"Meisterhaft inszeniert sind diese Balanceakte, zu schade für einen schnellen Leser, der über die Details nur hinwegfliegt." Die Zeit
"Alles an ihr hatte zwei Seiten, eine für zu Hause und eine für alles, was nicht ihr Zuhause war: ihr Gang, der kindlich und hüpfend sein konnte, aber auch schlendernd, so dass man denken konnte, sie lausche einer Musik, die in ihrem Kopf spielte; ihr Mund, der meistens blass war und grinste, aber rosa leuchtete an den Abenden, an denen sie ausging; ihr Lachen, das zu Hause zynisch und gedehnt war, aber nervös und leicht schrill anderswo, ähnlich dem Klimpern der Anhänger an ihrem Armband."
Wie die 15-jährige Connie stehen alle Figuren, die Joyce Carol Oates in den zehn Erzählungen des Bandes Bad Girls entwirft, mit einem Fuß in der Kindheit und dem anderen im Erwachsensein. Überwältigt von ihren Gefühlen, voller Lebenshunger und Hoffnung, voller Angst und Wut kämpfen sie rastlos mit Fantasien, die abgründiger und verwirrender nicht sein können.
"Alles an ihr hatte zwei Seiten, eine für zu Hause und eine für alles, was nicht ihr Zuhause war: ihr Gang, der kindlich und hüpfend sein konnte, aber auch schlendernd, so dass man denken konnte, sie lausche einer Musik, die in ihrem Kopf spielte; ihr Mund, der meistens blass war und grinste, aber rosa leuchtete an den Abenden, an denen sie ausging; ihr Lachen, das zu Hause zynisch und gedehnt war, aber nervös und leicht schrill anderswo, ähnlich dem Klimpern der Anhänger an ihrem Armband."
Wie die 15-jährige Connie stehen alle Figuren, die Joyce Carol Oates in den zehn Erzählungen des Bandes Bad Girls entwirft, mit einem Fuß in der Kindheit und dem anderen im Erwachsensein. Überwältigt von ihren Gefühlen, voller Lebenshunger und Hoffnung, voller Angst und Wut kämpfen sie rastlos mit Fantasien, die abgründiger und verwirrender nicht sein können.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004Dein Ort ist nicht mehr da
Glück und Abgrund der Jugend: "Bad Girls" von Joyce Carol Oates
Die Pubertät ist wohl nach wie vor für jeden, der sie durchmacht, ein wahrhaft philosophischer Zeitabschnitt. Nur in diesem Zwischenreich, in dem die Kindheit schon zu Ende ist und das Erwachsenwerden noch nicht begonnen hat, stellen sich alle großen Fragen auf einmal, und als einzige Gewißheit bleibt der Zweifel. Daher kann man Menschen, die gerade diesen eigenwilligen Seinszustand erleben, kaum überfordern - höchstens ihre Geduld, indem man ihre Fragen mit putzig-kindlichen Antworten pariert. Das weiß die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates. Schon in ihrem ersten Jugendbuch, das im vergangenen Sommer erschien, ging es ums Ganze. "Unter Verdacht" - so der Titel - steht darin die amerikanische Gesellschaft mit all ihren fanatischen und paranoiden Zügen. Die zeichnen sich nun auch schon in den Gesichtern jener "Bad Girls" ab, die der soeben neu erschienenen Story-Sammlung der Meistererzählerin ihren Titel geben. Anders als die vielzitierten bösen Mädchen kommen diese hier gerade nicht überallhin - eher im Gegenteil. Und ein naßforsches Mutmachbuch für brave Mädchen ist dies hier auch nicht.
