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Der Autor im Selbstgespräch Das ist ja nun ein ganz anderes Buch als SPEEDY, karger, weniger opulent, und kein historischer Roman. Ein Gegenwartsroman, wenn auch ein Bisschen weiter aufgefasst: die im Buch geschilderte Gegen-wart ist die der Zeit, bevor der Osten im wiedervereinigten Deutschland noch einmal in Bewegung kam, bevor die Menschen, die sich zu wehren begannen, in die Fänge der AfD gerieten. Man denkt beim Lesen: gleich kommt da jemand von der AfD um die Ecke. Der Roman ist geschrieben, bevor es diese Partei gab - aber es gab diese Leute schon vorher, die dann von der AfD…mehr

Produktbeschreibung
Der Autor im Selbstgespräch Das ist ja nun ein ganz anderes Buch als SPEEDY, karger, weniger opulent, und kein historischer Roman. Ein Gegenwartsroman, wenn auch ein Bisschen weiter aufgefasst: die im Buch geschilderte Gegen-wart ist die der Zeit, bevor der Osten im wiedervereinigten Deutschland noch einmal in Bewegung kam, bevor die Menschen, die sich zu wehren begannen, in die Fänge der AfD gerieten. Man denkt beim Lesen: gleich kommt da jemand von der AfD um die Ecke. Der Roman ist geschrieben, bevor es diese Partei gab - aber es gab diese Leute schon vorher, die dann von der AfD eingesammelt werden konnten. Um die Hauptfigur im Bankrott, der sich in den Medien dagegen wehrt, was ihm widerfahren ist, sammeln sie sich, und er überlegt ja dann auch, was ließe sich daraus machen, eine Bewegung, eine Armee vielleicht, a la Michael Kohlhaas, oder, er ist ja Geschäftsmann, könnte es auch eine Firma sein - er kommt nur zu keinem Schluss. Es fehlt noch ein Element: das der Fremdenfeindlichkeit. Die im Osten ja erst einmal eine gegen die Westler ist, die den Osten übernehmen. Politisch, in der Verwaltung, der Justiz, im Geschäftsleben, alles Menschen, die den Rechtsstaat gewohnt sind, ihn für sich zu nutzen verstehen. Bärbel Bohley hat gesagt: Wir wollten Gerechtigkeit, bekommen haben wir den Rechtsstaat. Und das ist sicher auch gut so, denn darüber, was Gerechtigkeit ist, hätten wir uns doch nie einigen können. Aber der Rechtsstaat hat ein Problem, wenn zu viele seiner Entscheidungen als ungerecht empfunden werden. Jede kleine Gemeinheit hat doch ihre Folgen, jede Benachteiligung, die ein Mensch erleidet. In dem Moment, wo dieser Mensch dann gegen sie revoltiert. Es ist erst gar nicht klar, wohin es wird führen können, und die Vielen, die sich ungerecht behandelt gefühlt haben, müssen erst zusammenfinden. Und es kann die ganze falsche Losung sein, die sie vereint. Als die Fremdlinge im eigenen Land dann mit den Fremden kamen, die sie flächendeckend und also auch im Osten, der sich mit den Fremden nicht so auskannte, verteilen wollten, brach die Revolte los, in Form der AfD, und ich kann nur von Glück sagen, dass ich meinen Roman schon zu einem Zeitpunkt geschrieben habe, als die Erniedrigten und Beleidigten noch nicht wussten, wohin mit ihrer Wut. Ein Buch der linken Verzweiflung Politisch bin ich links, als Autor bin ich alles, was angesagt ist, aber dennoch würde ich meinen, dass auch der Bankrott irgendwie links angesiedelt ist, bei den Verlierern nämlich. Die Gewinner beschäftigen mich, aber in dem Moment, wo aus einem Verlierer ein Gewinner wird, hat er meine Solidarität dann nicht mehr. Sie waren zehn Jahre lang Verfassungsrichter im Land Brandenburg. Den Geschichten, die ich im Bankrott erzähle, bin ich als Verfassungsrichter begegnet, und es waren dies die Fälle, bei denen ein Verfassungsgericht nichts machen kann, die Fälle, an denen man nur verzweifeln kann. Am Anfang steht eine Ungerechtigkeit, oft Behördenwillkür, die Leute wehren sich gerichtlich dagegen, aber geraten