Wieder das korsische Dorf, wieder die Bar. Aus nächster Nähe werden dem Nationalisten Stéphane Campana zwei Kugeln in den Bauch gejagt. An seinen Leichnam geklammert vergeht vor Tränen die junge Virginie Susini, in unheilvoller Verehrung war sie dem nun Toten seit Jahren verfallen, bis hin zur sexuellen Selbstaufgabe.Und wieder Hayet, und auch ihr Bruder, Khalet, voller Träume auf ein besseres, auf ein freies Leben kamen sie nach Europa. Doch der allem Sein gegenüber gleichgültige Lauf der Dinge läßt auch ihre Träume zerbersten wie die Glück verheißenden Wellenam Felsen von Balto Atlantico, Tanger, Marokko, und sie in den Wind der Geschichteschreiben wie die Gischt des Meeres, das kein Erbamen kennt. Auf der Insel aus Gewalt und Schönheit führt Jérôme Ferrari die Hoffnungen und Ängste, die Ideologien und Träume, die Sehnsüchte und Einsamkeiten der Dorfbewohnerzusammen, verschmelzt sie zu einem Schicksal - und liefert uns einen Roman über die Kraft der Erinnerung, das innere Exil,die Macht der Träume - wuchtig tief, voller Empathie, und stets mit seinen Figuren nah an den unwiderruflichen Gesetzen der Weltläufe aller Epochen. Ein grandioses Leseerlebnis!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2013Das Ich ist eine wilde Insel
Und das Zentrum der Welt ist eine Bar: Mit "Balco Atlantico" liegt der fulminante Romanzyklus des Goncourt-Preisträgers Jérôme Ferrari jetzt komplett auf Deutsch vor.
Von Sandra Kegel
Jérôme Ferrari ist ein Grenzgänger. Der 1986 in Paris geborene und dort ausgebildete Philosophielehrer, der nach Aufenthalten in Korsika und Algier seit vergangenem Jahr an der französischen Schule in Abu Dhabi unterrichtet, schreibt Romane, die scheinbar Unvereinbares zusammenbringen. Ausgerechnet am Beispiel einer heruntergekommenen korsischen Dorfkneipe und ihrer illustren Besucher etwa verhandelte er in "Predigt auf den Untergang Roms" christliche Dogmen des Kirchenvaters Augustinus und überprüfte Überlegungen des Philosophen Leibniz über die beste aller möglichen Welten. Die "Predigt", im Jahr 2012 ebenso überraschend wie berechtigt mit dem renommierten französischen Prix Goncourt ausgezeichnet, illustriert die Vergänglichkeit allen Seins, die sich für Ferrari in der Zerstörung Roms ebenso offenbart wie im Zerfall des französischen Kolonialreichs oder eben im Niedergang einer Bar. "Die Welt ist wie ein Mensch, sie wird geboren, sie wird groß, und sie stirbt." Diesen Satz von Augustinus will Ferrari beschreiben, ohne ihn freilich zu psychologisieren.
Um die unaufgearbeitete koloniale Vergangenheit Frankreichs kreiste der zweite Band von Ferraris Trilogie: "Und meine Seele ließ ich zurück" stellte einen französischen Offizier ins Zentrum des Geschehens, der während des Nationalsozialismus im Konzentrationslager Buchenwald einsaß und gefoltert wurde und dem nun während des Algerien-Kriegs in den dunklen Gefängniskellern der Kolonialmacht selbst der Ruf vorauseilt, ein gefürchteter Peiniger algerischer Häftlinge zu sein. Dieser 2010 auf Deutsch erschienene Roman, der zugleich ein Bild der algerischen Befreiungsfront zeichnet, das der offiziellen Huldigungsrhetorik keineswegs entspricht, erkundete die Zusammenhänge von Erinnerung und Feindschaft, Schuld und Verantwortung und kam zu der leidvollen Erkenntnis, dass die Spirale aus Hass und Vergeltung nie enden wird, weil in jedem Menschen das Gedächtnis der Menschheit fortlebe, was Vergebung unmöglich mache.
