Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.10.2012Das Fegefeuer
geht um
Seit 40 Jahren kämpft Tom Wolfe gegen die Literatur
„Messh . . . cinngh . . . neetz . . . guhn arrrgh . . . muhfughh . . . nooonmp . . . Shit . . . boggghh . . . frimp . . . ssslooosh“ – der Vorleser der Hörbuchversion von Tom Wolfes neuem Roman „Back to Blood“ ( Little, Brown and Company, New York 2012 ), der an diesem Dienstag erscheint, ist nicht zu beneiden. Es gibt kaum einen Satz in diesem 720-Seiten-Buch, der nicht von derlei onomatopoetischer Akrobatik – „ROAR“, „WHOOP WHOOP! WOO-WOOOO!“ – unterbrochen wird. Anderes war von Wolfe nicht zu erwarten. Diese Sprachmanierismen gehören ebenso zu seiner brand wie seine ironischen Gesellschaftspanoramen in Breitwand und 3-D, die er von New York („The Bonfire of the Vanities“) und Atlanta („A Man in Full“) gezeichnet hat. Nun erfährt nach einem kleinen Umweg über einen Collegecampus („I Am Charlotte Simmons“) die nächste Metropole die Wolfesche Behandlung: Miami.
Warum Miami? Das illustriert Wolfe anhand eines emblematischen Vorspiels: Wir sind vor dem Restaurant Balzac’s, wo Edward T. Topping IV., der neue Herausgeber des Miami Herald und ein WASP wie er im Buche steht, und seine Frau seit längerem im Hybridwinzling „Green Elf“ auf dem Parkplatz herumkurven. Doch als sie endlich eine Lücke entdecken, prescht rückwärts ein Ferrari 403 hinein – darin eine superelegante Kubanerin, die seelenruhig ihre Kroko-Heels aus dem Wagen hebt. Was fällt ihnen ein?, kreischt die weiße Frau des Herausgebers. „You een Mee-ah-mee now!“, antwortet die reiche Latina nur. Unsere Religionskriege, summiert der durchaus liberal gesonnene Herausgeber die Episode auf dem Weg ins Restaurant, sind nur das Mäntelchen, unter dem wir den wahren, uralten Konflikt verbergen, den der Rassen. „Back to blood!“
Und wo ließe sich dieser wahre oder vermeintliche Rassenkrieg besser beobachten als in Miami, dessen Bewohner zu 50 Prozent Einwanderer erster Generation sind, und in dem mit 70 Prozent Latinos, 20 Prozent Schwarzen und nur zehn Prozent Weißen die demografischen Verhältnisse der USA auf dem Kopf stehen?
Nestor und Magdalena sind zwei Vertreter dieser Latino-Mehrheit, auch wenn ihnen das bislang nicht viel gebracht hat. Er ist Polizist im Marine Patrole Unit, sie Sprechstundenhilfe. Doch nicht das Leben im Latino-Ghetto Hialeah, wo sich in mickrigen Hütten die Generationen stapeln, interessiert Wolfe, sondern die Flucht weg von dort – und nach oben. Magdalena hat es, weil sie dumm, aber schön ist, relativ leicht. Erst betrügt sie Nestor mit ihrem Chef, einem Promi-Psychiater, Scharlatan und Hochstapler, der sich auf das Wachstumsfeld „Porno-Sucht“ spezialisiert hat. Von dort aus ist es dann nicht mehr weit in die VIP-Lounge der Art Basel Miami Beach, wo ihr ein russischer Oligarch erfolgreich zuzwinkert.
Nestor hingegen wird als unfreiwilliger Held einer Serie spektakulärer Polizeieinsätze zwischen den Fronten zerrieben. Für die halsbrecherische Festnahme eines kubanischen Flüchtlings, mit der er Punkte bei seinem rassistischen weißen Chef sammelt, wird er von seiner Familie und der halben Stadt verstoßen. Das YouTube-Video, das ihn zeigt als er einen Crackdealer überwältigt, befeuert den Hass der Schwarzen auf die Kubaner. Und weil er und seine Muskeln ständig in den Zeitungen auftauchen, hat irgendwann auch der Bürgermeister genug vom „one-man race riot“.
Und dann ist da noch der aus Haiti stammende Professor Lantier, der seinen Job als Dozent für französische Literatur nur bekommen hat, weil niemand sonst Kreolisch konnte, was er – „diversity!“ – nebenbei leider unterrichten muss. Professor Lanier ist ein kleines bisschen dunkler als die Weißen, aber er fühlt sich „im Wesen europäisch“. Um seine Kultiviertheit auszudrücken, musste er unbedingt ein Art-Déco-Haus haben, konnte es sich aber nur leisten, weil es in einer schwarzen Gegend stand. Nun zahlt er dafür in anderer Währung: sein Sohn rutscht in den lokalen Gang-Untergrund ab.
Ein grandioser Stoff ist das, dieses kollektive Treten und Strampeln um Status, diese Gesellschaft aus lauter Kleinen, die alle Große sein wollen. Was hätte Don DeLillo daraus gemacht, oder Robert Altman! Doch leider heißt der Autor Tom Wolfe.
1989, zwei Jahre nach seinem triumphalen Erfolg mit „The Bonfire of the Vanities“ schrieb Wolfe in Harper’s Magazine sein poetologisches Manifest „Stalking the Billion-Footed Beast“. Die amerikanische Literatur, so behauptete er, habe sich zugunsten binnenliterarischer Form-Spielchen von der Welt abgewandt. Balzac, Zola, Steinbeck: DAS sei Literatur. Geht auf die Straße und macht die Augen auf!, rief er den Kollegen zu, statt Borges, Beckett oder Calvino nachzueifern. Die ersten Nachrichten von seinem Miami-Roman machten denn auch die Runde, als Tom Wolfe dort auf Recherche gesichtet wurde.