sie in die Mühlen des Rechtsstaates, dann verschiebt es sich immer mehr, es geht sehr bald nicht mehr um das, was sie eigentlich antreibt, viele werden irre daran und entwickeln Verschwörungstheorien. Und dann ist ihnen natürlich noch weniger zu helfen. Beim Lesen hat man den Eindruck, als würde man unmerklich von einem Stoff in einen ganz anderen geraten. Genau das hat mich gereizt, das habe ich zu gestalten versucht. Mit etwas ganz klar Umrissenen zu beginnen, und dann mit etwas anderem, ebenso klar umrissenen zu enden. So, als befände man sich von Anfang an auf einer schiefen Ebene, es folgt ein Bankrott auf den anderen. Es beginnt mit dem einer Firma, dem eines Unternehmers, es geht weiter zum Bankrott der Institutionen, der Politik, des Rechtswesens, der Medien, dem Kulturbetrieb, der Moral, und endet in dem der Literatur - nichts bleibt unberührt und ausgespart. Das Thema verschiebt sich, und mit einem Mal sind wir bei dem des Voyeurismus, beim dazu gehörigen Exhibitionismus, und das nicht nur sexuell und erotisch, sondern ganz allgemein und politisch, bei dem Exhibitionismus der Reichen und Erfolgreichen, dem der Minderbemittelten, denen nur die Losung bleibt: Zeige deine Wunde. Der Bankrott erzählt die Geschichte einer Freundschaft. Es ist das vielleicht sogar ein Buch aus zwei Büchern, die miteinander verzahnt sind. Es sind zwei Geschichten, die zusammenkommen, es ist die Geschichten zweier Freunde, die sich gegenseitig verachten, kaum verstehen. Die Geschichte des einen: ein Mann, der alles verliert, es am Ende aber wieder gewinnt. Die Geschichte des anderen: ein Mann, der glaubt, nach seinem bisherigen Scheitern stünde ihm ein Erfolg bevor, und der am Ende doch wieder nur scheitert. Der eine der beiden Freunde: ein Unternehmer, ein Macher und Macho, ein Mann mit einem großen Ego, einer großen Klappe, aber er kann erzählen, er kann auch zuhören, er liebt Geschichten. Ein hässlicher Mann, unansehnlich, monströs, ein Ekel, aber nicht einer, der sich Illusionen über seine Wirkung macht - dadurch dann auch wieder sympathisch. Ich habe ein paar solcher Männer kennengelernt, und ich dachte immer wieder mal: sie sind dir zuwider, und also musst du mal über so einen schreiben, um ihn zu verstehen, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, um gute Argumente für sein Verhalten zu finden. Der andere, der Ich-Erzähler im Roman: ein Schriftsteller, ein Langweiler also, ein Mann, der gut aussieht, der aber daraus nichts bei den Frauen machen kann, gehemmt, erfolglos, ein Schriftsteller, der beschließt, sich von der Fiktion ab-, sich der Realität zuzuwenden, und dann ist da sein Freund, der Bankrott dieses Freundes, und er denkt: vielleicht ist das eine Geschichte, über die du einen Roman schreiben kannst. Er war immer ein Voyeur des Lebens anderer, nun wird er zum Parasiten, zu einem Wicht, für den das Leben eines anderen, das seines Freundes, zum Stoff, zum Material wird. Dieser Ich-Erzähler, das bin nicht ich selber, aber das Problem des Realismus in der Literatur ist auch meines: was kann man von dem erzählen, bei dem man nicht dabei gewesen ist, das, was man nicht selbst erlebt hat? Es ist für mich eine Sache der schriftstellerischen Moral, diese Grundlage des realistischen Schreibens, auf Vermutungen angewiesen zu sein, mit zum Thema zu machen. Man sieht im Bankrott einem Schriftsteller beim Schreiben eines Romans zu, der eigentlich ungeeignet ist, ihn zu schreiben. Doch niemand sonst würde ihn schreiben, hätte Veranlassung, es zu versuchen. Die Welt aber will nicht von einem inkompetenten Schriftsteller beschrieben werden, und kann sie es, dann wehrt sie sich dagegen. Die Reichen und Erfolgreichen tun es, sie verfügen