Mit "Balco Atlantico" liegt nun der dritte Teil von Ferraris Romanzyklus über das französische zwanzigste Jahrhundert vor. Im Original bereits 2008 und somit vor den beiden anderen Bänden erschienen, macht er abermals Korsika zum Schauplatz, allerdings, und das ist neu, mit einem sehr korsischen Thema. Wir finden uns aufs Neue in der Bar von Marie-Angcle ein, irgendwann Mitte der achtziger Jahre, als der Unabhängigkeitskampf auf der Insel mit Bombenterror und aller Härte geführt wurde. Die aus verschiedenen Perspektiven erzählte Geschichte, die bis ins Jahr 2000 führt, versammelt am Bartresen so unterschiedliche Typen wie den depressiven Hochschullehrer Theodore, der an "Gedächtniswucher" leidet, und Virginie, die Tochter der Barbesitzerin Marie-Angcle, die allen Mahnungen der Mutter zum Trotz ein jahrelanges Liebesverhältnis zu dem Untergrundkämpfer Stéphane unterhält. Die junge Frau liebt bis zur Selbstaufgabe und erträgt es zuletzt sogar, den Geliebten auch dann noch zu treffen, als der eine andere heiratet.
Schon zu Beginn der Erzählung erfahren wir von Stéphanes Tod. "In Ajaccio nähte wahrscheinlich der Gerichtsmediziner mit grobem Zwirn die riesige ypsilonförmige Schnittöffnung wieder zu, die er dem Torso des Toten beigebracht hatte", heißt es da, während neben dem Seziertisch noch die Schüssel mit den blutigen Kugelsplittern steht. Stéphane, der Intellektuelle unter den Inselkriegern, war ein höchst ambivalenter Charakter: Von "eisigem Wesen", wird er beschrieben, aber auch als jemand, der sich voller Wärme ausdrückte, "ein Monument der Böswilligkeit", dessen Aufrichtigkeit bedingungslos war, "ein Monster, dessen Menschlichkeit so unanfechtbar im Raume stand", dass der Beobachter, wie er gesteht, "die Scham" nicht länger ertragen kann, "selbst auch ein Mensch zu sein."
Das Schicksal Stéphanes und der anderen Franzosen verwebt Jérôme Ferrari mit den Lebenswegen der aus Marokko geflohenen Geschwister Hayet und Khaled. Hayet, die eine Anstellung als Bedienung in der Bar von Marie-Angcle findet, geht es passabel, während Khaled sich als Tellerwäscher in einem Restaurant eher schlecht als recht verdingt. Zusammen mit seinem algerischen Freund Ryad bewohnt er ein armseliges Zimmer. So groß waren seine Hoffnungen auf ein besseres Leben in Europa, und doch müssen er und seine Schwester erfahren, dass ihre Träume zerbersten wie die Wellen am Felsen von Balco Atlantico, jener weitläufigen Strandpromenade in Tanger, nach der das Buch benannt ist. Hayet, deren makellose Schönheit stets ein Hauch Melancholie umweht, wird im Laufe des Romans genauso wie Virginie zu einer Überlebenden zwischen lauter Toten.
Die Hoffnungen, Erinnerungen und Ängste der Dorfbewohner lässt Jérôme Ferrari zu einem leuchtenden Epos zusammenfließen, das Christian Ruzicska und Paul Sourzac ansprechend übersetzt haben. "Grenzen zeichneten sich ab", heißt es an einer Stelle über den Einzug von Krieg und Gewalt: "Die vertraute Physiognomie der Welt war brutal verwandelt worden. Es gab unzählige Arten von Orten, Straßen, Cafés, Restaurants, ganze Dörfer, die man nicht mehr aufsuchen konnte, da die anderen dort in der Mehrheit waren - und es war, als wären sie von der Karte getilgt." Was Verletzungen Menschen langfristig antun können, davon handelt die Geschichte der traumatisierten Virginie. Denn in der "Predigt auf den Untergang Roms" werden wir der einst jungen, hoffnungsvollen Frau wiederbegegnen, allerdings als gespenstisch verwahrloste Erscheinung.
Stets sind es schmale Bücher, die Jérôme Ferrari verfasst, keine zweihundert Seiten sind sie jeweils lang, die aber in konzentrierter Sprache und eigenwilliger Komik immer das große Ganze angehen: den Ursprung des Daseins, den Zusammenbruch der Welten, den Krieg, den Untergang. So französisch die Konflikte dabei sein mögen, vom korsischen Befreiungskampf bis zum Algerien-Krieg destilliert Ferrari daraus doch immer Dramen von prinzipieller Gültigkeit.