"Der Ort, wo du herkommst, ist nicht mehr da, und der, wo du hinwolltest, ist gestrichen", raunt Arnold Friend, einer der unsympathischen, meist etwas älteren Typen in dieser Sammlung, der hier buchstäblich die Schwelle des Elternhauses verstellt. Drinnen ist keiner mehr - die Eltern und Geschwister sind zum Grillen gefahren -, und der einzige Weg nach draußen führt durch diesen fremden Männerkörper, der einem zeigen will, "was das ist, Liebe, was sie mit dir macht". Und auch wenn den meisten Mädchen in diesen Erzählungen diese Erfahrung zumindest vorläufig noch erspart bleibt, wissen sie längst, was eine solche Art von Liebe mit einem macht: von ihren Schwestern, den Müttern und Großmüttern, den Nachbarinnen und all den anderen schwachen, gescheiterten oder bitter gewordenen Frauen, deren Würde Joyce Carol Oates dadurch bewahrt, daß sie ihr Inneres für sich behalten dürfen. Allenfalls äußern sich die zubetonierten Abgründe in seltsamen Tierquälereien, hysterischen Partnerwechseln oder routiniert inszenierten Gewichtsschwankungen. Überhaupt ziehen einen diese Stories schon deshalb so sehr in ihren Bann, weil sie sich nicht mit der bemühten Beschreibung von Innenwelten begnügen. Vielmehr wird das Außen zum Spiegel einer sich verschiebenden, ins Wanken geratenden Selbstwahrnehmung. Etwa bei einem Besuch der vierzehn Jahre alten Lisanne bei ihrer an Alzheimer erkrankten Großmutter, von der sie lernt, "in entscheidenden Momenten zurückzutreten und mich selbst zu sehen".
Oder auch in der beeindruckenden Erzählung "Shot". Der Ausgangspunkt ist hier ein banaler Wohnortwechsel, doch die damit einhergehende Schlaf- und Orientierungslosigkeit des Mädchens, sein aus Einsamkeit übersensibles Ertasten der neuen Umgebung lassen diese Geschichte zu einem poetischen Wunderwerk der (Selbst-)Wahrnehmung werden. Wenn das Mädchen sich vor einem Geräusch fürchtet, das "scharfzackige Ränder hatte und aus silbrig durchsetzter rostiger Erde bestand", wenn es beschließt, diesem Geräusch "auf den Grund" zu gehen, schließlich einen gequälten Hund entdeckt, dessen Besitzerin noch viel unheimlicher und unverständlicher ist als alle fürchterlichen Geräusche zusammen, dann geht es hier nicht nur um eine düstere Geschichte. In Wahrheit geht es darum, daß das Mädchen "das Geheimnis bis zu seiner Quelle zurückverfolgt hatte, aber hier, an seiner Quelle, war es nur noch größer geworden". Oder wie es Walter Benjamin einmal formulierte: "Je näher man ein Ding anschaut, desto ferner blickt es zurück." So ähnlich geht es einem auch bei der Lektüre dieser Geschichten, deren Zauber und deren Tiefe sich immer weiter entziehen, je mehr man sie zu ergründen sucht. Fast ist es so, als wollte man ihnen zu nahe treten.
Fesselnd sind hier nicht die begehrlichen Mannsbilder, die abgeklärten Mütter oder die schüchtern-neugierigen Mädchen, sondern ganz schlicht die Gefühle. Oder wie es eine der Figuren mit Blick auf die Erwachsenen formuliert: "So - emotional. Auf eine Weise, die mir Angst gemacht hat." Diese Angst und die Düsternis und das Glück der Pubertät - spürbar meist zwischen den Zeilen - machen diese "Bad Girls" so gut.
Macht, Mißbrauch, Sex und Tod - schwer und groß sind die Themen, die Joyce Carol Oates für alle bösen Mädchen und Jungs bereithält. Für Erwachsene, die diesen luziden Zustand noch nicht gänzlich den festgefügten Gewißheiten des Lebens geopfert haben, ist dieser Ausflug ins Jenseits von Gut und Böse ausgesprochen bewegend. Und die Frage, ob diese Geschichten für Jugendliche geeignet sind, stellt sich höchstens, wenn man sie für maulende und lästige Monster hält und hinter der pickligen Fassade die wahren Philosophen übersieht. Allzu brave Mütter jedoch sollten diese abgründigen Storys vielleicht lieber nicht lesen. Sonst entgeht ihren Töchtern etwas.
