Produktdetails
- Verlag: DENOEL & D'AILLEURS
- ISBN-13: 9782207253496
- Artikelnr.: 59572651
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Alltagsdinge einmal anders betrachtet
Der Ich-Erzähler leidet an Neurodermitis und Impotenz und alle anderen Helden dieses Romans haben auch irgendwelche Leiden und Eigenheiten. Trotz dieser "Wie du und ich"-Normalitäten bleibt die Geschichte auf Distanz, berührt nicht. Die Sprache ist zu geschliffen, wie in der Deutschstunde, kein Wort doppelt, es wimmelt von gewählten Ausdrücken, die banale Dinge beschreiben. So können auch die wirklich poetischen Sätze nicht glänzen. Es fehlt die tragende Handlung. Eher einem Roadmovie gleichend, läuft der Protagonist von Figur zu Figur und der Leser fragt sich, was will er eigentlich.
Ein Buch das sich aber trotz allem eignet, es mal zwischendurch auf irgendeiner Seite aufzuschlagen, um die Alltagsdinge anders zu betrachten.
(K. Ara, www.krimi-forum.de)
Der Ich-Erzähler leidet an Neurodermitis und Impotenz und alle anderen Helden dieses Romans haben auch irgendwelche Leiden und Eigenheiten. Trotz dieser "Wie du und ich"-Normalitäten bleibt die Geschichte auf Distanz, berührt nicht. Die Sprache ist zu geschliffen, wie in der Deutschstunde, kein Wort doppelt, es wimmelt von gewählten Ausdrücken, die banale Dinge beschreiben. So können auch die wirklich poetischen Sätze nicht glänzen. Es fehlt die tragende Handlung. Eher einem Roadmovie gleichend, läuft der Protagonist von Figur zu Figur und der Leser fragt sich, was will er eigentlich.
Ein Buch das sich aber trotz allem eignet, es mal zwischendurch auf irgendeiner Seite aufzuschlagen, um die Alltagsdinge anders zu betrachten.
(K. Ara, www.krimi-forum.de)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2001Ein Günstling der Dämonen
Tausend Textumdrehungen in der Minute: Kraftvoll pflügt Georg Klein mit seinem Detektivroman "Barbar Rosa" durch das Berlin unserer Spätantike
Wer glaubt, daß man gute Bücher mit allen Sinnen und nicht nur mit den Augen in sich aufnimmt, sollte die Lektüre dieses Romans nicht beginnen, ohne eine Wäscheklammer für seine Nase bereitgelegt zu haben. Denn von diesen Seiten steigt eine Duftwolke auf, die nicht jedermann behagen dürfte. Es ist eine Mischung, die den Atem verschlägt: Brav und bieder riecht es nach Pfefferminze, Hagebutte und Kamille, kindlich süß und unschuldig betörend nach Vanillepudding, streng, aber noch nicht unangenehm verströmen Farben, Lacke und Klebstoffe ihre Aromen, unerträglich scharf und beißend schließlich steigen dem Leser die Düfte menschlicher Ausscheidungen in die Nase, die eklen Ausdünstungen von Fäulnis, Schimmel und Verwesung.
Es gibt Seiten in diesem Buch, in denen es wie unter den alten Brücken der Vorstädte riecht, und man liest sie mit demselben Gefühl, mit dem man als Kind durch schlecht beleuchtete Bahnhofsunterführungen schlich: überwach, die Ohren zwischen die Schultern gezogen und mit jenem Kribbeln der Kopfhaut, das die Bereitschaft der Haare signalisiert, sich vor Entsetzen steil aufzurichten. Um es mit einem Wort zu sagen: "Barbar Rosa", der neue Roman von Georg Klein, ist nicht ganz geheuer.
Das hat viele Gründe, und der üble Duft ist nur einer davon. Ein anderer: Es spukt in diesem Buch, das sich zwar "Detektivgeschichte" nennt, aber oft an eine Séance erinnert, zu der sich Besucher aus einer anderen Welt eingefunden haben, gebetene wie ungebetene Gäste. Nie weiß man, wer als nächster das Wasserglas über die Tischplatte wandern läßt, Thomas Pynchon oder E. T. A. Hoffmann, Joseph Goebbels oder Christoph Schlingensief.
Das Leintuch, das sich der Autor über den Kopf geworfen hat, um seine Leser wohlig zu erschrecken, ist schwarz von zahllosen Buchstaben, denn auf ihm sind Kleins Lesefrüchte verzeichnet. Mit ihrer Hilfe wird ein virtuoses Spiel getrieben: spöttisch, ironisch, ehrfürchtig, witzig, kindisch und gelehrt. Daß ihm der Leser nicht verlorengeht, auch wenn er der literarischen Bildung des Autors längst nicht immer folgen kann, dafür hat Klein Sorge getragen. Der Schriftsteller, der sich selbst als "Spannungsleser" bezeichnet, ist auch in seinem dritten Buch ein "Spannungsschreiber" geblieben: Man brauchte schon einen sehr langen Atem, um alle Anspielungen dieses Buches zu entschlüsseln, aber man hält den Atem an, solange man es liest.