Dass er für seine Polemik damals zurecht verhöhnt wurde, deutete sich schon in seinen letzten beiden Romanen an. Doch „Back to Blood“ stellt einen neuerlichen Tiefpunkt dar. Denn was auch immer Wolfe meinte mit dem „hochdetaillierten Realismus“, den er zum Ideal erhebt, als Formel zur literarischen Darstellung der Wirklichkeit genügt er nicht. Obwohl er der Beschreibung von Nestors auftrainiertem Körper ganze Seiten widmet und dabei kaum einen Muskel auslässt – „traps, delts, lats, pecs, biceps, triceps, obliques, abs, glutes, quads – dense! “, bleibt der junge Polizist wie alle anderen bloße Type. Zwar wendet sich Wolfe seinen Personen reihum zu, und lässt uns ihren in freier indirekter Rede wiedergegebenen Gedanken lauschen. Doch was da zu hören ist, ist immer nur Tom Wolfe selbst.
Das hat mit den Grenzen seines erzählerischen Könnens zu tun, doch zu allererst liegt es daran, dass er sich nicht zwischen „hochdetailliertem Realismus“ und Satire entscheiden kann, zwei literarischen Modi, die sich gegenseitig ausschließen. Der Porno-Doktor, der glucksend mit seiner Assistentin bumst, während im Nebenzimmer das Fernsehteam seine Kameras aufbaut? Sehr witzig, aber bald auch sehr langweilig. Der fette Milliardär, der auf der Kunstmesse von Stand zu Stand stürmt und innerhalb von Minuten Millionen ausgibt, ohne auch nur den leisesten Schimmer zu haben. Ja, auch er ist treffend beobachtet – und dann derart zur Karikatur verzerrt, dass er den Leser bald kalt lässt.
Und hier liegt das nächste Problem: Im Irrglauben, die Wirklichkeit erscheine auf Papier desto wirklicher, je mehr Intensität ihr zugeschrieben werde, kennt Wolfe nichts anderes als die Übersteuerung. Ein paar Polizeiautos im Fernsehen sind dann gleich „epileptische Sequenzen von roten und blauen und gleißenden weißen Lichtern – sie tun weh, die weißen Lichter!“, Nestors Brust ist ein „Gibraltar aus Muskeln“, und die Käufer auf der Art Basel sind ein „Haufen sich krümmender Maden“. Je lauter Wolfe aufdreht, je aufgedonnerter und bombastischer er schreibt, desto schneller blättert man weiter.
Wer so gnadenlos auf sein Personal herabsieht, der muss sich selbst an seinen Kriterien messen lassen, auch noch mit 82 Jahren. Und hier macht Wolfe, der sich seiner minutiösen Recherchen so rühmt, nicht immer eine gute Figur. Das Verb „to iPhone“, das er gelegentlich fallen lässt, um zu demonstrieren, dass er sich in der Gegenwart auskennt, existiert nicht. Niemand würde einen Kunstsammler als „playa“ bezeichnen. Und dass die Mode der vom Hintern rutschenden baggy pants zwar aus dem Knast stammt, aber längst in der weißen Mittelklasse angekommen ist, scheint Wolfe auch entgangen zu sein. Er lässt es sich auf der Zunge zergehen, dass Nestor nicht weiß wer „dieser Typ namens Balzac“ ist, doch nur wenige Zeilen später vertut er sich – „Les Artes Decoratifs“ - zum wiederholten Mal selbst mit dem Französischen.
Wolfe mokiert sich flächendeckend über die Welt von heute; entdeckt Falschheit, Geschmacklosigkeit und verlotternde Sitten, wohin er auch sieht. Doch wenn das alles so scheußlich ist, warum investiert er dann Dutzende von Seiten, um all die schönen, nackten, sexwütigen und betrunkenen Frauen bei der orgiastischen Columbus Day Regatta zu beschreiben? Wo genau hält Tom Wolfe sich eigentlich versteckt?, fragt man sich lange. Bis einem klar wird: Auch er träumt, wie alle hier, von einer Begegnung in der VIP Lounge, von einem muskulösen Körper, vom Sex mit schönen Frauen, vom fließenden Französisch und vom Ferrari 403.
JÖRG HÄNTZSCHEL
Sein Art Deco-Haus kann sich
der Professor nur leisten, weil es
in einer schwarzen Gegend steht
Tom Wolfe lästert über die
Menschen, die er beschreibt, aber
er hat die gleichen Träume wie sie
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geht um
Seit 40 Jahren kämpft Tom Wolfe gegen die Literatur
„Messh . . . cinngh . . . neetz . . . guhn arrrgh . . . muhfughh . . . nooonmp . . . Shit . . . boggghh . . . frimp . . . ssslooosh“ – der Vorleser der Hörbuchversion von Tom Wolfes neuem Roman „Back to Blood“ ( Little, Brown and Company, New York 2012 ), der an diesem Dienstag erscheint, ist nicht zu beneiden. Es gibt kaum einen Satz in diesem 720-Seiten-Buch, der nicht von derlei onomatopoetischer Akrobatik – „ROAR“, „WHOOP WHOOP! WOO-WOOOO!“ – unterbrochen wird. Anderes war von Wolfe nicht zu erwarten. Diese Sprachmanierismen gehören ebenso zu seiner brand wie seine ironischen Gesellschaftspanoramen in Breitwand und 3-D, die er von New York („The Bonfire of the Vanities“) und Atlanta („A Man in Full“) gezeichnet hat. Nun erfährt nach einem kleinen Umweg über einen Collegecampus („I Am Charlotte Simmons“) die nächste Metropole die Wolfesche Behandlung: Miami.
