeitalters gering zu achten. Damit gehen bedauerliche Missverständnisse einher. Maarten 't Hart beteuert, dass Bach "vor allem ein Melodie-Erfinder sondergleichen" gewesen sei. Das ist sicher richtig, aber Bachs Verhältnis zur Melodie ist entscheidend geprägt durch die Vorgabe einer alten und von jedermann täglich benutzten, evangelisch geprägten Melodie-Masse von Chorälen. Die bis heute im Gesangbuch stehende Melodie von Maarten 't Harts Urchoral "Wohl mir, dass ich Jesum habe" ist eher unscheinbar, gar primitiv zu nennen, wie so viele Choralmelodien, die ihren affektiven Wert für die Frommen aus dem Text und den Anlässen ihres Gebrauchs und durchaus nicht aus ihrer musikalischen Schönheit beziehen. Bachs Orgelvorspiele sind denn auch ihrer Funktion als Gebrauchskunst zutiefst verpflichtet.
Die musikalische Unbedingtheit bei Maarten 't Hart ist ein romantisches Erbe. Es erklärt, dass er durchaus kein Verständnis dafür aufbringt, wenn Bach sich an fremden und mehr noch an eigenen Werken "vergreift", um sie zu parodieren, umzuarbeiten und wieder zu verwenden. Das belegt zwar, dass die tief gläubigen Texte nichts mit der dazukomponierten Musik zu tun haben - und das ist Wasser auf des Autors Mühlen - , es belegt aber andererseits, dass Bach kaum das Musikverständnis heutiger Musikfreunde vorausgesetzt haben kann, als er zum Beispiel das Largo aus dem Konzert für zwei Violinen (BWV 1043) für zwei Cembali bearbeitete.
Die gesamte zweite Hälfte des Buchs ist dem privaten Umgang des Autors mit der Musik gewidmet (mit einem kleinen Kompendium persönlicher Anmerkungen zu über hundert einzelnen Kantaten). Hörten die Liebhaber Bachs, die Adorno im Visier hatte, bei ihm nichts als evangelische Verkündigung, so geht 't Hart ganz im überschwänglichen individuellen Genuss auf. Dass die Motetten, Kantaten, Oratorien und Passionen große Chöre, Solisten und Orchester zu oft gewaltigen musikalischen Ereignissen versammeln, beschreibt er nie aus der Perspektive eines Choristen, sondern meist aus der Perspektive des Konzert-, noch besser des Plattenhörers. Das einzelgängerische Musikhören kommt dem individuellen Genuss entgegen, es fördert die Ergriffenheit. Sie ist in diesem Buch der Endzweck der Musik und sucht sich literarisch immer wieder Ausdruck in den Formen mystischer Sprache, in Unsagbarkeitsgesten ("Worte reichen nicht aus, um dieses Wunder zu beschreiben"), Hyperbeln ("atemberaubend"), Superlativen ("eines der wunderbarsten, schönsten Stücke") und Ausrufen ("oh wie schön ist das!"). Ist das Buch, wie versprochen, "eine der originellsten, anregendsten und liebevollsten Neuerscheinungen im Bach-Jahr"? Gewiss, aber auch eine der befremdlichsten für alle, die Bach weniger inbrünstig verehren.