ANDREA GERK
Joyce Carol Oates: "Bad Girls". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Birgitt Kollmann. Reihe Hanser bei dtv, München 2004. 256 S., br., 8,50 [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Glück und Abgrund der Jugend: "Bad Girls" von Joyce Carol Oates
Die Pubertät ist wohl nach wie vor für jeden, der sie durchmacht, ein wahrhaft philosophischer Zeitabschnitt. Nur in diesem Zwischenreich, in dem die Kindheit schon zu Ende ist und das Erwachsenwerden noch nicht begonnen hat, stellen sich alle großen Fragen auf einmal, und als einzige Gewißheit bleibt der Zweifel. Daher kann man Menschen, die gerade diesen eigenwilligen Seinszustand erleben, kaum überfordern - höchstens ihre Geduld, indem man ihre Fragen mit putzig-kindlichen Antworten pariert. Das weiß die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates. Schon in ihrem ersten Jugendbuch, das im vergangenen Sommer erschien, ging es ums Ganze. "Unter Verdacht" - so der Titel - steht darin die amerikanische Gesellschaft mit all ihren fanatischen und paranoiden Zügen. Die zeichnen sich nun auch schon in den Gesichtern jener "Bad Girls" ab, die der soeben neu erschienenen Story-Sammlung der Meistererzählerin ihren Titel geben. Anders als die vielzitierten bösen Mädchen kommen diese hier gerade nicht überallhin - eher im Gegenteil. Und ein naßforsches Mutmachbuch für brave Mädchen ist dies hier auch nicht.
"Der Ort, wo du herkommst, ist nicht mehr da, und der, wo du hinwolltest, ist gestrichen", raunt Arnold Friend, einer der unsympathischen, meist etwas älteren Typen in dieser Sammlung, der hier buchstäblich die Schwelle des Elternhauses verstellt. Drinnen ist keiner mehr - die Eltern und Geschwister sind zum Grillen gefahren -, und der einzige Weg nach draußen führt durch diesen fremden Männerkörper, der einem zeigen will, "was das ist, Liebe, was sie mit dir macht". Und auch wenn den meisten Mädchen in diesen Erzählungen diese Erfahrung zumindest vorläufig noch erspart bleibt, wissen sie längst, was eine solche Art von Liebe mit einem macht: von ihren Schwestern, den Müttern und Großmüttern, den Nachbarinnen und all den anderen schwachen, gescheiterten oder bitter gewordenen Frauen, deren Würde Joyce Carol Oates dadurch bewahrt, daß sie ihr Inneres für sich behalten dürfen. Allenfalls äußern sich die zubetonierten Abgründe in seltsamen Tierquälereien, hysterischen Partnerwechseln oder routiniert inszenierten Gewichtsschwankungen. Überhaupt ziehen einen diese Stories schon deshalb so sehr in ihren Bann, weil sie sich nicht mit der bemühten Beschreibung von Innenwelten begnügen. Vielmehr wird das Außen zum Spiegel einer sich verschiebenden, ins Wanken geratenden Selbstwahrnehmung. Etwa bei einem Besuch der vierzehn Jahre alten Lisanne bei ihrer an Alzheimer erkrankten Großmutter, von der sie lernt, "in entscheidenden Momenten zurückzutreten und mich selbst zu sehen".
Oder auch in der beeindruckenden Erzählung "Shot". Der Ausgangspunkt ist hier ein banaler Wohnortwechsel, doch die damit einhergehende Schlaf- und Orientierungslosigkeit des Mädchens, sein aus Einsamkeit übersensibles Ertasten der neuen Umgebung lassen diese Geschichte zu einem poetischen Wunderwerk der (Selbst-)Wahrnehmung werden. Wenn das Mädchen sich vor einem Geräusch fürchtet, das "scharfzackige Ränder hatte und aus silbrig durchsetzter rostiger Erde bestand", wenn es beschließt, diesem Geräusch "auf den Grund" zu gehen, schließlich einen gequälten Hund entdeckt, dessen Besitzerin noch viel unheimlicher und unverständlicher ist als alle fürchterlichen Geräusche zusammen, dann geht es hier nicht nur um eine düstere Geschichte. In Wahrheit geht es darum, daß das Mädchen "das Geheimnis bis zu seiner Quelle zurückverfolgt hatte, aber hier, an seiner Quelle, war es nur noch größer geworden". Oder wie es Walter Benjamin einmal formulierte: "Je näher man ein Ding anschaut, desto ferner blickt es zurück." So ähnlich geht es einem auch bei der Lektüre dieser Geschichten, deren Zauber und deren Tiefe sich immer weiter entziehen, je mehr man sie zu ergründen sucht. Fast ist es so, als wollte man ihnen zu nahe treten.