Warum Miami? Das illustriert Wolfe anhand eines emblematischen Vorspiels: Wir sind vor dem Restaurant Balzac’s, wo Edward T. Topping IV., der neue Herausgeber des Miami Herald und ein WASP wie er im Buche steht, und seine Frau seit längerem im Hybridwinzling „Green Elf“ auf dem Parkplatz herumkurven. Doch als sie endlich eine Lücke entdecken, prescht rückwärts ein Ferrari 403 hinein – darin eine superelegante Kubanerin, die seelenruhig ihre Kroko-Heels aus dem Wagen hebt. Was fällt ihnen ein?, kreischt die weiße Frau des Herausgebers. „You een Mee-ah-mee now!“, antwortet die reiche Latina nur. Unsere Religionskriege, summiert der durchaus liberal gesonnene Herausgeber die Episode auf dem Weg ins Restaurant, sind nur das Mäntelchen, unter dem wir den wahren, uralten Konflikt verbergen, den der Rassen. „Back to blood!“
Und wo ließe sich dieser wahre oder vermeintliche Rassenkrieg besser beobachten als in Miami, dessen Bewohner zu 50 Prozent Einwanderer erster Generation sind, und in dem mit 70 Prozent Latinos, 20 Prozent Schwarzen und nur zehn Prozent Weißen die demografischen Verhältnisse der USA auf dem Kopf stehen?
Nestor und Magdalena sind zwei Vertreter dieser Latino-Mehrheit, auch wenn ihnen das bislang nicht viel gebracht hat. Er ist Polizist im Marine Patrole Unit, sie Sprechstundenhilfe. Doch nicht das Leben im Latino-Ghetto Hialeah, wo sich in mickrigen Hütten die Generationen stapeln, interessiert Wolfe, sondern die Flucht weg von dort – und nach oben. Magdalena hat es, weil sie dumm, aber schön ist, relativ leicht. Erst betrügt sie Nestor mit ihrem Chef, einem Promi-Psychiater, Scharlatan und Hochstapler, der sich auf das Wachstumsfeld „Porno-Sucht“ spezialisiert hat. Von dort aus ist es dann nicht mehr weit in die VIP-Lounge der Art Basel Miami Beach, wo ihr ein russischer Oligarch erfolgreich zuzwinkert.
Nestor hingegen wird als unfreiwilliger Held einer Serie spektakulärer Polizeieinsätze zwischen den Fronten zerrieben. Für die halsbrecherische Festnahme eines kubanischen Flüchtlings, mit der er Punkte bei seinem rassistischen weißen Chef sammelt, wird er von seiner Familie und der halben Stadt verstoßen. Das YouTube-Video, das ihn zeigt als er einen Crackdealer überwältigt, befeuert den Hass der Schwarzen auf die Kubaner. Und weil er und seine Muskeln ständig in den Zeitungen auftauchen, hat irgendwann auch der Bürgermeister genug vom „one-man race riot“.
Und dann ist da noch der aus Haiti stammende Professor Lantier, der seinen Job als Dozent für französische Literatur nur bekommen hat, weil niemand sonst Kreolisch konnte, was er – „diversity!“ – nebenbei leider unterrichten muss. Professor Lanier ist ein kleines bisschen dunkler als die Weißen, aber er fühlt sich „im Wesen europäisch“. Um seine Kultiviertheit auszudrücken, musste er unbedingt ein Art-Déco-Haus haben, konnte es sich aber nur leisten, weil es in einer schwarzen Gegend stand. Nun zahlt er dafür in anderer Währung: sein Sohn rutscht in den lokalen Gang-Untergrund ab.
Ein grandioser Stoff ist das, dieses kollektive Treten und Strampeln um Status, diese Gesellschaft aus lauter Kleinen, die alle Große sein wollen. Was hätte Don DeLillo daraus gemacht, oder Robert Altman! Doch leider heißt der Autor Tom Wolfe.
1989, zwei Jahre nach seinem triumphalen Erfolg mit „The Bonfire of the Vanities“ schrieb Wolfe in Harper’s Magazine sein poetologisches Manifest „Stalking the Billion-Footed Beast“. Die amerikanische Literatur, so behauptete er, habe sich zugunsten binnenliterarischer Form-Spielchen von der Welt abgewandt. Balzac, Zola, Steinbeck: DAS sei Literatur. Geht auf die Straße und macht die Augen auf!, rief er den Kollegen zu, statt Borges, Beckett oder Calvino nachzueifern. Die ersten Nachrichten von seinem Miami-Roman machten denn auch die Runde, als Tom Wolfe dort auf Recherche gesichtet wurde.
Dass er für seine Polemik damals zurecht verhöhnt wurde, deutete sich schon in seinen letzten beiden Romanen an. Doch „Back to Blood“ stellt einen neuerlichen Tiefpunkt dar. Denn was auch immer Wolfe meinte mit dem „hochdetaillierten Realismus“, den er zum Ideal erhebt, als Formel zur literarischen Darstellung der Wirklichkeit genügt er nicht. Obwohl er der Beschreibung von Nestors auftrainiertem Körper ganze Seiten widmet und dabei kaum einen Muskel auslässt – „traps, delts, lats, pecs, biceps, triceps, obliques, abs, glutes, quads – dense! “, bleibt der junge Polizist wie alle anderen bloße Type. Zwar wendet sich Wolfe seinen Personen reihum zu, und lässt uns ihren in freier indirekter Rede wiedergegebenen Gedanken lauschen. Doch was da zu hören ist, ist immer nur Tom Wolfe selbst.
Das hat mit den Grenzen seines erzählerischen Könnens zu tun, doch zu allererst liegt es daran, dass er sich nicht zwischen „hochdetailliertem Realismus“ und Satire entscheiden kann, zwei literarischen Modi, die sich gegenseitig ausschließen. Der Porno-Doktor, der glucksend mit seiner Assistentin bumst, während im Nebenzimmer das Fernsehteam seine Kameras aufbaut? Sehr witzig, aber bald auch sehr langweilig. Der fette Milliardär, der auf der Kunstmesse von Stand zu Stand stürmt und innerhalb von Minuten Millionen ausgibt, ohne auch nur den leisesten Schimmer zu haben. Ja, auch er ist treffend beobachtet – und dann derart zur Karikatur verzerrt, dass er den Leser bald kalt lässt.