über die Mittel, es zu tun. Und sie haben einen guten Grund dafür: sie wissen, dass ihre Welt nicht von einem armen, erfolg-losen Schriftsteller verstanden und dargestellt werden kann. Und so bleibt ihm am Ende nichts anderes als in den Journalismus auszuweichen, in den plumpen Realismus der bloßen Fakten. Und was ist mit dem Schicksal? Dieser Bauunternehmer bekommt einen Bescheid des Finanzamtes, das von ihm eine Steuernachzahlung in der Höhe von einer Millionen verlangt. Es ist das, was dazu führt, dass dieser Mann alles verliert: seine Firma, sein Haus und dann auch seine Frau. Ein Jahr später stellt sich bei einer internen Prüfung im Finanzamt heraus: er hatte keine Steuerschulden, es hätte ihm diese Millionen zurückgezahlt werden müssen. Ein Computerfehler: aus Plus wurde Minus. Der Computer als Schicksalsmacht. Aber diese Macht schlägt mit Hilfe der Presse zu und das zweimal: Am Anfang, als die Zeitung aus der angeblichen Steuerschuld dieses Unternehmers eine Meldung macht, und es ist diese Meldung, die erst den ganzen Prozess in Gang setzt, bei dem er alles verliert - eine Durchstecherei, und die Presse greift es dankbar auf. Am Ende rettet ihn die Presse: Das Finanzamt hatte den Computerfehler deckeln wollen, aber ein ordentlicher deutscher Beamter wird zum Whistleblower. Der Roman jedoch, als literarische Gattung genommen, ist dazu da, von Abenteuern zu erzählen, nicht von einem Schicksal. Das war Sache der antiken Tragödie, und die meisten Menschen von heute, lehnen den Gedanken ab, es könne so etwas wie Schicksal überhaupt geben. Im Bankrott versuche ich also das Unmögliche: in einem Roman von einem Schicksal zu erzählen - vielleicht ist es gelungen. Ist der Bankrott ein erotischer Roman? Durch und durch, und auch da, wo er von ganz anderen Dingen handelt, von Geschäften, von Politik, dem Baugewerbe, Verlagsangelegenheiten. Das Problem dabei ist nur, dass sich der fiktive Autor des Romans nicht sicher ist, ob er sie nicht nur auch in diese Geschichte hineinträgt, die Erotik, die vielleicht doch nur seine ist, einfach, weil er doch von nichts anderem etwas versteht, weder von den Geschäften, von der Politik, dem Baugewerbe, Verlagsangelegenheiten. Kann das wirklich sein, dass sich die Welt in Exhibitionisten und Voyeuristen aufteilt? Und wenn man Sie direkt fragt, Herr Havemann... Ich stimme mir als dem fiktiven Autor des Bankrott zu: der Roman unserer Zeit muss erotisch sein. Also, so wie der Bankrott? Exakt - Sie haben es präzise erfasst.
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Autorenporträt
https://de.wikipedia.org/wiki/Florian_Havemann
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ein Roman, der das Scheitern schon im Titel trägt und es dann in der Ausführung selbst nicht besser macht, klagt Rezensent Oliver Jungen über Florian Havemanns neuen Roman, der eine eigentlich interessante Doppelstruktur verfolgt. Der Erzähler ist zugleich selbst Schriftsteller, der über die Lebensgeschichte seines Bekannten Taff schreiben will, einst erfolgreicher Unternehmer, in Folge von wirtschaftlichen Nachwendeproblemen in Brandenburg jetzt pleite, ein Erzählstrang, der immer wieder von Abschweifungen etwa zu poetologischen Fragestellungen durchzogen ist, lesen wir. Vor allem finden sich darin aber Ausführungen und Gedanken, die Jungen nur noch als vulgär-pornografisch beschreiben kann und die, statt die subversive Kraft der Literatur deutlich zu machen, mit ihren exhibitionistischen Zügen nur nerven. Gute Idee, mittels verschiedener Erzählstränge von den Schwierigkeiten im Nachwende-Osten zu schreiben, aber die Umsetzung scheitert, schließt der Kritiker.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.2023