Nach dem Agentenroman "Libidissi (1998) und dem Erzählungsband "Anrufung der blinden Fische" der dem Debüt im Abstand eines Jahres folgte, hat Georg Klein, der 1953 in Augsburg geboren wurde und heute in Ostfriesland und Berlin lebt, jetzt sein bislang bestes Buch vorgelegt. "Barbar Rosa" ist ein Roman, der einer Schlange gleicht: giftig, gefährlich, tückisch, schnell. Und zugleich sind dieses Buch und seine Sprache von großer Schönheit, hoher Anmut, Beweglichkeit und Eleganz. Unter den deutschen Autoren der Gegenwart ist Georg Klein zu Zeit die schillerndste Figur, und mit seinem dritten Buch erweist er sich endgültig als Meister der Metamorphose: Die Lektüre seines Romans "Barbar Rosa" wird zwar nicht alle Anhänger des Detektivromans in Philologen verwandeln, aber sie dürfte so manchen Philologen für den Detektivroman gewinnen.
Es beginnt mit einem Auftrag. Mühler, Detektiv und "Außendienstmitarbeiter", eine verkrachte Existenz, ehemaliger Suchtkranker, Opfer eines bizarren Unfalls, ein Mann, der weder liest noch fernsieht, erhält einen Anruf und wenig später detaillierte Informationen über einen vermißten Geldtransporter, den es wiederzubeschaffen gilt. Das Auto wurde nicht ausgeraubt, sondern ist mitsamt Fahrern und Transportgut spurlos verschwunden. Über die erbeutete Geldmenge macht Hannsi, der Auftraggeber, Mühlers ehemaliger Schulgefährte und mittlerweile Kopf einer ominösen, offenbar allmächtigen "Verwaltung" , widersprüchliche Angaben. Zwar sei die Summe - am "Ganzen der Geschäfte" gemessen - nicht der Rede wert, andererseits handle es sich um einen Betrag, der "für jedes aufgeklärte Ohr barbarisch" klinge.
Kaum hat er das Büro seines Auftraggebers verlassen, wird Mühler selbst zum Opfer eines Überfalls. Eine Horde Jugendlicher stiehlt ihm sein grünes "Arbeitssakko", das er einst im Geheimfach eines roten Polstersessels fand, den er vor dem Sperrmüll gerettet hatte. Seitdem ist der Anzug seine Dienst- und Arbeitsuniform, Ausweis seiner Professionalität. Daß Mühler zum Leben erst erwacht, wenn er einen Auftrag erhält, daß der Privatmann Mühler eine Lemurenexistenz ist, daß die ganze Stadt nur atmet, weil sie arbeitet und allein der Beruf Identität verleiht, wird im Verlauf des Romans mehr als einmal angedeutet. Mühler fühlt sich in seiner Haut erst wohl, wenn diese in dem grünen Sakko steckt, und so fügt dessen Verlust der langen Reihe der Behinderungen dieses somnambulen Ermittlers nur eine weitere hinzu. Das rote Jäckchen, das er im Gegenzug vom kleinsten, schmächtigsten der jugendlichen Straßenräuber erhält, hilft da wenig: Mühler, begriffsstutzig, impotent, überdies von einem schweren allergischen Ausschlag geplagt, ist von Anbeginn des Falls nicht im Vollbesitz seiner Kräfte.
Aber das ist nicht weiter schlimm, denn Mühler vertraut dem Schicksal und anderen unberechenbaren Kräften: Als ergebener Jünger des Zufalls huldigt der Detektiv der Überzeugung, daß die Welt nicht entschlüsselt werden kann, sich aber dem zu offenbaren weiß, der sich ihr bescheiden nähert: "Die Demut, die es braucht, um unserer Ordnung und der Üppigkeit der Welt gerecht zu werden, versuche ich im Laufe jedes Auftrags durch eine höhere Blödigkeit des Vorwärtsstolperns zu erringen."
Die höhere Blödigkeit des Detektivs ist, wie sich später zeigt, nichts anderes als die Inspiration des romantischen Dichters, dem sich die Worte schon fügen werden, wenn ihn die Muse nur recht küßt. Wo Eichendorff ein Lied in allen Dingen vermutete, erhofft sich Mühler, der verstandesmüde Antiaufklärer, stets die heiße Spur, das aussagekräftige Indiz auf allen seinen Wegen. Aber welche Muse verrät das Zauberwort, das jede Fährte sprechen läßt?
Zunächst lernen wir ihre Kuppler kennen, Lionel und Arnold Ilbich, eine Art Zuhälterbrüderpaar, das in einem aufgegebenen Parkhaus seiner Profession nachgeht: "Beide schauen mit wäßrigen Augen in ihr gemeinsames Geschäft, auf Material und Kunden. Die schweren Lider zeigen ein Netzwerk roter und blauer Äderchen. Ihre Münder sind ungewöhnlich groß, mit dicken, aber blutarm grauen Lippen. Die Brüder sprechen ein überklares, fehlerfreies Deutsch, allein gewisse Altertümlichkeiten seiner Syntax und das Knallen einiger Konsonanten verraten, daß es in der Fremde, gut tausend Kilometer östlich unserer Stadt, erworben ist."