Maarten 't Hart: "Bach und ich". Aus dem Niederländischen übersetzt von Maria Cyollány. Arche Verlag, Zürich und Hamburg 2000. 264 S. und eine CD, geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Maarten 't Hart ist Bachs Erwählter · Von Hans-Herbert Räkel
Eine Rezension flattert durchs Internet: "Ja Leute, bei Nick Hornbys ,High Fidelity' kommen die Popfreunde zum Zug, bei ,Das Wüten der ganzen Welt' werden die Klassikfans bedient." Ob sich Maarten t' Hart in dieser Gesellschaft wohl fühlt? Nicht ohne Genugtuung vermerkt er in seinem neuen Buch, "daß in den sechziger Jahren die Melancholie der Beatles, Elvis Presley und die Rolling Stones völlig an mir vorbeigingen. Die Choralbearbeitungen Bachs waren unendlich viel schöner. Auch so schrecklichen Dingen wie dem Jazz bin ich dank Bach nie anheimgefallen." So getrennt die Wege der Musikbegeisterung bei Nick Hornby und bei Maarten 't Hart auch verlaufen mögen, in einem Punkt ist die Rezension auf der richtigen Spur, wenn sie die beiden in einem Atemzug nennt: Maarten 't Hart hat etwas vom Fan in der Unbedingtheit seiner Anhängerschaft an Bach, "der mich als Kind mit der Bearbeitung des Chorals ,Wohl mir, dass ich Jesum habe' aus der Kantate BWV 147 in seine Obhut genommen hat und den ich über alles liebe mit ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzem Verstand und all meiner Kraft". Und er hört Bach wie die Popfreunde die Beatles: "Ich habe (die Kantate) drei Wochen lang jeden Tag etwa zehnmal gehört."
Liebe kann man nicht rezensieren. Sie aber ist es, die dieses Buch trägt. "Seltsam, aber die erste Bekanntschaft mit einem so unglaublichen Musikstück gleicht gewissermaßen dem ersten Kuss", und beim Spielen "stammelt irgendwo im Gehirn ein Stimmchen Bach, Bach, Bach - wie ein Verliebter den Namen seiner Geliebten flüstert". Für Maarten 't Hart ist Bach ein Mystagog. In London betrat er einst eine Kirche, in der jemand Bach auf der Orgel übte: "Eine Stunde lang habe ich atemlos, mit meinen Tränen kämpfend, zugehört. Als hätte Bach gewusst, dass ich ihn in diesem Augenblick dringend brauchte", und der Erwählte bekennt: "Beim Spielen kommt es mir vor, als hätte Bach schon vor langer Zeit gewusst, dass ich einst auf der Welt sein würde."
Was in dem Roman "Das Wüten der ganzen Welt" durch das Prisma der Fiktion gebrochen war, wird hier unmittelbar. Aber der Autor ist nicht nur ein Liebhaber, sondern auch ein wirklicher Kenner, der Bachs Klavier- und Orgelwerke selber spielt und viel wissenschaftliche Literatur über den Meister gelesen hat. Sein Buch enthält ein durchaus seriöses Kapitel mit Lektüreempfehlungen, Bibliographie und Register. Der frische und kritische Blick macht es, mindestens in seinen ersten Kapiteln, zu einer spannenden und lehrreichen Lektüre. Das Wuchern der Biographie bei den verschiedensten Autoren wird nicht ohne Sarkasmus an den zahlreichen Versionen zu Bachs Streit mit dem Fagottisten Geyersbach in Arnstadt vorgeführt; eine fast pedantische Aufzählung aller Todesfälle in der Nähe des jungen Bach wird jeden Leser nachdenklich stimmen, mit seinem Kapitel über die angebliche Grobheit des Komponisten hat der Autor die Leser ganz auf seiner Seite. Bachs Ungeschick im Abfassen von Briefen wirft helles Licht auf ein Stück persönlicher und gesellschaftlicher Wirklichkeit.
Wie viele seiner mit der Barocklyrik wenig vertrauten Vorgänger, darunter Albert Schweitzer, findet 't Hart Bachs Kantatentexte schlecht. Aber ein Wort wie das monierte "Kreuzesstamm" hat eine gewaltige theologische Bedeutung hinter sich und füllt nicht nur einen etwas zu langen Vers! Und die mehrfach getadelten "Knittelverse" gibt es gar nicht - gemeint sind die damals sehr modernen Madrigalverse. Hängt 't Harts Abneigung nicht einfach daran, dass für ihn jeder Text die Musik nur verunreinigen kann? Sein musikalisches Schlüsselerlebnis war nicht zufällig die textfreie Klavierbearbeitung Dinu Lipattis, die dadurch eine besondere Aura gewann, dass der frühreife Pianist schon mit dreiunddreißig Jahren 1950 in Genf verstorben war: Nicht nur die Komposition Bachs, auch die Interpretation klang herüber aus einer Welt jenseits des Grabes. Auf der beiliegenden Platte ist dieser Choral "Wohl mir, dass ich Jesum habe" in der Erato-Aufnahme von Ton Koopman (1998) das erste Stück: Lipattis sphärenharmonische Diskretion genügt heute nicht mehr, jede betonte Note bekommt jetzt eigens den Geist der Musik in einem Crescendo eingeblasen.