Verblühte Landschaften
Der kaputte Osten und der Sex: Florian Havemann erzählt vom Scheitern - und scheitert dabei selbst

Nicht an den selbstgefälligen Moralisten aus den schwarzen Wäldern, an Bertolt Brecht, denkt Florian Havemanns Schriftsteller-Erzähler bei "B.B.", sondern an den Sex-Star des Nouvelle-Vague-Kinos, der in Jean-Luc Godards Meisterwerk "Die Verachtung" nackt auf einem Bett liegt, "ihren wundervollen Hintern zeigend, ihren Arsch, und ich sage hier Arsch, weil Brigitte Bardot ihre Pobacken, wie es in den deutschen Untertiteln heißt, in der französischen Originalfassung als fesse anspricht". Allerdings ist "fesse" eben nicht "cul", da ist "Hintern" schon ganz richtig. Er hat uns vorgewarnt, der Erzähler: "Ich bin ein Mann, der Fehler macht." Hier also ist schon einer, ein kleiner, zugegeben, aber ein vielsagender, denn was den Schriftsteller hier die Backen der Derbheit erklimmen lässt, ist seine Erotomanie, die ihm einfach immer dazwischenkommt. So gut wie jeden erzählerischen Anlauf in diesem so maß- wie formlosen Roman biegt sie fatal in Richtung Lenden um.

Dass sich ein längerer Exkurs mit Godards Film befasst, der von der wachsenden Verachtung der von der Bardot gespielten Schauspielerin für ihren Ehemann handelt, aber in erster Linie über das Filmemachen reflektiert, hat seinen guten Grund. Etwas ganz Ähnliches hat Havemann respektive sein zwischengeschalteter Icherzähler mit seinem nie über den Fragment-Status hinausgelangenden Roman "Bankrott" ebenfalls im Sinn. Sogar die Entfremdungshandlung wird gespiegelt, auch wenn diesmal die Frau, die schöne, egozentrische Marina mit "Hang zum billigen Kitsch" ("Polin bleibt Polin"), die per Annonce einen Millionär gesucht, geheiratet und verachtet hatte - den noch viel egozentrischeren Bauunternehmer Taff -, zuletzt die Gedemütigte ist.

Wie der Film bespielt das Buch zwei Ebenen zugleich, berichtet also aus der Sicht eines Schriftstellers in repetitiven Passagen über die poetologischen und editorischen Probleme beim Schreiben eines Romans. Dieser Roman wiederum soll sich vorgeblich an der Realität orientieren, an der nicht sehr aufregenden Lebensgeschichte des mit dem Erzähler befreundeten Taff (der ein wenig nach dem Umzugsunternehmer Klaus Zapf modelliert wurde). Taff hatte im Brandenburgischen eine florierende Firma aufgebaut, konnte aber eine hohe Steuernachforderung nicht zahlen und ging pleite. Die Boulevardpresse spießte den Fall auf, zumal die schöne Marina ihren verarmten Goldesel verließ. Der bislang erfolglose Schriftsteller - wie Havemann aus dem Osten kommend, im Westen aufgewachsen und nun in Berlin lebend - wittert seine Chance, aus diesem Bankrott des Macho-Westlers im Osten erzählerisch Gewinn zu schlagen, wozu er die abgekühlte Beziehung zu Taff wieder aufwärmt.

Die Binnenhandlung, Taffs Geschichte, füllt nicht einmal die Hälfte des voluminösen Buchs. Der Rest ist den kursorischen Gedanken und intimen Erinnerungen des Erzählers gewidmet. Literatur versteht der nicht als Dienst am Schönen, Wahren, Guten: "Für mich ist das Schreiben parasitär, der Schriftsteller ein Parasit, ein Voyeur bloß des Lebens anderer, ein Feigling." In den besseren Momenten scheint sich die in die eigene Post-Pop-Attitüde der radikalen Ehrlichkeit verliebte Erzählung ins Gesellschaftsanalytische zu weiten, so holzschnittartig die Befunde sind: "Als ob es im Osten jemals Solidarität gegeben hätte, jeder gegen jeden, Denunziation, das war doch ein Volkssport im Osten, heute erzählen natürlich alle was anderes." Die Verachtung richtet sich überhaupt vor allem auf Ostdeutschland; insbesondere der zynische Taff, ein körperlich unansehnlicher Berserker mit unbegrenzter Potenz, hält die neuen Länder für eine Art Puff der Dummen ("Mieses Pack, Opportunisten, die ihr Ressentiment pflegen"), in dem er sich aufführt wie ein Alleinherrscher.