Und hier liegt das nächste Problem: Im Irrglauben, die Wirklichkeit erscheine auf Papier desto wirklicher, je mehr Intensität ihr zugeschrieben werde, kennt Wolfe nichts anderes als die Übersteuerung. Ein paar Polizeiautos im Fernsehen sind dann gleich „epileptische Sequenzen von roten und blauen und gleißenden weißen Lichtern – sie tun weh, die weißen Lichter!“, Nestors Brust ist ein „Gibraltar aus Muskeln“, und die Käufer auf der Art Basel sind ein „Haufen sich krümmender Maden“. Je lauter Wolfe aufdreht, je aufgedonnerter und bombastischer er schreibt, desto schneller blättert man weiter.
Wer so gnadenlos auf sein Personal herabsieht, der muss sich selbst an seinen Kriterien messen lassen, auch noch mit 82 Jahren. Und hier macht Wolfe, der sich seiner minutiösen Recherchen so rühmt, nicht immer eine gute Figur. Das Verb „to iPhone“, das er gelegentlich fallen lässt, um zu demonstrieren, dass er sich in der Gegenwart auskennt, existiert nicht. Niemand würde einen Kunstsammler als „playa“ bezeichnen. Und dass die Mode der vom Hintern rutschenden baggy pants zwar aus dem Knast stammt, aber längst in der weißen Mittelklasse angekommen ist, scheint Wolfe auch entgangen zu sein. Er lässt es sich auf der Zunge zergehen, dass Nestor nicht weiß wer „dieser Typ namens Balzac“ ist, doch nur wenige Zeilen später vertut er sich – „Les Artes Decoratifs“ - zum wiederholten Mal selbst mit dem Französischen.
Wolfe mokiert sich flächendeckend über die Welt von heute; entdeckt Falschheit, Geschmacklosigkeit und verlotternde Sitten, wohin er auch sieht. Doch wenn das alles so scheußlich ist, warum investiert er dann Dutzende von Seiten, um all die schönen, nackten, sexwütigen und betrunkenen Frauen bei der orgiastischen Columbus Day Regatta zu beschreiben? Wo genau hält Tom Wolfe sich eigentlich versteckt?, fragt man sich lange. Bis einem klar wird: Auch er träumt, wie alle hier, von einer Begegnung in der VIP Lounge, von einem muskulösen Körper, vom Sex mit schönen Frauen, vom fließenden Französisch und vom Ferrari 403.
JÖRG HÄNTZSCHEL
Sein Art Deco-Haus kann sich
der Professor nur leisten, weil es
in einer schwarzen Gegend steht
Tom Wolfe lästert über die
Menschen, die er beschreibt, aber
er hat die gleichen Träume wie sie
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.2013Im Reich des weißen Mannes
Rassismus, Frauen, Vorurteile: Zu Besuch bei Tom Wolfe, dessen phantastischer Angeberroman "Back to Blood" jetzt erscheint
Wer trägt schon heute noch Krawatten?", fragt der Mann mit dem dünnen grauen Haar auf dem vanillefarbenen Sofa im Salon seines Apartments in New York. Tom Wolfe trägt eine weiße Krawatte, ein marineblaues Hemd, weiße Schuhe mit schwarzen Gamaschen, Strümpfe in den amerikanischen Nationalfarben. Und seinen weißen Anzug. "Als ich vor einer Weile in einem Stripclub in Miami war, war ich, als es spät geworden war, der einzige Mann, der eine Krawatte trug", erzählt er jetzt, fragt, ob ich mir das bitte schön vorstellen könne, und fügt hinzu: "Ich gehöre übrigens nicht zu den Leuten, die jetzt sagen, sie waren aus Recherchegründen in diesem Stripclub. Nein, ich war einfach so da und also der einzige Gast mit Krawatte, als mich ein Mitarbeiter fragte: ,Sagen Sie mal: Sind Sie nicht Tom Wolfe?'" Und als ich lachen muss und vorsichtig anmerke, dass er aber womöglich nicht an seiner Krawatte, sondern an seinem weißen Anzug erkannt worden sei, winkt Tom Wolfe mit seinen mageren roten Händen ab. Nein, nein, das war ganz bestimmt die Krawatte, und diese Geschichte ist ein weiterer Beleg dafür, dass Männer heute einfach nicht mehr wissen, was es heißt, anständig angezogen zu sein. Außer ihm, Tom Wolfe, dem Mann in Weiß.
Upper East Side, Manhattan. 14. Stock eines Apartmenthauses direkt am Central Park. Ein Interviewtermin bei Tom Wolfe zu Hause ist wie ein Theaterstück aus einer anderen Epoche. Schon der voluminöse, kahlköpfige Doorman unten in der Lobby hat viel Zeit. Meldet den Besucher telefonisch an, bittet Platz zu nehmen in einem der tiefen Sessel. Zehn Minuten später klingelt das Telefon, er redet kurz, sagt dann: Ja, jetzt könne man den Aufzug nehmen. Dunkles Holz, Messingknöpfe, oberstes Stockwerk, die Türen des Aufzugs öffnen sich direkt in der Wohnung, in einem kleinen Flur, in dem jede Menge Spazierstöcke in einem Ständer stehen. Eine Bedienstete wartet schon im Empfangszimmer, Herr Wolfe komme bald. Sie führt den Besucher in den Salon, bittet Platz zu nehmen. Ein phantastischer Raum, durch die großen Fenster strahlt die Sonne herein, man schaut über ganz Manhattan, dicke blumengemusterte Teppiche auf dem Parkett, Bücher auf den Tischen und an den Wänden, gerahmte Titelbilder des "Simplicissimus", ein riesiger violetter Blumenstrauß, ein schwarzer Flügel, darauf ein Porträt des jungen Tom Wolfe, flügelspielend, durch eine große Tür schaut man in sein Arbeitszimmer.
