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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2012

Mein Zwilling Wayne

Diesmal muss man auch unter den Zeilen lesen: Felicitas Hoppe hat sich in ihrem neuen Roman, "Hoppe", in den kanadischen Eishockey hineingeschrieben. Ein klarer Fall von Privatforschung

Der Ruhmeshalle des Eishockeys steht ein Umbau bevor. In der zentralen Rotunde des Superiglus im Herzen von Calgary, da, wo die dreimal überlebensgroße Schneestatue von Wayne Gretzky steht, muss eine neue Nische aus dem Eis geschnitzt werden. Es ist schon recht voll in der Umgebung von Wayne dem Großen, den die National Hockey League zum größten Spieler aller Zeiten ausgerufen hat. Ein Held kommt selten allein. Nur im Märchen liest man vom einsamen Ritter. Wenn man genau hinliest, ist auch der Märchenheld nicht allein - die Wasserträger, Zeugwarte und Eisbrecher, ohne die er seine Abenteuer nicht bestehen könnte, haben sich nur getarnt, als sprechender Baum, goldenes Moos und Türhüter in Gestalt eines Ungeheuers.

Im wirklichen Leben ist Heroismus ein Mannschaftssport. Und man kann nicht früh genug mit dem Training beginnen. Deshalb scharen sich um das Standbild des großen Wayne die Denkmäler der Familienmitglieder. Da ist der Vater, Walter Gretzky, der beste Trainer, den Wayne je hatte. Da sind die Geschwister, die ewigen Mitspieler. Und natürlich die Mutter, Phyllis - ihr Attribut des Glimmstengels, eines kunstvoll isolierten Leuchtdiodenstifts, ruft bei Führungen immer wieder "A"- und "O"-Rufe hervor. Und hier wird nun bald auch ein aus dem Eis geschlagenes Ebenbild der deutschen Schriftstellerin Felicitas Hoppe ein pittoreskes Motiv für Postkarten und Handyfotos abgeben.

Hoppe hat soeben ein autobiographisches Buch publiziert, das den Titel "Hoppe" trägt. Mindestens der erste Teil, "Die kanadischen Jahre", könnte ebenso gut "Gretzky" heißen. Wenn man ganz genau hinliest, findet man auch in den anderen Abschnitten, die Hoppes Wander- und Wunderjahre in Australien, Las Vegas und Oregon behandeln, überall den Fußabdruck (Schuhgröße 45), den Schattenwurf und einen ausgespuckten Kaugummi des göttlichen Wayne. Durch die Hoppe-Biographie schimmert auf jeder Seite, selbst auf den leeren, die Gretzky-Biographie hindurch. Hoppes "Hoppe" erweist sich mithin als Palimpsest, wie wir Kritiker zu sagen lieben, denen es nicht genügt, zwischen den Zeilen zu lesen. Nein, wir lesen auch unter den Zeilen!

Das Bild vom Palimpsest ist hier allerdings, wie fast immer im literaturkritischen Gebrauch, falsch. Der Mönch, der Petrons "Satyricon" vom Pergament schabt, um Platz für einen Traktat des heiligen Salamander über die Enthaltsamkeit zu gewinnen, möchte ja gerade nicht, dass ein Subtext stehenbleibt. Es gilt der Kanon von Papa Ratzefummel: Tabula rasa, causa finita! Hoppe dagegen hat Gretzkys Lebensgeschichte eigenhändig ausbuchstabiert, in der Schönschrift des ersten Fans. Alle Nachahmungseffekte und Doppelbelichtungen sind das Werk der Autorin, weswegen für dieses Werk der Autorin ihre Signatur als Titel genügt.

Literaturtheoretische Spiegelfechtereien sind kein Sport nach dem Geschmack der Abonnenten des Gretzky-Fanletters und der Loseblattsammlung des Kritischen Lexikons der Eishockeygeschichte. Ihren Brüdern und Schwestern im Geiste der Gretzky-Verehrung legt Hoppe ein Kapitel in den Schoß, das in aller bisherigen Waynographik fehlt. Auch die Autoren des deutschsprachigen Gretzky-Schrifttums sind schimmerlos, Kurt Scheel ("Der andere Wayne: Coolster Schütze des Westens") ebenso wie Hans Ulrich Gumbrecht ("So sehen Sieger aus: Präsenz vor dem Tor"). Wikipedia (abgerufen am 10. März 2012): nichts.