Fesselnd sind hier nicht die begehrlichen Mannsbilder, die abgeklärten Mütter oder die schüchtern-neugierigen Mädchen, sondern ganz schlicht die Gefühle. Oder wie es eine der Figuren mit Blick auf die Erwachsenen formuliert: "So - emotional. Auf eine Weise, die mir Angst gemacht hat." Diese Angst und die Düsternis und das Glück der Pubertät - spürbar meist zwischen den Zeilen - machen diese "Bad Girls" so gut.
Macht, Mißbrauch, Sex und Tod - schwer und groß sind die Themen, die Joyce Carol Oates für alle bösen Mädchen und Jungs bereithält. Für Erwachsene, die diesen luziden Zustand noch nicht gänzlich den festgefügten Gewißheiten des Lebens geopfert haben, ist dieser Ausflug ins Jenseits von Gut und Böse ausgesprochen bewegend. Und die Frage, ob diese Geschichten für Jugendliche geeignet sind, stellt sich höchstens, wenn man sie für maulende und lästige Monster hält und hinter der pickligen Fassade die wahren Philosophen übersieht. Allzu brave Mütter jedoch sollten diese abgründigen Storys vielleicht lieber nicht lesen. Sonst entgeht ihren Töchtern etwas.
ANDREA GERK
Joyce Carol Oates: "Bad Girls". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Birgitt Kollmann. Reihe Hanser bei dtv, München 2004. 256 S., br., 8,50 [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Unter den amerikanischen Autoren ist Oates ... die scharfsinnigste Soziologin." Frankfurter Allgemeine Zeitung
"Überraschend, dass Oates so lange gewartet hat, Texte für Kinder und Jugendliche zu schreiben: Sie muss ihre eigene Kindheit sehr lebendig erinnern, denn die Worte ihrer Charaktere und die Gedanken, die sie denken, klingen so wahr." BookPage Children's Review
"Oates macht Poesie aus gewöhnlichen Worten, die den Leser direkt in die rastlosen Innenleben junger Frauen versetzen, die erschreckt sind von ihrer eigenen Brutalität. Weit weg von allen Rollenmodellen kämpfen sie mit angsterfüllten Fantasien, die sich nicht einmal auszusprechen wagen." American Library Association
"Überraschend, dass Oates so lange gewartet hat, Texte für Kinder und Jugendliche zu schreiben: Sie muss ihre eigene Kindheit sehr lebendig erinnern, denn die Worte ihrer Charaktere und die Gedanken, die sie denken, klingen so wahr." BookPage Children's Review
"Oates macht Poesie aus gewöhnlichen Worten, die den Leser direkt in die rastlosen Innenleben junger Frauen versetzen, die erschreckt sind von ihrer eigenen Brutalität. Weit weg von allen Rollenmodellen kämpfen sie mit angsterfüllten Fantasien, die sich nicht einmal auszusprechen wagen." American Library Association
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Für den "schnellen Leser" sind Joyce Carol Oates zehn Erzählungen, die nun in einem Sammelband vorliegen, eigentlich "zu schade", meint Rezensent Reinhard Osteroth. Stecken die Geschichten der "scharfsinnigen" Autorin doch voller Details, über die man keinesfalls einfach nur "hinwegfliegen" dürfe. Oates' Stärke liegt nach Ansicht des Kritikers darin, aus einer realistischen Schilderung heraus "mit Zauberhand" einen Bogen ins "Psychogramm" zu schlagen. Ihre Protagonisten sind allesamt auf der Suche, egal, ob im Zentrum des Geschehens eine notorische Ladendiebin steht oder eine im Verfolgungswahn gefangene "Alte im Perlonkittel". In ihren Beschreibungen geht die Autorin "diskret" vor: "leise" steuert sie stets die überraschende Wendung an, die die gesamte Geschichte mitunter "auf bitterste Weise" umstülpt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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