Hier, in "Ilbichs Gebrauchttextfundus", einem Warenlager für Bedrucktes aller Art, von Comics über Zeitschriften, Kataloge, Gebrauchsanweisungen, Prospekte, Broschüren bis hin zu Briefen und Geschäftskorrespondenzen, pflegt Mühler sich mit Material zu versorgen, das ihm den Weg durchs Dickicht der Ermittlungen weisen soll. Er erhält einen russischen Comic, eine Detektivgeschichte über einen kantigen Kollegen im "enggegürteten Regenmantel", der einen im Hafenbecken versunkenen gepanzerten Geldtransporter aufspürt, sowie das Betriebshandbuch eines kuriosen Vehikels, des Janus-Dreiradtransporters. Der Januskopf zählt zu den zentralen Motiven dieses ins Spiel verliebten Buches. Die zunächst wichtigste Spur bietet jedoch ein Visitenkärtchen, das der Detektiv beim ersten Durchforsten des Materials womöglich übersehen hatte: Es verweist auf Rosenmund Hitzik, einen der beiden Hitzik-Brüder, die vor dem Krieg mit Gold, Schmuck, Münzen und Krediten Geschäfte gemacht und ein Pfandleihhaus sowie einen Geld-Kurierdienst betrieben hatten.
Erst viele Wendungen später bestätigt sich der Verdacht, daß die Ilbich-Brüder und die Hitzik-Zwillinge identisch oder die einen zumindest Nachfahren oder Wiedergänger der anderen sind. Aber damit ist das Spiel der Namen und Identitäten längst nicht ausgespielt. Denn Hitzig ist auch der Name eines wichtigen Gebrauchttexthändlers der Romantik: Julius Eduard Hitzig war Verleger, Schriftsteller und Jurist. Er machte E. T. A. Hoffmann, dessen erste Biographie er schreiben sollte, mit den Werken der Frühromantik bekannt, gründete in Berlin die literarische Mittwochsgesellschaft und die Berliner Abendblätter, über denen er sich mit Kleist entzweite. In manchen Lexika wird Hitzig, der bis zu seiner Konversion im neunzehnten Lebensjahr Elias Isaak Itzig hieß, auch als Kriminalist geführt, denn der preußische Beamte hat zusammen mit Wilhelm Häring den "Neuen Pitaval" herausgegeben, eine zwölfbändige "Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus ältester und neuerer Zeit". Der Brieffreund von Chamisso und Fouqué als Ahnherr der Ilbichs und Schutzpatron dieses Spiels mit der romantischen Literaturtradition, das wäre eine hübsche Pointe. Aber Klein hat die Genealogie gebrochen. Denn während Hitzig einer Berliner Familie entstammte, zu der auch der Hofbankier Friedrichs II. gehörte, stammen seine Hitziks/Ilbichs erkennbar aus Osteuropa, sind also Angehörige jenes Ostjudentums, das im Zuge von Hitlers "Plan Barbarossa", der den Angriffskrieg gegen die Sowjetunion entwarf, nahezu vollständig ausgelöscht wurde.
Das Dritte Reich, der Zweite Weltkrieg, Zuwanderer aus dem Osten, "dunkelhäutige" Frauen, "beschnittene" Männer, die doppelte Anspielung des Buchtitels auf den Stauferkaiser sowie auf Hitlers Rußland-Feldzug und den barbarischen "Barbarossa-Erlaß", der die Militärgerichtsbarkeit aufhob und zum Freibrief für Ausschreitungen und Massaker in den besetzten Teilen Rußlands wurde, all dies rückt Kleins Detektivgeschichte aus dem literarisch-spielerischen in einen historisch-politischen Kontext. Als Bindeglied fungiert die von den Nationalsozialisten mißbrauchte romantische Dichtung mit ihrer Erlösungssehnsucht und ihrem utopischen Gehalt, der ins Barbarische gewendet wurde. Aber das Dritte Reich ist nur ein fernes Zitat. Deutlicher als noch in "Libidissi" ist diesmal unsere Gegenwart Schauplatz des Geschehens. Meisterhaft versteht es Klein, eine Atmosphäre zu erzeugen, in der sich die Zeitebenen mischen: Gegenwartssymbole, archaisierende Wendungen und dystopische Elemente erzeugen beim Leser die Vorstellung einer unbestimmten post-apokalyptischen Zukunft, die uns erst hautnah an der Jetztzeit erscheint, dann wieder weit von ihr entfernt. Georg Klein spielt mit dem Zeitpfeil wie mit einem Rechenschieber.