Beziehungsweise noch nichts. Denn jetzt liegt "Hoppe" in den Buchhandlungen, und heute muss ein solches Buch ja nicht mehr im Flugzeug nach Toronto gebracht werden, damit es den Horizont der Gretzky-Gemeinde erweitern kann. Hoppe dagegen legt Wert auf die Feststellung (wie wir in der Zeitung schreiben, wenn jemand eine Mitteilung in eigener Sache in die Welt setzen möchte, die ganz und gar unwahrscheinlich klingt), dass sie als junges Mädchen mit dem Schiff nach Kanada gereist ist und nicht etwa im Kopf. Denn den Bericht von einer Atlantiküberquerung durch pure Geistesstärke hätten die geborenen Kritiker unter uns schon auf dem Schulhof mit einem abgebrühten Spruch pariert: Kann jeder sagen!

Was Hoppe über die Jahre zu sagen hat, die sie als Ziehkind der Familie Gretzky in Brantford, Ontario, verbrachte, kann nur sie sagen. Nicht einmal Wayne könnte da mitreden, der als späterer Star schon in seiner Jugend sowieso nicht alles merkte, was um ihn herum vorging. Und der wachsame Walter Gretzky war natürlich nicht dabei, als seine Frau Felicitas zum Rauchen verführte. Wenn sich Felicitas aber jahrelang als "Zwilling" des Wunderknaben Wayne fühlen durfte, wenn sie, wie Waynes Schwester Kim berichtet, immer die Erste beim Training war und die Letzte, die ging, wenn Wayne höchstselbst ihr wegen ihrer Schnelligkeit den Ehrennamen Fly verlieh, der die Inschrift ihrer Statue in der Ruhmeshalle zieren wird - warum ist sie dann als Schriftstellerin berühmt geworden und nicht als Goalie? Dass noch kein Verein der National Hockey League einen Profivertrag mit einer Frau abgeschlossen hat, wird nur Gedankenspielverderbern als Erklärung genügen.

Wenn man liest, was Bamie Boots über Hoppe zu Protokoll gibt, der Trainer, in dessen Obhut Walter Gretzky sie gab, dann zeichnet sich das Profil eines unbezahlbaren Maskottchens ab, eines märchenhaften Glücksbringers. "Ehrlich gesagt habe ich nie eine Spielerin gesehen, die sich mehr über Siege freute, keine, die gieriger auf Triumphe aus war, immer darauf aus, ihren privaten Jubel unter die Leute zu bringen. Klein und großmannssüchtig zugleich. Wenn sie gewann, war sie wirklich unschlagbar. Und wenn sie nicht gewann, war sie es auch. Ein Trick, den ich nie ganz begriffen habe. Wir verloren ja damals andauernd, aber wenn Felicitas neben mir saß, und damals war sie nicht älter als zehn, hatte ich trotzdem das Gefühl, wir hätten jetzt irgendwas gewonnen. Keine Ahnung, was."

Kündigte sich in der Neigung und Fähigkeit zum Hochjubeln von Niederlagen am Ende vielleicht doch schon die Dichterin an? Dann wäre Karl Hoppe, die Zwielichtgestalt im Personal des Buches, als Entdeckervater zu rühmen. Als "Entführervater" und "Erfindervater" firmiert er im Bericht der Tochter schon. Er soll dafür verantwortlich sein, dass Hoppe die Kindheit in Hameln, von der auf allen bisherigen Klappentexten die Rede war, nicht verleben durfte, sondern sich ausdenken musste, inklusive ihrer vier Geschwister. Hoppe trägt schwer am väterlichen Erbe. Karl Hoppe schneiderte ihr den Rucksack, den sie bei keinem Training und keinem Spiel ablegte und später bei der Aufnahmeprüfung der Dirigierklasse des Konservatoriums von Adelaide auch nicht - darum hob die "Fliege" nicht ab in die große Karriere.