Mein Blut ist aus Virginia
Nach fünfzehn Minuten tritt er auf. Leicht gebeugt, sehr mager, langsam nimmt er auf dem Vanille-Sofa zwischen blauen Kissen mit roter Borte Platz. Er wirkt beinahe zerbrechlich, spricht sehr leise. Vor seinem Platz hat er eine kleine schwarze Uhr aufgestellt. 45 Minuten, hatte er über seinen Verlag ausrichten lassen, habe er Zeit. Tom Wolfe hat einen neuen Roman veröffentlicht, "Back to Blood" heißt er und erscheint in dieser Woche auf Deutsch. Den Titel hat man vorsichtshalber nicht übersetzt. Klingt auf Deutsch wohl einfach zu provokativ. Auf Englisch, so hofft man vielleicht, hat der Titel etwas indirekt Wolken- und Westernhaftes. Aber in diesem Roman geht es zunächst einmal genau darum: Rückbesinnung auf "das Blut", auf die Herkunft, nachdem multikulturelle Experimente gescheitert sind. Schauplatz ist Miami, eine der am schnellsten durch Einwanderung wachsenden Städte der Welt. Ein multiethnisches Experiment mit einem großen Anteil an Exilkubanern, Haitianern, Afroamerikanern und neuerdings auch Russen. "Alle Menschen, überall, haben keine andere Wahl als - zurück zum Blut!"
So endet der Prolog des Romans. Und auf meine Frage, ob das auch seine Meinung sei und ob das für Miami gelte oder die ganze Welt, sagt er: "Es ist mein Eindruck von der ganzen Welt. Die Religionen werden immer unwichtiger. Die Menschen haben nichts mehr, woran sie sich festhalten können, und so wird ihre Herkunft immer wichtiger. Es ist ganz natürlich: Du setzt dein Vertrauen in deine eigenen Leute, dein eigenes Volk. Ich tue das auch." Für ihn heiße das: Virginia. Die Leute dort, ihre Kleidung, ihre Meinungen. Dass er dann als Beispiel für solche Leute ausgerechnet den rassistischen christlichen Fundamentalisten Pat Robertson aus Virginia, mit dem er zusammen aufs College gegangen ist, nennt, der unter anderem die Anschläge vom 11. September als Gottes Strafe für ein sündiges Amerika begrüßt hatte, ist schon ziemlich verrückt. Wolfe fügt hinzu, ja, Robertson sei damals heftig angegriffen worden, und seine Ansichten seien in der Tat etwas abseitig, "aber - hej, der Mann ist aus Virginia. Ich kenne ihn und andere wie ihn, das sind einfach superanständige Leute mit lustigen Ideen. Und über solche Leute kann überhaupt nur der urteilen, der auch aus der Gegend kommt."
Also: Es wird hier noch einiges mehr ein wenig durcheinandergehen an diesem sonnigen Nachmittag in Manhattan. Warum Wolfe ausgerechnet einen christlichen Fundamentalisten als Beleg für mangelnde religiöse Bindung und die daraus resultierende große Bedeutung von Blut und Herkunft in der heutigen Welt zitiert, bleibt etwas rätselhaft. Auch den Hinweis auf die wachsende Bedeutung des Islam, auf Religionskonflikte in aller Welt wischt Wolfe locker beiseite. "Bei all diesen Kriegen geht es auch um eine ,Rückkehr zum Blut'." In der Welt sei das so und in Amerika. "Im großen Schmelztiegel verschmilzt nichts mehr." Und auf meine Frage, ob das nicht eine etwas komische Position sei, hier, mitten im Zentrum des herrlichsten, erfolgreichsten städtischen Schmelztiegels der Welt, sagt Wolfe, New York sei eben eine Ausnahme.
Meine schönsten Feinde
Herzlich willkommen in der Welt von Tom Wolfe! Damit ist er irgendwann einmal berühmt geworden. Rausgehen, hinschauen, mitschreiben, Überraschendes sehen. An den Orten, an denen totaler Konsens herrscht. Geh hin, schreib es gut auf, und die Welt wird sehen, dass alles ganz anders ist. Tom Wolfe hat sich immer die ganz großen Gegner ausgesucht: die moderne Kunst, die moderne Architektur, den "New Yorker", die Salon-Linke, die Linke überhaupt hat er immer wieder angegriffen, die Schriftsteller John Updike, Norman Mailer, John Irving sich mit seiner Spott- und Angriffslust zu Feinden gemacht. Tom Wolfe greift an, wo immer sich ein Gegner findet, der ihm groß genug erscheint. Er hat den sogenannten "New Journalism" miterfunden, war mit Ken Kesey und den Merry Pranksters auf Drogenfahrt durch die Vereinigten Staaten, hat so lange behauptet, dass die Zeit für Romane vorbei sei, bis er selbst mit "Fegefeuer der Eitelkeiten" einen der herrlichsten und erfolgreichsten Romane überhaupt geschrieben hat. Und seitdem seine Romane nicht mehr ganz so überraschend und gut sind, sind immerhin die Vorschüsse legendär. Sieben Millionen Dollar hat er für "Back to Blood" bekommen, das weiß alle Welt und soll es wissen. Der Roman ist phantastisch. Er ist phantastisch schlecht und phantastisch gut zugleich. Er liest sich wie die Comic-Version eines Wolfe-Romans, er nimmt einfach alle Themen seiner frühen Bücher auf und übertreibt sie auf das grellste und unterhaltsamste. Und Miami ist der ideale Ort dafür. Wo kann man die Scharlatane der Kunstszene besser beschreiben als auf der "Miami Art Fair"? Die russischen Oligarchen, das Geld, die Armut, die Autos, die Frauen? Die Frauen!