Diesem Geist will Maarten 't Hart treu und unverbrüchlich dienen: privat, indem er Bachs Klavier- und Orgelwerke spielt und alles sammelt, was es an Tonaufnahmen gibt; mit öffentlichem Anspruch und großem Publikumserfolg dadurch, dass er ihn literarisch zu Wort kommen lässt. Wenn aber der Geist der Musik zu Wort kommt, muss er etwas sagen und also gerade das tun, wovon er in der Sphäre der Töne und Klänge weitgehend frei ist. So stellt die Literarisierung Bachs und seiner Musik ihn notwendig in den Dienst anderer Geister, die sich nun um ihren Anteil am Geist seiner Musik streiten dürfen. Maarten 't Hart fühlt nur zu deutlich den Besitzanspruch der Theologie und der evangelischen Frömmigkeit, und er versucht ihn mit allen Mitteln abzuwehren. Dabei scheut er auch kleine Frechheiten nicht: "Immer wenn ich das ,Ich ruf' zu dir, Herr Jesu Christ' spiele, denke ich: Noch nie wurde Jesus eindringlicher gerufen. Trotzdem ist nicht bekannt, dass er jemals zurückgerufen hätte." In den Niederlanden hat er kürzlich mit einer Polemik gegen die "albernen" Wundergeschichten des Neuen Testaments einen Wirbel von Zustimmung und Protest ausgelöst. Fromme Seelen hielten ihm vor, dass "Jesus auch für Maarten 't Hart gestorben ist". Der etwas donquichoteske Eifer des Schriftstellers verdankt sich der immer wieder mit Abscheu erwähnten religiösen Erziehung seiner Kindheit. In sein Buch hat er ein Kapitel über Bach und die Theologie eingefügt, worunter er allerdings hauptsächlich die Frage nach Bachs Gläubigkeit versteht. Dass Bach "in der Bibel nach einer Rechtfertigung für seine Kompositionspraxis suchte", dass er "seine kirchlichen Pflichten weniger aus Überzeugung als vielmehr mit Kalkül erfüllte", dass bei ihm "keine tiefe Gläubigkeit als Inspirationsquelle" zu finden sei, "dass Bach in theologischer Hinsicht eher ein Opportunist als ein Fanatiker war" - das alles lässt sich wohl behaupten, zumal auch Maarten 't Hart für sehr wahrscheinlich hält, dass der Thomaskantor "tief gläubig war" und dass "ohne gewisse theologische Kenntnisse uns manche Aspekte in Bachs Werk verschlossen bleiben".
Abwehren möchte er wohl doch nur jene eifernde Ausschließlichkeit, mit welcher einige Gläubige Bachs Musik in Beschlag nehmen, nicht nur 't Harts Landsmann Willem J. Ouweneel, der noch 1994 behauptete, "dass nur der gläubige Christ die Größe der Matthäus-Passion wirklich erfassen kann". Welcher Bach-Verehrer könnte da zustimmen? Er ist mit seinem Protest auch in bester Gesellschaft. Friedrich Blume hatte sich 1962 gegen eine solche Vereinnahmung gewehrt, und 't Hart bezieht sich auch dankbar auf ihn. Entschiedener hatte schon 1951 Theodor W. Adorno "Bach gegen seine Liebhaber verteidigt": "Das Werk, das einmal aus der Enge des theologischen Horizonts sich erzeugte, um ihn zu durchbrechen und in Universalität überzugehen, wird in die Schranken zurückgerufen, die es überstieg."
