Wo die Stadt aufhört und die Vorstadt anfängt, ist in Paris klar markiert durch den Périphérique, den zu überschreiten Anne Webers Erzählerin bisher kaum in den Sinn gekommen ist. Denn was gibt es dort, in den verruchten Banlieues, außer einem Geflecht aus Schienen, Schnellstraßen und Autobahnen, zwischen denen Lagerhallen, gewaltige Supermärkte und Baustellen und Millionen von Menschen eingeklemmt sind? Außer der so notorischen Not, Gewalt und Armut? Als ihr alter Freund Thierry ihr jedoch vorschlägt, ihn für einen Film durch die Vorstädte des Départments Seine-Saint-Denis zu begleiten, die vor den Olympischen Spielen 2024 einem tiefgreifenden Wandel unterzogen werden, muss sie sich eingestehen, dass sie für die nächste Nähe jahrzehntelang blind gewesen ist. Da sind zum Beispiel der von Schrotthalden umgebene muslimische Friedhof von Bobigny, auf dem ein algerischer Olympiasieger der 1920er-Jahre begraben liegt; die beiden kreisrunden Sozialwohnungsbauten von Noisy-le-Grand,die einander wie gigantische Camemberts gegenüberstehen; und tausend andere von Kolonialismus und Leid, von Hoffnung und Fortschritt erzählende Orte. Und auch Thierry selbst entpuppt sich mit der Zeit als Teil dieser widersprüchlichen, ihrem Blick bislang verborgenen Welt.
Mit leisem Witz und großer Beobachtungsgabe öffnet sich Anne Weber in Bannmeilen dem Unvertrauten und Anderen mitten unter uns und entwirft damit nicht nur das Bild einer komplexen Freundschaft, sondern zugleich die Geschichte einer vielschichtigen Gesellschaft in der so noch nicht gesehenen Vorstadt der Liebenden.
Mit leisem Witz und großer Beobachtungsgabe öffnet sich Anne Weber in Bannmeilen dem Unvertrauten und Anderen mitten unter uns und entwirft damit nicht nur das Bild einer komplexen Freundschaft, sondern zugleich die Geschichte einer vielschichtigen Gesellschaft in der so noch nicht gesehenen Vorstadt der Liebenden.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Ein eindrückliches, teils romanhaftes, teils essayistisches Buch über die Banlieues hat Anne Weber laut Rezensent Helmut Böttiger geschrieben. Gemeinsam mit der Ich-Erzählerin und ihrem Begleiter, dem algerischstämmigen Filmemacher Thierry, durchstreift der Kritiker das Departement 93 in der Pariser Peripherie, das als sozialer Brennpunkt gilt, in diesem Sommer jedoch außerdem einer der Austragungsorte der Olympischen Spiele sein wird. Feinfühlig beschreibt Weber diese Gegend, lernen wir, sie blickt gemeinsam mit Thierry auf Sozialbauten und Konfrontationen der Bewohner mit der Polizei, lauscht den Warngesängen von Drogendealern und stößt zwischendrin auf das Haus, in dem der Zeichner Uderzo Asterix erfand. Auch die Biografie des äußerst sprachbewussten Thierry spielt eine Rolle in dem Buch, führt Böttiger aus, der von den Beobachtungen, die dieses Buch macht, ebenso beeindruckt ist, wie von der sanften Ironie, mit der sie verfasst sind.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.2024Paris ist doch ganz anders
Als touristisches Niemandsland, das direkt an der Traummetropole Paris klebt, gelten die nördlichen Vororte der französischen Hauptstadt, die immer noch vom Glanz ihrer royalen Vergangenheit lebt. Jenseits der Stadtautobahn Boulevard Périphérique, die das Herz von Paris umschließt, liegt ein armes Anderland, das kaum ein Besucher kennt. Berühmt-berüchtigt sind die Gegenden im Département Seine-Saint-Denis mit der Ziffer 93 durch Krawalle, Gewalt und Drogenhandel. Sie gelten als Symbole der gescheiterten Einwanderungspolitik, auch wenn das Sportstadion "Stade de France" in St-Denis Magnet für Fans aus aller Welt ist.