Jérôme Ferrari: "Balco Atlantico".
Roman.
Aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac. Secession Verlag für Literatur, Zürich 2013. 174 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und das Zentrum der Welt ist eine Bar: Mit "Balco Atlantico" liegt der fulminante Romanzyklus des Goncourt-Preisträgers Jérôme Ferrari jetzt komplett auf Deutsch vor.
Von Sandra Kegel
Jérôme Ferrari ist ein Grenzgänger. Der 1986 in Paris geborene und dort ausgebildete Philosophielehrer, der nach Aufenthalten in Korsika und Algier seit vergangenem Jahr an der französischen Schule in Abu Dhabi unterrichtet, schreibt Romane, die scheinbar Unvereinbares zusammenbringen. Ausgerechnet am Beispiel einer heruntergekommenen korsischen Dorfkneipe und ihrer illustren Besucher etwa verhandelte er in "Predigt auf den Untergang Roms" christliche Dogmen des Kirchenvaters Augustinus und überprüfte Überlegungen des Philosophen Leibniz über die beste aller möglichen Welten. Die "Predigt", im Jahr 2012 ebenso überraschend wie berechtigt mit dem renommierten französischen Prix Goncourt ausgezeichnet, illustriert die Vergänglichkeit allen Seins, die sich für Ferrari in der Zerstörung Roms ebenso offenbart wie im Zerfall des französischen Kolonialreichs oder eben im Niedergang einer Bar. "Die Welt ist wie ein Mensch, sie wird geboren, sie wird groß, und sie stirbt." Diesen Satz von Augustinus will Ferrari beschreiben, ohne ihn freilich zu psychologisieren.
Um die unaufgearbeitete koloniale Vergangenheit Frankreichs kreiste der zweite Band von Ferraris Trilogie: "Und meine Seele ließ ich zurück" stellte einen französischen Offizier ins Zentrum des Geschehens, der während des Nationalsozialismus im Konzentrationslager Buchenwald einsaß und gefoltert wurde und dem nun während des Algerien-Kriegs in den dunklen Gefängniskellern der Kolonialmacht selbst der Ruf vorauseilt, ein gefürchteter Peiniger algerischer Häftlinge zu sein. Dieser 2010 auf Deutsch erschienene Roman, der zugleich ein Bild der algerischen Befreiungsfront zeichnet, das der offiziellen Huldigungsrhetorik keineswegs entspricht, erkundete die Zusammenhänge von Erinnerung und Feindschaft, Schuld und Verantwortung und kam zu der leidvollen Erkenntnis, dass die Spirale aus Hass und Vergeltung nie enden wird, weil in jedem Menschen das Gedächtnis der Menschheit fortlebe, was Vergebung unmöglich mache.
Mit "Balco Atlantico" liegt nun der dritte Teil von Ferraris Romanzyklus über das französische zwanzigste Jahrhundert vor. Im Original bereits 2008 und somit vor den beiden anderen Bänden erschienen, macht er abermals Korsika zum Schauplatz, allerdings, und das ist neu, mit einem sehr korsischen Thema. Wir finden uns aufs Neue in der Bar von Marie-Angcle ein, irgendwann Mitte der achtziger Jahre, als der Unabhängigkeitskampf auf der Insel mit Bombenterror und aller Härte geführt wurde. Die aus verschiedenen Perspektiven erzählte Geschichte, die bis ins Jahr 2000 führt, versammelt am Bartresen so unterschiedliche Typen wie den depressiven Hochschullehrer Theodore, der an "Gedächtniswucher" leidet, und Virginie, die Tochter der Barbesitzerin Marie-Angcle, die allen Mahnungen der Mutter zum Trotz ein jahrelanges Liebesverhältnis zu dem Untergrundkämpfer Stéphane unterhält. Die junge Frau liebt bis zur Selbstaufgabe und erträgt es zuletzt sogar, den Geliebten auch dann noch zu treffen, als der eine andere heiratet.