Jene Hauptstadt, die namenlos bleibt, im Verlauf des Romans aber immer deutlicher als Berlin erkennbar wird, ist eine degenerierte Metropole: In den Elendsvierteln lungern Suchtkranke auf den Straßen herum, sogenannte Sucko-Trinker, die sich einem in Hinterhofküchen gebrauten Alkoholverstärker namens Sucko hingeben. Aus dem Osten haben Zuwanderungen in großem Ausmaß stattgefunden, die Stadt wird als Metropole der Arbeit bezeichnet, aber die Straßen, durch die Klein seinen Ermittler schickt, sind stets menschenleer. Jede einzelne Figur des Romans hat auf ihre Weise mit dem Fall zu tun, alle sind sie Bestandteil eines großen Dramas, das ohne Statisterie auskommt: Es gibt kein Volk, keine Passanten, keine unbeteiligten Zuschauer. Kleins Berlin ist eine Kulisse mit post-apokalyptischer Atmosphäre, ein leer geräumtes deutsches Rom der späten Kaiserzeit, das auf die Ankunft des Barbaren wartet. Was er verheißt, ist Erneuerung oder Untergang, in jedem Falle Wandel der Kultur.
Durch diese Endzeitstimmung taumelt Mühler als Agent der alten Ordnung, die ihm längst fremd geworden ist. Daß er, kaum hatte er den Auftrag entgegengenommen, bereits zum Spielball und Werkzeug anderer Interessen geworden war, bleibt ihm verborgen.
Die jugendlichen Straßenräuber, die ihn seiner Arbeitsjacke beraubt hatten, sind ebenso wie Kurti, der einzige Freund des Detektivs, Söldner und Gehilfen Bertinis, jenes Künstlers, dem Mühler auf der Spur ist, ohne es zu wissen. Denn der Geldtransporter, dessen Verschwinden Mühler aufklären soll, ist nicht von Gangstern überfallen worden, sondern einem Künstler in den Schoß gefallen. Bertini fand den Wagen nach einem Unglücksfall, der die Fahrerkabine versengte, den Laderaum aber weitgehend unversehrt gelassen hatte: Ein Militärflugzeug war über der Stadt abgestürzt, die Piloten wollten in einem Kanal notlanden und die Maschine war wie ein brennender Torpedo über die.
Fortsetzung auf der nächsten Seite.
Wasserstraße geschossen, vorbei an dem Geldtransporter und seinen Fahrern, deren verkohlte Leichen Bertini, der Meister der kosmetischen Selbst- und Fremdgestaltung, konserviert, um sie zum Bestandteil jener Performance zu machen, die Ziel- und Schlußpunkt des Romans ist.
Bertini, dessen Name seine Profession als Illusionist, Varieté-Artist und Verwandlungskünstler verrät, ist wie Jeff Koons dem Körper als Kunstobjekt verfallen und arbeitet wie Andy Warhol in einer Lebens-, Kunst- und Auftragsgemeinschafts. Seine "factory" befindet sich in einem alten Schwimmbad, wo Mühler schließlich den Geldtransporter aufspürt und ein langgezogenes, fulminantes Finale seinen Anfang nimmt. Aber lange bevor es soweit ist, erinnert sich Mühler an seine erste Begegnung mit dem Künstler.
Wie der späte Christoph Schlingensief wählte der frühe Bertini die U-Bahn als mobile Galerie und Schauplatz seiner Darbietungen: "Bertini setzte sich auf die Bank mir gegenüber, und während alle in meiner Reihe sich vergeblich mühten, an seinem riesigen Riechorgan vorbeizusehen, begann er seine breiten, von feuerroten Pusteln bedeckten Nasenflügel zu betasten, versuchte schließlich den prallsten Pickel mit den Daumennägeln auszudrücken. Obwohl die U-Bahn lautstark rüttelnd durch eine Kurve fuhr, platzte die Pustel hörbar auf. Sofort nach diesem ploppenden Geräusch floß grünliche Flüssigkeit über Bertinis Nasenspitze. Der Eiter tropfte ihm auf Kinn und Brust, schleimte in einer Menge aus dem Pickelloch, die seinem Ursprung gar nicht angemessen war - und eben dieses übertriebene Maß des eklen Flusses verhinderte, zusammen mit der Größe unseres Ekels, daß wir, die Fahrtgenossen, an der Erscheinung Echtheit zweifeln konnten." In dieser kleinen Szene verbirgt sich die romantische Theorie von der ästhetischen Wirkung des Ekels, dessen unmittelbarer Reiz so stark ist, daß er dem Betrachter nicht erlaubt, zwischen Sein und Schein zu unterscheiden. Und nur dem Eingeweihten wird bewußt, daß Bertinis Nase ein Requisit aus der Maskenbildnerei und seine Eiterspiele ein Kunstwerk waren.
Die Schattenseite von Bertinis Körperkunst verkörpert Kurti. Das schmächtige Bürschlein, eine langwimprige, feminine Erscheinung, der große erotische Verführungskraft nachgesagt wird, ist noch immer, was Mühler, der Sucko-Süffler, einmal war, ein Suchtkranker nämlich, ein Gefangener seines Lasters. Nun muß die Wäscheklammer sich bewähren: Denn Kurtis fatale Leidenschaft gilt weiblichem Urin, und als Lieferantinnen bevorzugt Bertinis Gehilfe Damen möglichst fortgeschrittenen Alters. Das ist an Unappetitlichkeit kaum noch zu überbieten, aber ist es skandalös?