Freilich haben die Schranken auch ihre musikalische Bedeutung, und in nachromantischer Zeit ist man nur allzu schnell bereit, den Ort der Bach'schen Musik im Lebenszusammenhang seines Zeitalters gering zu achten. Damit gehen bedauerliche Missverständnisse einher. Maarten 't Hart beteuert, dass Bach "vor allem ein Melodie-Erfinder sondergleichen" gewesen sei. Das ist sicher richtig, aber Bachs Verhältnis zur Melodie ist entscheidend geprägt durch die Vorgabe einer alten und von jedermann täglich benutzten, evangelisch geprägten Melodie-Masse von Chorälen. Die bis heute im Gesangbuch stehende Melodie von Maarten 't Harts Urchoral "Wohl mir, dass ich Jesum habe" ist eher unscheinbar, gar primitiv zu nennen, wie so viele Choralmelodien, die ihren affektiven Wert für die Frommen aus dem Text und den Anlässen ihres Gebrauchs und durchaus nicht aus ihrer musikalischen Schönheit beziehen. Bachs Orgelvorspiele sind denn auch ihrer Funktion als Gebrauchskunst zutiefst verpflichtet.
Die musikalische Unbedingtheit bei Maarten 't Hart ist ein romantisches Erbe. Es erklärt, dass er durchaus kein Verständnis dafür aufbringt, wenn Bach sich an fremden und mehr noch an eigenen Werken "vergreift", um sie zu parodieren, umzuarbeiten und wieder zu verwenden. Das belegt zwar, dass die tief gläubigen Texte nichts mit der dazukomponierten Musik zu tun haben - und das ist Wasser auf des Autors Mühlen - , es belegt aber andererseits, dass Bach kaum das Musikverständnis heutiger Musikfreunde vorausgesetzt haben kann, als er zum Beispiel das Largo aus dem Konzert für zwei Violinen (BWV 1043) für zwei Cembali bearbeitete.
Die gesamte zweite Hälfte des Buchs ist dem privaten Umgang des Autors mit der Musik gewidmet (mit einem kleinen Kompendium persönlicher Anmerkungen zu über hundert einzelnen Kantaten). Hörten die Liebhaber Bachs, die Adorno im Visier hatte, bei ihm nichts als evangelische Verkündigung, so geht 't Hart ganz im überschwänglichen individuellen Genuss auf. Dass die Motetten, Kantaten, Oratorien und Passionen große Chöre, Solisten und Orchester zu oft gewaltigen musikalischen Ereignissen versammeln, beschreibt er nie aus der Perspektive eines Choristen, sondern meist aus der Perspektive des Konzert-, noch besser des Plattenhörers. Das einzelgängerische Musikhören kommt dem individuellen Genuss entgegen, es fördert die Ergriffenheit. Sie ist in diesem Buch der Endzweck der Musik und sucht sich literarisch immer wieder Ausdruck in den Formen mystischer Sprache, in Unsagbarkeitsgesten ("Worte reichen nicht aus, um dieses Wunder zu beschreiben"), Hyperbeln ("atemberaubend"), Superlativen ("eines der wunderbarsten, schönsten Stücke") und Ausrufen ("oh wie schön ist das!"). Ist das Buch, wie versprochen, "eine der originellsten, anregendsten und liebevollsten Neuerscheinungen im Bach-Jahr"? Gewiss, aber auch eine der befremdlichsten für alle, die Bach weniger inbrünstig verehren.
Maarten 't Hart: "Bach und ich". Aus dem Niederländischen übersetzt von Maria Cyollány. Arche Verlag, Zürich und Hamburg 2000. 264 S. und eine CD, geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein einzigartiges, faszinierendes Buch, das nacheinander Irritation, Bewunderung, Stirnrunzeln, Faszination und so etwas wie Rührung hervorruft.« Die Welt