Schon zu Beginn der Erzählung erfahren wir von Stéphanes Tod. "In Ajaccio nähte wahrscheinlich der Gerichtsmediziner mit grobem Zwirn die riesige ypsilonförmige Schnittöffnung wieder zu, die er dem Torso des Toten beigebracht hatte", heißt es da, während neben dem Seziertisch noch die Schüssel mit den blutigen Kugelsplittern steht. Stéphane, der Intellektuelle unter den Inselkriegern, war ein höchst ambivalenter Charakter: Von "eisigem Wesen", wird er beschrieben, aber auch als jemand, der sich voller Wärme ausdrückte, "ein Monument der Böswilligkeit", dessen Aufrichtigkeit bedingungslos war, "ein Monster, dessen Menschlichkeit so unanfechtbar im Raume stand", dass der Beobachter, wie er gesteht, "die Scham" nicht länger ertragen kann, "selbst auch ein Mensch zu sein."
Das Schicksal Stéphanes und der anderen Franzosen verwebt Jérôme Ferrari mit den Lebenswegen der aus Marokko geflohenen Geschwister Hayet und Khaled. Hayet, die eine Anstellung als Bedienung in der Bar von Marie-Angcle findet, geht es passabel, während Khaled sich als Tellerwäscher in einem Restaurant eher schlecht als recht verdingt. Zusammen mit seinem algerischen Freund Ryad bewohnt er ein armseliges Zimmer. So groß waren seine Hoffnungen auf ein besseres Leben in Europa, und doch müssen er und seine Schwester erfahren, dass ihre Träume zerbersten wie die Wellen am Felsen von Balco Atlantico, jener weitläufigen Strandpromenade in Tanger, nach der das Buch benannt ist. Hayet, deren makellose Schönheit stets ein Hauch Melancholie umweht, wird im Laufe des Romans genauso wie Virginie zu einer Überlebenden zwischen lauter Toten.
Die Hoffnungen, Erinnerungen und Ängste der Dorfbewohner lässt Jérôme Ferrari zu einem leuchtenden Epos zusammenfließen, das Christian Ruzicska und Paul Sourzac ansprechend übersetzt haben. "Grenzen zeichneten sich ab", heißt es an einer Stelle über den Einzug von Krieg und Gewalt: "Die vertraute Physiognomie der Welt war brutal verwandelt worden. Es gab unzählige Arten von Orten, Straßen, Cafés, Restaurants, ganze Dörfer, die man nicht mehr aufsuchen konnte, da die anderen dort in der Mehrheit waren - und es war, als wären sie von der Karte getilgt." Was Verletzungen Menschen langfristig antun können, davon handelt die Geschichte der traumatisierten Virginie. Denn in der "Predigt auf den Untergang Roms" werden wir der einst jungen, hoffnungsvollen Frau wiederbegegnen, allerdings als gespenstisch verwahrloste Erscheinung.
Stets sind es schmale Bücher, die Jérôme Ferrari verfasst, keine zweihundert Seiten sind sie jeweils lang, die aber in konzentrierter Sprache und eigenwilliger Komik immer das große Ganze angehen: den Ursprung des Daseins, den Zusammenbruch der Welten, den Krieg, den Untergang. So französisch die Konflikte dabei sein mögen, vom korsischen Befreiungskampf bis zum Algerien-Krieg destilliert Ferrari daraus doch immer Dramen von prinzipieller Gültigkeit.
Jérôme Ferrari: "Balco Atlantico".
Roman.
Aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac. Secession Verlag für Literatur, Zürich 2013. 174 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Den nun vorliegenden ersten Band von Jérôme Ferraris Korsika-Trilogie, der eigentlich den Auftakt des Ganzen bildet, kann Samuel Moser ohne Schwierigkeiten als Letztes lesen. Motivisch sei der Zusammenhang der Bücher, weniger chronologisch, schreibt er. Moser streicht das Finstere und Tragische der Geschichte um Dämonen in den Köpfen der Korsen heraus, die sich in dem Buch morden, sexuell missbrauchen und immerfort eine Spirale aus Lüge, Hass und Gewalt antreiben. Die korsische Seele, wie sie Ferraris multiperspektivische Geschichtsschreibung offenlegt, ist das eine, was der Rezensent kennenlernt. Das andere sind exemplarische Täter-Opfer-Konstellationen, die für Moser allgemein von existenzieller Einsamkeit und Verzweiflung erzählen. In diesem Band nun geht es um die 1990er Jahre, in denen der Terror herrscht und Täter und Opfer weniger leicht zu unterscheiden sind, genau wie die Motive für die Gewalt. Dass alles auf Rache hinausläuft, über der der marokkanische Küstenstreifen Balco Antlantico als unerreichbare Hoffnung schimmert, lässt den Rezensenten einigermaßen betrübt zurück.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.12.2013Der Biss des Zebus
in den Plastikbeutel
Jérôme Ferrari setzt sein korsisches Welttheater fort
Den Lesern von „Predigt auf den Untergang Roms“, dem Goncourtpreistitel des vergangenen Jahrs, werden manche Figuren dieses anderen Romans von Jérôme Ferrari schon bekannt sein. Da ist etwa der heimgekehrte Legionär und zeitweilige korsische Unabhängigkeitskämpfer Vincent Leandri oder Marie-Angèle Susini, die Inhaberin einer Dorfkneipe in den Bergen über Ajaccio. Ferrari schreibt aber keine Folgenromane und Korsika ist bei ihm immer beispielhaft für vieles: ein aus dem Mittelmeer ragendes Erdmassiv, an dessen Kanten Weltgeschichte hochschlägt.
Diesmal reicht die Erinnerung aufgrund eines pathologischen „Gedächtniswuchers“ seitens des Erzählers bis ins 18. Jahrhundert zurück zu einem Oberst der korsischen Befreiungskriege unter Pascal Paoli. Ferrari ist aber auch kein Autor von Geschichtsromanen. Die für ihn typische Rollbewegung der langen und jäh stockenden Sätze, in denen Ereignisse, Bilder und Lebensschicksale sich überschlagen wie Geröll in der Meerbrandung, ist auch in diesem Buch aus dem Jahr 2008 schon da. Generationenerfahrung verdichtet dieser Autor auf extrem knappe Romanumfänge.
Die Art schon, wie im Eingangssatz die aus dem Haus gestürmte junge Virginie splitternackt, nur mit einer blutbefleckten Socke am Fuß, nachdem man sie von der Leiche ihres gerade erschossenen Geliebten Stéphane Campana weggezerrt hat, in den Armen ihrer Mutter „Ich werde darüber sterben, Maman!“ winselt und die Mutter sie tröstet: „Ja, Liebling, dein Leben ist vorbei, du wirst darüber sterben“ – dieser Tornado aus Mädchentraum, Rebellentum, Machismus, Perversion und Gewalt reicht aus, um in der Stille danach Nationalstolz, Fremdenhass, Terror und gebrochene Lebensschicksale übereinander knicken zu lassen. Wie in seinen anderen Büchern schichtet Ferrari seinen Stoff ins enge Kapitelgeklüft heterogener Erzählebenen. Nicht einmal der „Balco Atlantico“ des Romantitels liegt in Korsika. Es handelt sich vielmehr um einen Küstendamm im Norden Marokkos, auf dem Hayet, die marokkanische Kellnerin in der korsischen Kneipe, mit ihrem Bruder einst gern spazieren ging.
Die Zukunftsträume nordafrikanischer Migranten finden schwer zusammen mit der Vergangenheitssucht korsischer Alteingesessener und geraten ins Netz eines kuriosen, sehr mit sich selbst beschäftigten Erzählers. Dieser ehemals erfolgreiche Universitätsprofessor, Familienvater, Frauenverführer und Frauenenttäuscher ist ins Haus seines Vaters im korsischen Bergdorf zurückgekehrt und schlägt sich mit den Folgen seines krankhaften Gedächtnisstaus herum, der ihm die Unterscheidung zwischen Phantasie und Wirklichkeit schwierig macht. Für einen Erzähler ist das nicht die beste Voraussetzung. Gegenüber der in den fanatischen Aktivisten Campana verknallten Virginie, dem trübsinnig in der Dorfbar herumhängenden Heimkehrer Leandri, der um ihren erschossenen Bruder trauernden Marokkanerin Hayet bleibt er ein Fremdkörper. Ferrari hat in diesem frühen Roman noch nicht die volle Meisterschaft des Komponierens erreicht, die ihn heute auszeichnet. Die mitunter jäh eingefügten Rückblenden bringen den Fluss der Darstellung ins Stocken, zeitliche Bruchkanten kratzen gegeneinander und wir müssen, um dem Gedächtniswucher des Erzählers zu entkommen, hie und da vor- oder zurückblättern.