Was hätten unsportlichere Töchter aus dieser Geschichte gemacht! Hoppe könnte mit der Vaterstory jetzt neben Walter Kohl bei "Beckmann" sitzen, hätte sich dem Ministerium von Kristina Schröder als Patin einer Aktion für Tochterrechte andienen können oder dem Frauen-Medien-Turm in Köln als Beobachtungsgegenstand eines kostenintensiven Langzeitforschungsprojekts zum Überleben im Patriarchat. Aber Hoppe ist nun einmal, wie es Kim Gretzky mit dem Talent ihrer Familie für den Aphorismus formuliert hat, "ins Fallen verliebt", und nicht wie Siegfried Unseld, der Übervater der älteren neuen deutschen Literatur, ins Gelingen.

Dem Rucksackmacher Karl Hoppe gebührt also der Dank der deutschen Lesenation - in der Marbacher Ausstellung zum Thema Vaterschaften, die bestimmt schon längst in Vorbereitung ist, müssen seine Schnittmusterbögen gezeigt werden. Und ist er, geht uns Türhütern der Unseld-Kultur durch den Kopf, nicht ohnehin einer von uns? So fragen wir in einer Stimmung, die gemischt ist aus Unbehagen und Behagen oder, wie es an mehreren Stellen von "Hoppe" heißt, aus Faszination und Schrecken.

Das Buch kommt als schlichter Bericht nach Art des Reiseberichts des Marco Polo daher. Brantford, Adelaide und Las Vegas waren Terra incognita der Hoppeforschung; die Tatsachen sprechen für sich und rufen nicht nach Ausdeutung. Doch wenn man übergenau hinliest, treten allegorische Spurenelemente hervor. Der Erfindervater ist im Brotberuf Patentprüfer. Deshalb zieht es ihn nach Kanada; er bekommt eine Stelle bei der Telefonfirma, die ihre Gründung auf Alexander Graham Bell zurückführt. Seinem eigenen Erfindungstrieb bleibt die Freizeit vorbehalten. Wenn ihm nichts einfällt, bedient er sich bei seinen Kollegen und sogar bei seiner Tochter, der Erfinderin des leuchtenden Pucks und des leuchtenden Taktstocks.

Karl Hoppe ist ein Doppelgänger des Kritikers, der die Begutachtung literarischer Erfindungen zum Beruf macht und sich insgeheim berufen glaubt, mit den Dichtern in Konkurrenz zu treten. Felicitas Hoppe hat sich gelegentlich kritisch über zwei komplementäre Tendenzen der heutigen Literaturproduktion geäußert: Schriftsteller bauen auf Recherche und versprechen Sachhaltigkeit, Wissenschaftler und Kritiker wollen erzählen. Die semifiktionale Biographie, den gängigsten Typ des Erfolgsbuchs, gibt es sowohl in der literarischen als auch in der gelehrten Variante.

"Hoppe" ist montiert aus Reminiszenzen, Zeugnissen und Manuskriptfragmenten aus der riesengroßen Schublade des unveröffentlichten Hoppewerks. Darunter ist ein "Buch K" mit Aufzeichnungen über den Vater. Man kann "Hoppe" als Buch F klassifizieren, verfasst im Stil von K: Hoppes Leben wird in literaturkritischer Manier dargestellt, das heißt übergenau und nachlässig, im Duktus jener Privatforschung, die immer noch ins Buch strebt, sich aber notfalls mit dem Netz begnügt. Im Text firmiert der Autor mit den Initialen fh. Die Kleinschreibung zeigt an: klein und großmannssüchtig zugleich. Hoppe selbst ist es also, die hier im väterlichen Stil schreibt. Sie hat sich für den Diebstahl des Leuchtpucks revanchiert.

Für Kritiker und alle anderen Amateure hält Hoppe den Trost parat, dass auch das Nacherzählen ein Erzählen ist. "Chase that!", soll Wayne gerufen haben, wenn er Felicitas den Puck zuschob. Auch als Leser kann man das blitzschnelle Reagieren lernen - das Hinlesen. Wer Hoppe liest, wird fabulieren.

PATRICK BAHNERS

Felicitas Hoppe: "Hoppe". S. Fischer, 336 Seiten, 19,99 Euro

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