Das goutiert man durchaus in Brandenburg. Auch abgestürzt bleibt Taff ein Held des Volks, schon weil er der "Bild"-Zeitung Schlagzeilen wert ist. Bald klammern sich Wendeverlierer, Verwaltungsgeschädigte und Querdenker an Taff, was sich unter dem Rubrum "Kohlhaas" zum Buch im Buch auswächst: eine Sammlung von Kurzgeschichten über Menschen, die sich durch vermeintliche Kleinigkeiten (es geht um Mülltrennung oder Abwasserkanäle) in ihrem Gerechtigkeitsempfinden so düpiert fühlen, dass sie den Aufstand planen. Erneut aber nimmt Taff sich hier nur, was ihm zupasskommt (meist Frauen und meist von hinten). Die Revolution fällt aus. Zuletzt ist der Westler wieder obenauf, und die dahinstolpernde Handlung mündet in eine billige Oberschichten-Orgie.

Florian Havemann will zu viel. Ein Roman und zugleich dessen ultimative Überschreitung soll "Bankrott" sein. Gegen das literaturkritische Verdikt versucht er sich dadurch zu immunisieren, dass er die Argumente der Kritik recht treffend vorwegnimmt: mal als Selbstkasteiung (Topos des eigenen Unvermögens), mal als Vorwurf gegen eine reflexhaft agierende Journaille. Radikal gibt sich dieses Buch unverkennbar, und da verwundert es dann doch, dass Havemann das radikalste Potential ausgerechnet im Pornographischen sieht, das doch seit mindestens einem halben Jahrhundert jede tabubrechende Kraft eingebüßt hat. Diese obsessiv libidinöse Dimension des Romans - und knapp die Hälfte ist dezidiert pornographisch - mag sich gegen die neue Lustfeindschaft richten (Sensitivity Reader kämen aus dem "Toxisch"-Sagen gar nicht mehr heraus), besonders tiefsinnig legitimiert ist sie freilich nicht: Der Exhibitionismus gilt dem Erzähler als Mittel, dem allgegenwärtigen Voyeurismus selbstbewusst zu begegnen. Mit Lustüberschuss. Das Sexuelle als Widerstand gegen die Verhältnisse, auch in Havemanns Roman "Speedy" spielte das bereits eine Rolle.

Hier nun führt es zu zahllosen schwitzigen, beliebig akkumuliert wirkenden Beischlaf-Anekdoten (Taffs und des Erzählers), die in ihrer Geschwätzigkeit und picassohaften Altmännergeilheit über sich selbst hinaus nichts bedeuten, nicht einmal im Hinblick auf den Erzähler, der jünger sein soll als der tatsächliche Autor. Das untergräbt auch die vielversprechenden Passagen, die die unaufhebbare Diskrepanz zwischen der Erzählökonomie und einem ökonomischen Roman-Sujet vorführen (was auch Rainald Goetz in "Johann Holtrop" schon zu spüren bekam, aber nicht zugleich thematisierte). Dass der Roman im Roman scheitern muss, liegt an dem Machtgefälle zwischen Kunst und Wirtschaft; dass der gesamte Roman scheitert, liegt daran, dass sein Autor nicht die Disziplin besitzt, diesem Erzählstrang zu folgen. Und wer ein Buch im eigenen Verlag veröffentlicht, dem sagt niemand, dass das Vorhaben mit einem Drittel seines Umfangs besser bedient gewesen wäre. Eine Ahnung hatte der Autor wohl schon, denn die diesbezügliche Kritik einer Lektorin sowie der "einzigen Leserin" hat er in die Geschichte mit hineingenommen (bevor auch diese Einwände im Roman weggevögelt werden).

Schade ist das allemal. Wer, wenn nicht Florian Havemann - Wolf Biermanns "Enfant perdu", als in den Westen geflohener Sohn des DDR-Regimekritikers Robert Havemann die inkarnierte Ost-West-Schicksalsverstrickung -, könnte den großen Wendebilanzroman schreiben, die Aufrechnung nach drei Jahrzehnten Autosuggestion. Dass er die Sprache dazu hat, den Blick und die Wut, das zeigt sein "Bankrott"-Erzählbankrott durchaus, aber mehr zeigt er leider nicht. Versuch der Ehrenrettung: Vielleicht mag man eine sich über 650 großformatige Seiten erstreckende Enttäuschung irgendwie doch auch als gültigen Kommentar auf die früh entgleiste und dann einfach vergessene Wiedervereinigung verstehen. OLIVER JUNGEN

Florian Havemann: "Bankrott".

Freunde & Friends

Verlag, Berlin 2023.

654 S., br., 25,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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