Ob er nicht empörte Zuschriften bekomme, von Leserinnen, frage ich ihn. Die Frauen in seinem neuen Buch hätten doch alle entweder riesige Brüste und endlos lange Beine, oder sie sind blass, unschuldig und heilig? "Von Frauen? Nein, da müsste ich mal meine Post genauer durchsehen." Aber eine Frau im Roman sei doch immerhin sehr vernünftig und klug. Und er legt den Kopf in den Nacken und lacht, und es ist schon ziemlich lustig, hier diesem sehr mageren weißhaarigen Herrn gegenüberzusitzen, der diesen unglaublich kraftstrotzenden Angeberroman geschrieben hat. Man glaubt ihm auch sofort, dem Reporter Tom Wolfe, dass er all das in Miami selbst erlebt hat. Dass er da, wie er jetzt erzählt, mit Chauffeur und einem befreundetem Anthropologen durch die Slums von Miami fuhr, mit Leuten sprach, dass er dafür extra einen blauen Blazer angezogen hatte, um nicht unpassend gekleidet zu sein. Dass er die Künstler kennt, die Scharlatane, die Ferrarifahrer und die mickrigen Männchen in ihren emissionsfreien grünen Moralautos, die Milliardäre, den pornosüchtigen Psychologen, der selbst eine Praxis gegen Pornosucht betreibt, dass er die Segelregatten besucht hat, bei denen Pornofilme auf die Segel projiziert werden, bevor die große Orgie beginnt.
Unnngggghhhmmmmmmm
Das Buch liest sich, als habe er, beim Beschreiben des Sündenpfuhls der Gegenwart, vor allem große Freude gehabt. Das weist er scharf zurück: "Wer sagt, das Schreiben mache Spaß, der lügt!" Endlos habe er sich auch für dieses Buch wieder am Schreibtisch gequält. Das erste Buch, das er mit Füller geschrieben hat. "Ich hab' eigentlich Schreibmaschinenhände. Aber das Farbband für meine Maschine war nicht mehr zu bekommen."
Tom Wolfe ist altmodisch, konservativ, ja reaktionär, aber auf unglaublich gutgelaunte Weise der Welt zugewandt. Er verurteilt nicht. Er schaut, beschreibt, malt aus und übertreibt. Auch seine berühmten Lautmalereien "unnnggghhhhmmmmm" hat er diesmal so sehr übertrieben, dass der Rezensent des "Times Literary Supplement" schon meinte, man habe als Leser den Eindruck, der Autor sei über der Tastatur eingeschlafen. Auch Auswege aus der weltweiten Zeitungskrise weiß der Reporter Wolfe: "Das Haus verlassen! Mit Leuten reden. Das ist niemals langweilig. Sie glauben gar nicht, wie viele Schreiber nie rausgehen! Dazu kommt, dass die Journalisten heute alle so spezialisiert sind, dass sie sich mit ihrer eigenen Aufgabe unendlich langweilen. Und sie langweilen auch die Leser. Unsere Aufgabe ist aber Unterhaltung! Ich kann gar nicht glauben, dass das immer noch so unterschätzt wird. Unterhaltung heißt, dem Leser ermöglichen, seine Zeit angenehm zu verbringen, ohne sich dafür anstrengen zu müssen. Das ist unsere Aufgabe. Das ist unsere Kunst."
Nach anderthalb Stunden kommt schließlich die Hausangestellte, sagt, jetzt sei aber Schluss, und: "Herr Wolfe, Sie haben doch jetzt noch einen Termin." Er schnellt aus dem Sofa empor, ich bitte ihn um eine Unterschrift im Buch. Wir gehen hinüber in sein Arbeitszimmer, die Schirme der Schreibtischlampen rechts und links sind weiße Virginia-Hüte, über dem Tisch hängt ein großes Plakat mit Mann im blauen Blazer. Darunter steht auf deutsch: "PKZ tragen, ein Wohlbehagen." Daneben Dandy-Plakate, Tom-Wolfe-Plakate. Wir sprechen über die Zeichnungen, die er selbst gemacht hat. Er blättert ein Buch durch, zeigt auf eine Feuertreppe, die ihm besonders gut gelungen sei. Und fügt hinzu: "Am schwierigsten sind Hände. Inzwischen kann ich es sehr gut. Picasso und Matisse zum Beispiel konnten überhaupt keine Hände malen. Achten Sie mal darauf."
Er, Tom Wolfe, habe es sich selbst beigebracht. Sei immer wieder zwischen Spiegel und Zeichenblock hin- und hergelaufen, bis er es konnte. Perfekt. Und mit großem Schwung und schwarzem Filzstift schreibt er seinen Namen vorne in das Buch.
VOLKER WEIDERMANN
Tom Wolfe: "Back to Blood". Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Blessing-Verlag, 780 Seiten, 24,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rassismus, Frauen, Vorurteile: Zu Besuch bei Tom Wolfe, dessen phantastischer Angeberroman "Back to Blood" jetzt erscheint
Wer trägt schon heute noch Krawatten?", fragt der Mann mit dem dünnen grauen Haar auf dem vanillefarbenen Sofa im Salon seines Apartments in New York. Tom Wolfe trägt eine weiße Krawatte, ein marineblaues Hemd, weiße Schuhe mit schwarzen Gamaschen, Strümpfe in den amerikanischen Nationalfarben. Und seinen weißen Anzug. "Als ich vor einer Weile in einem Stripclub in Miami war, war ich, als es spät geworden war, der einzige Mann, der eine Krawatte trug", erzählt er jetzt, fragt, ob ich mir das bitte schön vorstellen könne, und fügt hinzu: "Ich gehöre übrigens nicht zu den Leuten, die jetzt sagen, sie waren aus Recherchegründen in diesem Stripclub. Nein, ich war einfach so da und also der einzige Gast mit Krawatte, als mich ein Mitarbeiter fragte: ,Sagen Sie mal: Sind Sie nicht Tom Wolfe?'" Und als ich lachen muss und vorsichtig anmerke, dass er aber womöglich nicht an seiner Krawatte, sondern an seinem weißen Anzug erkannt worden sei, winkt Tom Wolfe mit seinen mageren roten Händen ab. Nein, nein, das war ganz bestimmt die Krawatte, und diese Geschichte ist ein weiterer Beleg dafür, dass Männer heute einfach nicht mehr wissen, was es heißt, anständig angezogen zu sein. Außer ihm, Tom Wolfe, dem Mann in Weiß.