Man muß kein Hellseher sein, um zu wissen, daß Georg Klein sich mit diesem Roman den Vorwurf der Effekthascherei mit ausgesuchten Geschmacklosigkeiten, der kruden Spekulation mit dem starken Affekt des Ekels zuziehen wird. Gegen Kurtis Aromen können die Puddingsüße des Sucko und die Heildüfte von Mühlers Ersatzdroge, dem grünen, stark übersüßten Kräutertrunk, nicht ankommen: der sanfte Kurti, der sein Laster mit Goebbels teilt und zuletzt auch hinkt wie Hitlers Minister, wird mehr als einen Leser in die Flucht schlagen.
Ekel, Barbarei, die Farben Grün und Rosa, der Osten, der Januskopf - es gibt eine ganze Reihe von Schlüsselwörtern in diesem hochkomplexen Text, der gleich drei Literaturepochen zur Zielscheibe seines Ehrgeizes macht: die Aufklärung, die verhöhnt, die Romantik, die nachsichtig und liebevoll zitiert, die Postmoderne, der nicht ohne Widerwillen gehuldigt wird. Kleins angeblicher Detektivroman ist eine postmodernistische Gespenstergeschichte in der romantischen Tradition der phantastischen Erzählung und der Künstlernovelle. Kurtis Laster, Mühlers Vorliebe für Schmuddelsex, die fellinesk-abstoßenden Frauenfiguren Hellas und ihrer Freundin, Bertinis Eiterfontänen, eine Atmosphäre, in der alles Geschlechtliche einen morbiden, dekadenten oder perversen Reiz verströmt - all dies erinnert an den bizarren, todesverliebten und todessüchtigen Eros, den wir aus Pynchons großem Roman "Die Enden der Parabel" kennen. Und natürlich ist der Absturz des Militärflugzeugs eine Reverenz an Pynchon, der im London der Kriegsjahre immer dort eine V2-Rakte einschlagen läßt, wo der amerikanische Leutnant Slothrop gerade mit einer Frau im Bett liegt.
Ein Autor von Kleins Belesenheit läuft stets Gefahr, zum blindwütig schuftenden Maschinisten einer Anspielungs- und Zitiermaschine zu werden, die mit enormer Textumdrehungszahl arbeitet, aber außer schwarzem Buchstabendampf nicht viel produziert. Daß Klein sich dieser Gefahr bewußt ist, zeigt nicht nur der Umfang seines Roman, sondern auch die strenge Disziplin seiner Konzeption, die auf zweihundert Seiten kein Gramm Fett zuläßt und jeden der zahllosen Handlungsfäden bis zum Schluß im Blick behält. Das ist das Paradoxe dieses Buches: Es ist durch und durch verspielt, hat aber nichts Tändelndes. Klein ist ein disziplinierter, kraftvoller Choreograph düsterer Tänze, ein Günstling der Dämonen. Sein Roman ist streng und spielerisch zugleich, verrätselt und unterhaltsam, abstoßend und anziehend.
Im Finale, wenn Bertini schließlich nackt auf dem Dach des mit rosa gesprenkelten Geldscheinen geschmückten Transporters durch die Stadt fährt, steht der Barbar auf dem Triumphwagen und wirft in Streifen geschnittene Banknoten auf die Straßen wie einst die Herrscher Roms Gold unters Volk warfen. Aber es gibt kein Volk, und zu Füßen des Künstlers liefern sich seine Gehilfen mit zufällig vorbeifahrenden Suckofahndern eine Straßenschlacht, die auch den Detektiv nicht ungeschoren läßt. Denn Mühler, der vom Jäger zum Komplizen geworden ist, sitzt am Steuer des Fahrzeugs, und der Medienabstinenzler sieht durch einen Monitor im Führerhaus des Wagens, was sich auf der Straße abspielt.
Als während des Kampfs der Monitor erlischt, zeigt sich im blinden Glas zum ersten Mal, was den ganzen Roman über zuvor unsichtbar geblieben war: das Gesicht des Detektivs. Es ist ein weißes, von den Strapazen des Auftrags gänzlich ausgezehrtes Antlitz, über dem "glatt und totenmaskenhart" die Haut sich spannt: "Entsetzt fletschte das Bild vor mir die Zähne, die Lippen rutschten weit übers Gesicht, sogar das Zahnfleisch schien schon zurückgewichen, und zwischen langhalsigen Hauern torkelte eine dicke Zunge, deren schlammiger Belag eine eigene schlingernde Bewegung zu vollziehen schien. Ich glaubte zu erkennen, daß die mobile Schicht aus aufgeweichter, halbzerkauter Papiermasse bestand. Sogar einzelne Lettern, halbe Wörter konnte ich entziffern, es war, als hätte ich ein Blatt aus einem Buch zerbissen und dann vergessen, es hinabzuschlucken."