Dennoch offenbart schon dieses Buch eindrücklich das Talent des 1968 geborenen Autors. Der Tresen in Marie-Angèle Susinis Kneipe ist ein Ort, an dem Kampfpose, Burleske und Todesschüsse einander jagen. Der Umgang mit dem Revolver, dem Beweisstück von Männlichkeit im Milieu, wird zur Bewährungsprobe zwischen Heroismus und Lächerlichkeit, wenn dem jungen Aktivisten Campana schon bei der ersten Gendarmenkontrolle der Colt aus der Hose zu Boden rutscht. Die wahren Kämpfe sind nicht die, von denen in Maueraufschriften, Manifesten und Zeitungsartikeln die Rede ist.
Es sind vielmehr jene, die von den in der Geschichte Zufrüh- und Zuspätgekommenen an Bartresen und in einsamen Schlafzimmern gefochten werden – vom gealterten Abenteurer Leandri, der beim Anblick eines mit unglaublich dümmlichem Blick einen Plastikbeutel verzehrenden Zebus irgendwo in den Breitengraden des Indischen Ozeans plötzlich begreift, dass die Epoche der Kolonialreiche vorbei ist und es Zeit ist, heimzukehren. Oder jene Kämpfe werden von den Seefahrern wie Hayet und ihrem Bruder gefochten, die dreizehn Jahrhunderte nach ihren nordafrikanischen Vorfahren waffenlos und auf wackeligen Kähnen einen neuen Schritt nach Europa versuchen. Der in jedem Satz hörbare Mischklang aus Erhabenheit, Elend und Komik dieser Geschichten macht aus Jérôme Ferrari einen großen Gegenwartsautor und aus Christian Ruzicska, seinem nach drei Romanen angestammten Übersetzer, einen nicht weniger überzeugenden Vermittler.
JOSEPH HANIMANN
Jérôme Ferrari: Balco Atlantico. Roman. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac. Secession Verlag, Zürich 2013. 168 Seiten,
19,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
in den Plastikbeutel
Jérôme Ferrari setzt sein korsisches Welttheater fort
Den Lesern von „Predigt auf den Untergang Roms“, dem Goncourtpreistitel des vergangenen Jahrs, werden manche Figuren dieses anderen Romans von Jérôme Ferrari schon bekannt sein. Da ist etwa der heimgekehrte Legionär und zeitweilige korsische Unabhängigkeitskämpfer Vincent Leandri oder Marie-Angèle Susini, die Inhaberin einer Dorfkneipe in den Bergen über Ajaccio. Ferrari schreibt aber keine Folgenromane und Korsika ist bei ihm immer beispielhaft für vieles: ein aus dem Mittelmeer ragendes Erdmassiv, an dessen Kanten Weltgeschichte hochschlägt.
Diesmal reicht die Erinnerung aufgrund eines pathologischen „Gedächtniswuchers“ seitens des Erzählers bis ins 18. Jahrhundert zurück zu einem Oberst der korsischen Befreiungskriege unter Pascal Paoli. Ferrari ist aber auch kein Autor von Geschichtsromanen. Die für ihn typische Rollbewegung der langen und jäh stockenden Sätze, in denen Ereignisse, Bilder und Lebensschicksale sich überschlagen wie Geröll in der Meerbrandung, ist auch in diesem Buch aus dem Jahr 2008 schon da. Generationenerfahrung verdichtet dieser Autor auf extrem knappe Romanumfänge.