Upper East Side, Manhattan. 14. Stock eines Apartmenthauses direkt am Central Park. Ein Interviewtermin bei Tom Wolfe zu Hause ist wie ein Theaterstück aus einer anderen Epoche. Schon der voluminöse, kahlköpfige Doorman unten in der Lobby hat viel Zeit. Meldet den Besucher telefonisch an, bittet Platz zu nehmen in einem der tiefen Sessel. Zehn Minuten später klingelt das Telefon, er redet kurz, sagt dann: Ja, jetzt könne man den Aufzug nehmen. Dunkles Holz, Messingknöpfe, oberstes Stockwerk, die Türen des Aufzugs öffnen sich direkt in der Wohnung, in einem kleinen Flur, in dem jede Menge Spazierstöcke in einem Ständer stehen. Eine Bedienstete wartet schon im Empfangszimmer, Herr Wolfe komme bald. Sie führt den Besucher in den Salon, bittet Platz zu nehmen. Ein phantastischer Raum, durch die großen Fenster strahlt die Sonne herein, man schaut über ganz Manhattan, dicke blumengemusterte Teppiche auf dem Parkett, Bücher auf den Tischen und an den Wänden, gerahmte Titelbilder des "Simplicissimus", ein riesiger violetter Blumenstrauß, ein schwarzer Flügel, darauf ein Porträt des jungen Tom Wolfe, flügelspielend, durch eine große Tür schaut man in sein Arbeitszimmer.
Mein Blut ist aus Virginia
Nach fünfzehn Minuten tritt er auf. Leicht gebeugt, sehr mager, langsam nimmt er auf dem Vanille-Sofa zwischen blauen Kissen mit roter Borte Platz. Er wirkt beinahe zerbrechlich, spricht sehr leise. Vor seinem Platz hat er eine kleine schwarze Uhr aufgestellt. 45 Minuten, hatte er über seinen Verlag ausrichten lassen, habe er Zeit. Tom Wolfe hat einen neuen Roman veröffentlicht, "Back to Blood" heißt er und erscheint in dieser Woche auf Deutsch. Den Titel hat man vorsichtshalber nicht übersetzt. Klingt auf Deutsch wohl einfach zu provokativ. Auf Englisch, so hofft man vielleicht, hat der Titel etwas indirekt Wolken- und Westernhaftes. Aber in diesem Roman geht es zunächst einmal genau darum: Rückbesinnung auf "das Blut", auf die Herkunft, nachdem multikulturelle Experimente gescheitert sind. Schauplatz ist Miami, eine der am schnellsten durch Einwanderung wachsenden Städte der Welt. Ein multiethnisches Experiment mit einem großen Anteil an Exilkubanern, Haitianern, Afroamerikanern und neuerdings auch Russen. "Alle Menschen, überall, haben keine andere Wahl als - zurück zum Blut!"
So endet der Prolog des Romans. Und auf meine Frage, ob das auch seine Meinung sei und ob das für Miami gelte oder die ganze Welt, sagt er: "Es ist mein Eindruck von der ganzen Welt. Die Religionen werden immer unwichtiger. Die Menschen haben nichts mehr, woran sie sich festhalten können, und so wird ihre Herkunft immer wichtiger. Es ist ganz natürlich: Du setzt dein Vertrauen in deine eigenen Leute, dein eigenes Volk. Ich tue das auch." Für ihn heiße das: Virginia. Die Leute dort, ihre Kleidung, ihre Meinungen. Dass er dann als Beispiel für solche Leute ausgerechnet den rassistischen christlichen Fundamentalisten Pat Robertson aus Virginia, mit dem er zusammen aufs College gegangen ist, nennt, der unter anderem die Anschläge vom 11. September als Gottes Strafe für ein sündiges Amerika begrüßt hatte, ist schon ziemlich verrückt. Wolfe fügt hinzu, ja, Robertson sei damals heftig angegriffen worden, und seine Ansichten seien in der Tat etwas abseitig, "aber - hej, der Mann ist aus Virginia. Ich kenne ihn und andere wie ihn, das sind einfach superanständige Leute mit lustigen Ideen. Und über solche Leute kann überhaupt nur der urteilen, der auch aus der Gegend kommt."
Also: Es wird hier noch einiges mehr ein wenig durcheinandergehen an diesem sonnigen Nachmittag in Manhattan. Warum Wolfe ausgerechnet einen christlichen Fundamentalisten als Beleg für mangelnde religiöse Bindung und die daraus resultierende große Bedeutung von Blut und Herkunft in der heutigen Welt zitiert, bleibt etwas rätselhaft. Auch den Hinweis auf die wachsende Bedeutung des Islam, auf Religionskonflikte in aller Welt wischt Wolfe locker beiseite. "Bei all diesen Kriegen geht es auch um eine ,Rückkehr zum Blut'." In der Welt sei das so und in Amerika. "Im großen Schmelztiegel verschmilzt nichts mehr." Und auf meine Frage, ob das nicht eine etwas komische Position sei, hier, mitten im Zentrum des herrlichsten, erfolgreichsten städtischen Schmelztiegels der Welt, sagt Wolfe, New York sei eben eine Ausnahme.