Mit diesem Selbstporträt des Autors als ausgemergelter Wilder und literarischer Barbar, dem die Lektüre in großen Bissen unzerkaut noch auf der Zunge liegt, endet dieses Buch: mit einer Bescheidenheitsgeste all jenen Texten, Werken und Autoren gegenüber, die Georg Klein in Stücke gerissen hat, um aus ihren Fetzen etwas neues zu erschaffen: einen großen Roman.
Georg Klein: "Barbar Rosa. Eine Detektivgeschichte". Alexander Fest Verlag, Berlin 2001. 203 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tausend Textumdrehungen in der Minute: Kraftvoll pflügt Georg Klein mit seinem Detektivroman "Barbar Rosa" durch das Berlin unserer Spätantike
Wer glaubt, daß man gute Bücher mit allen Sinnen und nicht nur mit den Augen in sich aufnimmt, sollte die Lektüre dieses Romans nicht beginnen, ohne eine Wäscheklammer für seine Nase bereitgelegt zu haben. Denn von diesen Seiten steigt eine Duftwolke auf, die nicht jedermann behagen dürfte. Es ist eine Mischung, die den Atem verschlägt: Brav und bieder riecht es nach Pfefferminze, Hagebutte und Kamille, kindlich süß und unschuldig betörend nach Vanillepudding, streng, aber noch nicht unangenehm verströmen Farben, Lacke und Klebstoffe ihre Aromen, unerträglich scharf und beißend schließlich steigen dem Leser die Düfte menschlicher Ausscheidungen in die Nase, die eklen Ausdünstungen von Fäulnis, Schimmel und Verwesung.
Es gibt Seiten in diesem Buch, in denen es wie unter den alten Brücken der Vorstädte riecht, und man liest sie mit demselben Gefühl, mit dem man als Kind durch schlecht beleuchtete Bahnhofsunterführungen schlich: überwach, die Ohren zwischen die Schultern gezogen und mit jenem Kribbeln der Kopfhaut, das die Bereitschaft der Haare signalisiert, sich vor Entsetzen steil aufzurichten. Um es mit einem Wort zu sagen: "Barbar Rosa", der neue Roman von Georg Klein, ist nicht ganz geheuer.
Das hat viele Gründe, und der üble Duft ist nur einer davon. Ein anderer: Es spukt in diesem Buch, das sich zwar "Detektivgeschichte" nennt, aber oft an eine Séance erinnert, zu der sich Besucher aus einer anderen Welt eingefunden haben, gebetene wie ungebetene Gäste. Nie weiß man, wer als nächster das Wasserglas über die Tischplatte wandern läßt, Thomas Pynchon oder E. T. A. Hoffmann, Joseph Goebbels oder Christoph Schlingensief.
Das Leintuch, das sich der Autor über den Kopf geworfen hat, um seine Leser wohlig zu erschrecken, ist schwarz von zahllosen Buchstaben, denn auf ihm sind Kleins Lesefrüchte verzeichnet. Mit ihrer Hilfe wird ein virtuoses Spiel getrieben: spöttisch, ironisch, ehrfürchtig, witzig, kindisch und gelehrt. Daß ihm der Leser nicht verlorengeht, auch wenn er der literarischen Bildung des Autors längst nicht immer folgen kann, dafür hat Klein Sorge getragen. Der Schriftsteller, der sich selbst als "Spannungsleser" bezeichnet, ist auch in seinem dritten Buch ein "Spannungsschreiber" geblieben: Man brauchte schon einen sehr langen Atem, um alle Anspielungen dieses Buches zu entschlüsseln, aber man hält den Atem an, solange man es liest.
Nach dem Agentenroman "Libidissi (1998) und dem Erzählungsband "Anrufung der blinden Fische" der dem Debüt im Abstand eines Jahres folgte, hat Georg Klein, der 1953 in Augsburg geboren wurde und heute in Ostfriesland und Berlin lebt, jetzt sein bislang bestes Buch vorgelegt. "Barbar Rosa" ist ein Roman, der einer Schlange gleicht: giftig, gefährlich, tückisch, schnell. Und zugleich sind dieses Buch und seine Sprache von großer Schönheit, hoher Anmut, Beweglichkeit und Eleganz. Unter den deutschen Autoren der Gegenwart ist Georg Klein zu Zeit die schillerndste Figur, und mit seinem dritten Buch erweist er sich endgültig als Meister der Metamorphose: Die Lektüre seines Romans "Barbar Rosa" wird zwar nicht alle Anhänger des Detektivromans in Philologen verwandeln, aber sie dürfte so manchen Philologen für den Detektivroman gewinnen.