Die Art schon, wie im Eingangssatz die aus dem Haus gestürmte junge Virginie splitternackt, nur mit einer blutbefleckten Socke am Fuß, nachdem man sie von der Leiche ihres gerade erschossenen Geliebten Stéphane Campana weggezerrt hat, in den Armen ihrer Mutter „Ich werde darüber sterben, Maman!“ winselt und die Mutter sie tröstet: „Ja, Liebling, dein Leben ist vorbei, du wirst darüber sterben“ – dieser Tornado aus Mädchentraum, Rebellentum, Machismus, Perversion und Gewalt reicht aus, um in der Stille danach Nationalstolz, Fremdenhass, Terror und gebrochene Lebensschicksale übereinander knicken zu lassen. Wie in seinen anderen Büchern schichtet Ferrari seinen Stoff ins enge Kapitelgeklüft heterogener Erzählebenen. Nicht einmal der „Balco Atlantico“ des Romantitels liegt in Korsika. Es handelt sich vielmehr um einen Küstendamm im Norden Marokkos, auf dem Hayet, die marokkanische Kellnerin in der korsischen Kneipe, mit ihrem Bruder einst gern spazieren ging.
Die Zukunftsträume nordafrikanischer Migranten finden schwer zusammen mit der Vergangenheitssucht korsischer Alteingesessener und geraten ins Netz eines kuriosen, sehr mit sich selbst beschäftigten Erzählers. Dieser ehemals erfolgreiche Universitätsprofessor, Familienvater, Frauenverführer und Frauenenttäuscher ist ins Haus seines Vaters im korsischen Bergdorf zurückgekehrt und schlägt sich mit den Folgen seines krankhaften Gedächtnisstaus herum, der ihm die Unterscheidung zwischen Phantasie und Wirklichkeit schwierig macht. Für einen Erzähler ist das nicht die beste Voraussetzung. Gegenüber der in den fanatischen Aktivisten Campana verknallten Virginie, dem trübsinnig in der Dorfbar herumhängenden Heimkehrer Leandri, der um ihren erschossenen Bruder trauernden Marokkanerin Hayet bleibt er ein Fremdkörper. Ferrari hat in diesem frühen Roman noch nicht die volle Meisterschaft des Komponierens erreicht, die ihn heute auszeichnet. Die mitunter jäh eingefügten Rückblenden bringen den Fluss der Darstellung ins Stocken, zeitliche Bruchkanten kratzen gegeneinander und wir müssen, um dem Gedächtniswucher des Erzählers zu entkommen, hie und da vor- oder zurückblättern.
Dennoch offenbart schon dieses Buch eindrücklich das Talent des 1968 geborenen Autors. Der Tresen in Marie-Angèle Susinis Kneipe ist ein Ort, an dem Kampfpose, Burleske und Todesschüsse einander jagen. Der Umgang mit dem Revolver, dem Beweisstück von Männlichkeit im Milieu, wird zur Bewährungsprobe zwischen Heroismus und Lächerlichkeit, wenn dem jungen Aktivisten Campana schon bei der ersten Gendarmenkontrolle der Colt aus der Hose zu Boden rutscht. Die wahren Kämpfe sind nicht die, von denen in Maueraufschriften, Manifesten und Zeitungsartikeln die Rede ist.
Es sind vielmehr jene, die von den in der Geschichte Zufrüh- und Zuspätgekommenen an Bartresen und in einsamen Schlafzimmern gefochten werden – vom gealterten Abenteurer Leandri, der beim Anblick eines mit unglaublich dümmlichem Blick einen Plastikbeutel verzehrenden Zebus irgendwo in den Breitengraden des Indischen Ozeans plötzlich begreift, dass die Epoche der Kolonialreiche vorbei ist und es Zeit ist, heimzukehren. Oder jene Kämpfe werden von den Seefahrern wie Hayet und ihrem Bruder gefochten, die dreizehn Jahrhunderte nach ihren nordafrikanischen Vorfahren waffenlos und auf wackeligen Kähnen einen neuen Schritt nach Europa versuchen. Der in jedem Satz hörbare Mischklang aus Erhabenheit, Elend und Komik dieser Geschichten macht aus Jérôme Ferrari einen großen Gegenwartsautor und aus Christian Ruzicska, seinem nach drei Romanen angestammten Übersetzer, einen nicht weniger überzeugenden Vermittler.
JOSEPH HANIMANN
Jérôme Ferrari: Balco Atlantico. Roman. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac. Secession Verlag, Zürich 2013. 168 Seiten,
19,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de