Meine schönsten Feinde
Herzlich willkommen in der Welt von Tom Wolfe! Damit ist er irgendwann einmal berühmt geworden. Rausgehen, hinschauen, mitschreiben, Überraschendes sehen. An den Orten, an denen totaler Konsens herrscht. Geh hin, schreib es gut auf, und die Welt wird sehen, dass alles ganz anders ist. Tom Wolfe hat sich immer die ganz großen Gegner ausgesucht: die moderne Kunst, die moderne Architektur, den "New Yorker", die Salon-Linke, die Linke überhaupt hat er immer wieder angegriffen, die Schriftsteller John Updike, Norman Mailer, John Irving sich mit seiner Spott- und Angriffslust zu Feinden gemacht. Tom Wolfe greift an, wo immer sich ein Gegner findet, der ihm groß genug erscheint. Er hat den sogenannten "New Journalism" miterfunden, war mit Ken Kesey und den Merry Pranksters auf Drogenfahrt durch die Vereinigten Staaten, hat so lange behauptet, dass die Zeit für Romane vorbei sei, bis er selbst mit "Fegefeuer der Eitelkeiten" einen der herrlichsten und erfolgreichsten Romane überhaupt geschrieben hat. Und seitdem seine Romane nicht mehr ganz so überraschend und gut sind, sind immerhin die Vorschüsse legendär. Sieben Millionen Dollar hat er für "Back to Blood" bekommen, das weiß alle Welt und soll es wissen. Der Roman ist phantastisch. Er ist phantastisch schlecht und phantastisch gut zugleich. Er liest sich wie die Comic-Version eines Wolfe-Romans, er nimmt einfach alle Themen seiner frühen Bücher auf und übertreibt sie auf das grellste und unterhaltsamste. Und Miami ist der ideale Ort dafür. Wo kann man die Scharlatane der Kunstszene besser beschreiben als auf der "Miami Art Fair"? Die russischen Oligarchen, das Geld, die Armut, die Autos, die Frauen? Die Frauen!
Ob er nicht empörte Zuschriften bekomme, von Leserinnen, frage ich ihn. Die Frauen in seinem neuen Buch hätten doch alle entweder riesige Brüste und endlos lange Beine, oder sie sind blass, unschuldig und heilig? "Von Frauen? Nein, da müsste ich mal meine Post genauer durchsehen." Aber eine Frau im Roman sei doch immerhin sehr vernünftig und klug. Und er legt den Kopf in den Nacken und lacht, und es ist schon ziemlich lustig, hier diesem sehr mageren weißhaarigen Herrn gegenüberzusitzen, der diesen unglaublich kraftstrotzenden Angeberroman geschrieben hat. Man glaubt ihm auch sofort, dem Reporter Tom Wolfe, dass er all das in Miami selbst erlebt hat. Dass er da, wie er jetzt erzählt, mit Chauffeur und einem befreundetem Anthropologen durch die Slums von Miami fuhr, mit Leuten sprach, dass er dafür extra einen blauen Blazer angezogen hatte, um nicht unpassend gekleidet zu sein. Dass er die Künstler kennt, die Scharlatane, die Ferrarifahrer und die mickrigen Männchen in ihren emissionsfreien grünen Moralautos, die Milliardäre, den pornosüchtigen Psychologen, der selbst eine Praxis gegen Pornosucht betreibt, dass er die Segelregatten besucht hat, bei denen Pornofilme auf die Segel projiziert werden, bevor die große Orgie beginnt.
Unnngggghhhmmmmmmm
Das Buch liest sich, als habe er, beim Beschreiben des Sündenpfuhls der Gegenwart, vor allem große Freude gehabt. Das weist er scharf zurück: "Wer sagt, das Schreiben mache Spaß, der lügt!" Endlos habe er sich auch für dieses Buch wieder am Schreibtisch gequält. Das erste Buch, das er mit Füller geschrieben hat. "Ich hab' eigentlich Schreibmaschinenhände. Aber das Farbband für meine Maschine war nicht mehr zu bekommen."
Tom Wolfe ist altmodisch, konservativ, ja reaktionär, aber auf unglaublich gutgelaunte Weise der Welt zugewandt. Er verurteilt nicht. Er schaut, beschreibt, malt aus und übertreibt. Auch seine berühmten Lautmalereien "unnnggghhhhmmmmm" hat er diesmal so sehr übertrieben, dass der Rezensent des "Times Literary Supplement" schon meinte, man habe als Leser den Eindruck, der Autor sei über der Tastatur eingeschlafen. Auch Auswege aus der weltweiten Zeitungskrise weiß der Reporter Wolfe: "Das Haus verlassen! Mit Leuten reden. Das ist niemals langweilig. Sie glauben gar nicht, wie viele Schreiber nie rausgehen! Dazu kommt, dass die Journalisten heute alle so spezialisiert sind, dass sie sich mit ihrer eigenen Aufgabe unendlich langweilen. Und sie langweilen auch die Leser. Unsere Aufgabe ist aber Unterhaltung! Ich kann gar nicht glauben, dass das immer noch so unterschätzt wird. Unterhaltung heißt, dem Leser ermöglichen, seine Zeit angenehm zu verbringen, ohne sich dafür anstrengen zu müssen. Das ist unsere Aufgabe. Das ist unsere Kunst."
Nach anderthalb Stunden kommt schließlich die Hausangestellte, sagt, jetzt sei aber Schluss, und: "Herr Wolfe, Sie haben doch jetzt noch einen Termin." Er schnellt aus dem Sofa empor, ich bitte ihn um eine Unterschrift im Buch. Wir gehen hinüber in sein Arbeitszimmer, die Schirme der Schreibtischlampen rechts und links sind weiße Virginia-Hüte, über dem Tisch hängt ein großes Plakat mit Mann im blauen Blazer. Darunter steht auf deutsch: "PKZ tragen, ein Wohlbehagen." Daneben Dandy-Plakate, Tom-Wolfe-Plakate. Wir sprechen über die Zeichnungen, die er selbst gemacht hat. Er blättert ein Buch durch, zeigt auf eine Feuertreppe, die ihm besonders gut gelungen sei. Und fügt hinzu: "Am schwierigsten sind Hände. Inzwischen kann ich es sehr gut. Picasso und Matisse zum Beispiel konnten überhaupt keine Hände malen. Achten Sie mal darauf."
Er, Tom Wolfe, habe es sich selbst beigebracht. Sei immer wieder zwischen Spiegel und Zeichenblock hin- und hergelaufen, bis er es konnte. Perfekt. Und mit großem Schwung und schwarzem Filzstift schreibt er seinen Namen vorne in das Buch.
VOLKER WEIDERMANN
Tom Wolfe: "Back to Blood". Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Blessing-Verlag, 780 Seiten, 24,99 Euro
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