Es beginnt mit einem Auftrag. Mühler, Detektiv und "Außendienstmitarbeiter", eine verkrachte Existenz, ehemaliger Suchtkranker, Opfer eines bizarren Unfalls, ein Mann, der weder liest noch fernsieht, erhält einen Anruf und wenig später detaillierte Informationen über einen vermißten Geldtransporter, den es wiederzubeschaffen gilt. Das Auto wurde nicht ausgeraubt, sondern ist mitsamt Fahrern und Transportgut spurlos verschwunden. Über die erbeutete Geldmenge macht Hannsi, der Auftraggeber, Mühlers ehemaliger Schulgefährte und mittlerweile Kopf einer ominösen, offenbar allmächtigen "Verwaltung" , widersprüchliche Angaben. Zwar sei die Summe - am "Ganzen der Geschäfte" gemessen - nicht der Rede wert, andererseits handle es sich um einen Betrag, der "für jedes aufgeklärte Ohr barbarisch" klinge.
Kaum hat er das Büro seines Auftraggebers verlassen, wird Mühler selbst zum Opfer eines Überfalls. Eine Horde Jugendlicher stiehlt ihm sein grünes "Arbeitssakko", das er einst im Geheimfach eines roten Polstersessels fand, den er vor dem Sperrmüll gerettet hatte. Seitdem ist der Anzug seine Dienst- und Arbeitsuniform, Ausweis seiner Professionalität. Daß Mühler zum Leben erst erwacht, wenn er einen Auftrag erhält, daß der Privatmann Mühler eine Lemurenexistenz ist, daß die ganze Stadt nur atmet, weil sie arbeitet und allein der Beruf Identität verleiht, wird im Verlauf des Romans mehr als einmal angedeutet. Mühler fühlt sich in seiner Haut erst wohl, wenn diese in dem grünen Sakko steckt, und so fügt dessen Verlust der langen Reihe der Behinderungen dieses somnambulen Ermittlers nur eine weitere hinzu. Das rote Jäckchen, das er im Gegenzug vom kleinsten, schmächtigsten der jugendlichen Straßenräuber erhält, hilft da wenig: Mühler, begriffsstutzig, impotent, überdies von einem schweren allergischen Ausschlag geplagt, ist von Anbeginn des Falls nicht im Vollbesitz seiner Kräfte.
Aber das ist nicht weiter schlimm, denn Mühler vertraut dem Schicksal und anderen unberechenbaren Kräften: Als ergebener Jünger des Zufalls huldigt der Detektiv der Überzeugung, daß die Welt nicht entschlüsselt werden kann, sich aber dem zu offenbaren weiß, der sich ihr bescheiden nähert: "Die Demut, die es braucht, um unserer Ordnung und der Üppigkeit der Welt gerecht zu werden, versuche ich im Laufe jedes Auftrags durch eine höhere Blödigkeit des Vorwärtsstolperns zu erringen."
Die höhere Blödigkeit des Detektivs ist, wie sich später zeigt, nichts anderes als die Inspiration des romantischen Dichters, dem sich die Worte schon fügen werden, wenn ihn die Muse nur recht küßt. Wo Eichendorff ein Lied in allen Dingen vermutete, erhofft sich Mühler, der verstandesmüde Antiaufklärer, stets die heiße Spur, das aussagekräftige Indiz auf allen seinen Wegen. Aber welche Muse verrät das Zauberwort, das jede Fährte sprechen läßt?
Zunächst lernen wir ihre Kuppler kennen, Lionel und Arnold Ilbich, eine Art Zuhälterbrüderpaar, das in einem aufgegebenen Parkhaus seiner Profession nachgeht: "Beide schauen mit wäßrigen Augen in ihr gemeinsames Geschäft, auf Material und Kunden. Die schweren Lider zeigen ein Netzwerk roter und blauer Äderchen. Ihre Münder sind ungewöhnlich groß, mit dicken, aber blutarm grauen Lippen. Die Brüder sprechen ein überklares, fehlerfreies Deutsch, allein gewisse Altertümlichkeiten seiner Syntax und das Knallen einiger Konsonanten verraten, daß es in der Fremde, gut tausend Kilometer östlich unserer Stadt, erworben ist."
Hier, in "Ilbichs Gebrauchttextfundus", einem Warenlager für Bedrucktes aller Art, von Comics über Zeitschriften, Kataloge, Gebrauchsanweisungen, Prospekte, Broschüren bis hin zu Briefen und Geschäftskorrespondenzen, pflegt Mühler sich mit Material zu versorgen, das ihm den Weg durchs Dickicht der Ermittlungen weisen soll. Er erhält einen russischen Comic, eine Detektivgeschichte über einen kantigen Kollegen im "enggegürteten Regenmantel", der einen im Hafenbecken versunkenen gepanzerten Geldtransporter aufspürt, sowie das Betriebshandbuch eines kuriosen Vehikels, des Janus-Dreiradtransporters. Der Januskopf zählt zu den zentralen Motiven dieses ins Spiel verliebten Buches. Die zunächst wichtigste Spur bietet jedoch ein Visitenkärtchen, das der Detektiv beim ersten Durchforsten des Materials womöglich übersehen hatte: Es verweist auf Rosenmund Hitzik, einen der beiden Hitzik-Brüder, die vor dem Krieg mit Gold, Schmuck, Münzen und Krediten Geschäfte gemacht und ein Pfandleihhaus sowie einen Geld-Kurierdienst betrieben hatten.