Als faszinierendes Vielmenschenland jedoch porträtiert die Autorin Anne Weber Orte wie Le Bourget, La Courneuve, Aulnay-sous-Bois und Bobigny bei ihren über insgesamt 600 Kilometer weiten Wanderungen, die sie mit ihrem algerischstämmigen Freund, dem Filmemacher Thierry, dort unternimmt. Dieser wird zu ihrem Promenadengefährten, der sich qua Herkunft wie so viele der Vororteinwohner "Entre deux ailleurs", zwischen zwei Woanders, nicht ganz zu Hause fühlt und deshalb der perfekte Führer durch die "Cités" und ihr Umland ist: Ein Universum aus Sozialwohnungstürmen, Schrottbergen, endlosen Schienenwegen und Straßen ohne jeden Menschen - dazwischen die Rufe der Chouffeurs, der Drogenkuriere. Eine Oase inmitten der so fremd wirkenden Welt des Banlieue-Durcheinanders findet das Duo in einem Café, das ein Safe Space für mehr oder minder traurige Gestalten ist. Hierher zieht es die mit scharfem soziologischen Blick ausgestattete Autorin und ihren Freund zu einer Art teilnehmenden Beobachtung immer wieder zurück: Hier sitzt die Krankenschwester über einem Rosé mit ihrem Kreuzworträtsel neben einem Halbstummen, einem Ganzstummen und einem Mann, der sich Rotwein direkt in den Magen spritzt. Ein hinreißendes Buch ohne den üblichen Paris-Zuckerguss und eine literarische Einladung, die Stadt jenseits von Marais und Champs-Élysées zu erkunden. STEFANIE VON WIETERSHEIM
Anne Weber: "Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen". Matthes & Seitz, Berlin 2024, 301 Seiten, 25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Als touristisches Niemandsland, das direkt an der Traummetropole Paris klebt, gelten die nördlichen Vororte der französischen Hauptstadt, die immer noch vom Glanz ihrer royalen Vergangenheit lebt. Jenseits der Stadtautobahn Boulevard Périphérique, die das Herz von Paris umschließt, liegt ein armes Anderland, das kaum ein Besucher kennt. Berühmt-berüchtigt sind die Gegenden im Département Seine-Saint-Denis mit der Ziffer 93 durch Krawalle, Gewalt und Drogenhandel. Sie gelten als Symbole der gescheiterten Einwanderungspolitik, auch wenn das Sportstadion "Stade de France" in St-Denis Magnet für Fans aus aller Welt ist.
Als faszinierendes Vielmenschenland jedoch porträtiert die Autorin Anne Weber Orte wie Le Bourget, La Courneuve, Aulnay-sous-Bois und Bobigny bei ihren über insgesamt 600 Kilometer weiten Wanderungen, die sie mit ihrem algerischstämmigen Freund, dem Filmemacher Thierry, dort unternimmt. Dieser wird zu ihrem Promenadengefährten, der sich qua Herkunft wie so viele der Vororteinwohner "Entre deux ailleurs", zwischen zwei Woanders, nicht ganz zu Hause fühlt und deshalb der perfekte Führer durch die "Cités" und ihr Umland ist: Ein Universum aus Sozialwohnungstürmen, Schrottbergen, endlosen Schienenwegen und Straßen ohne jeden Menschen - dazwischen die Rufe der Chouffeurs, der Drogenkuriere. Eine Oase inmitten der so fremd wirkenden Welt des Banlieue-Durcheinanders findet das Duo in einem Café, das ein Safe Space für mehr oder minder traurige Gestalten ist. Hierher zieht es die mit scharfem soziologischen Blick ausgestattete Autorin und ihren Freund zu einer Art teilnehmenden Beobachtung immer wieder zurück: Hier sitzt die Krankenschwester über einem Rosé mit ihrem Kreuzworträtsel neben einem Halbstummen, einem Ganzstummen und einem Mann, der sich Rotwein direkt in den Magen spritzt. Ein hinreißendes Buch ohne den üblichen Paris-Zuckerguss und eine literarische Einladung, die Stadt jenseits von Marais und Champs-Élysées zu erkunden. STEFANIE VON WIETERSHEIM
Anne Weber: "Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen". Matthes & Seitz, Berlin 2024, 301 Seiten, 25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.