Erst viele Wendungen später bestätigt sich der Verdacht, daß die Ilbich-Brüder und die Hitzik-Zwillinge identisch oder die einen zumindest Nachfahren oder Wiedergänger der anderen sind. Aber damit ist das Spiel der Namen und Identitäten längst nicht ausgespielt. Denn Hitzig ist auch der Name eines wichtigen Gebrauchttexthändlers der Romantik: Julius Eduard Hitzig war Verleger, Schriftsteller und Jurist. Er machte E. T. A. Hoffmann, dessen erste Biographie er schreiben sollte, mit den Werken der Frühromantik bekannt, gründete in Berlin die literarische Mittwochsgesellschaft und die Berliner Abendblätter, über denen er sich mit Kleist entzweite. In manchen Lexika wird Hitzig, der bis zu seiner Konversion im neunzehnten Lebensjahr Elias Isaak Itzig hieß, auch als Kriminalist geführt, denn der preußische Beamte hat zusammen mit Wilhelm Häring den "Neuen Pitaval" herausgegeben, eine zwölfbändige "Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus ältester und neuerer Zeit". Der Brieffreund von Chamisso und Fouqué als Ahnherr der Ilbichs und Schutzpatron dieses Spiels mit der romantischen Literaturtradition, das wäre eine hübsche Pointe. Aber Klein hat die Genealogie gebrochen. Denn während Hitzig einer Berliner Familie entstammte, zu der auch der Hofbankier Friedrichs II. gehörte, stammen seine Hitziks/Ilbichs erkennbar aus Osteuropa, sind also Angehörige jenes Ostjudentums, das im Zuge von Hitlers "Plan Barbarossa", der den Angriffskrieg gegen die Sowjetunion entwarf, nahezu vollständig ausgelöscht wurde.
Das Dritte Reich, der Zweite Weltkrieg, Zuwanderer aus dem Osten, "dunkelhäutige" Frauen, "beschnittene" Männer, die doppelte Anspielung des Buchtitels auf den Stauferkaiser sowie auf Hitlers Rußland-Feldzug und den barbarischen "Barbarossa-Erlaß", der die Militärgerichtsbarkeit aufhob und zum Freibrief für Ausschreitungen und Massaker in den besetzten Teilen Rußlands wurde, all dies rückt Kleins Detektivgeschichte aus dem literarisch-spielerischen in einen historisch-politischen Kontext. Als Bindeglied fungiert die von den Nationalsozialisten mißbrauchte romantische Dichtung mit ihrer Erlösungssehnsucht und ihrem utopischen Gehalt, der ins Barbarische gewendet wurde. Aber das Dritte Reich ist nur ein fernes Zitat. Deutlicher als noch in "Libidissi" ist diesmal unsere Gegenwart Schauplatz des Geschehens. Meisterhaft versteht es Klein, eine Atmosphäre zu erzeugen, in der sich die Zeitebenen mischen: Gegenwartssymbole, archaisierende Wendungen und dystopische Elemente erzeugen beim Leser die Vorstellung einer unbestimmten post-apokalyptischen Zukunft, die uns erst hautnah an der Jetztzeit erscheint, dann wieder weit von ihr entfernt. Georg Klein spielt mit dem Zeitpfeil wie mit einem Rechenschieber.
Jene Hauptstadt, die namenlos bleibt, im Verlauf des Romans aber immer deutlicher als Berlin erkennbar wird, ist eine degenerierte Metropole: In den Elendsvierteln lungern Suchtkranke auf den Straßen herum, sogenannte Sucko-Trinker, die sich einem in Hinterhofküchen gebrauten Alkoholverstärker namens Sucko hingeben. Aus dem Osten haben Zuwanderungen in großem Ausmaß stattgefunden, die Stadt wird als Metropole der Arbeit bezeichnet, aber die Straßen, durch die Klein seinen Ermittler schickt, sind stets menschenleer. Jede einzelne Figur des Romans hat auf ihre Weise mit dem Fall zu tun, alle sind sie Bestandteil eines großen Dramas, das ohne Statisterie auskommt: Es gibt kein Volk, keine Passanten, keine unbeteiligten Zuschauer. Kleins Berlin ist eine Kulisse mit post-apokalyptischer Atmosphäre, ein leer geräumtes deutsches Rom der späten Kaiserzeit, das auf die Ankunft des Barbaren wartet. Was er verheißt, ist Erneuerung oder Untergang, in jedem Falle Wandel der Kultur.
Durch diese Endzeitstimmung taumelt Mühler als Agent der alten Ordnung, die ihm längst fremd geworden ist. Daß er, kaum hatte er den Auftrag entgegengenommen, bereits zum Spielball und Werkzeug anderer Interessen geworden war, bleibt ihm verborgen.
Die jugendlichen Straßenräuber, die ihn seiner Arbeitsjacke beraubt hatten, sind ebenso wie Kurti, der einzige Freund des Detektivs, Söldner und Gehilfen Bertinis, jenes Künstlers, dem Mühler auf der Spur ist, ohne es zu wissen. Denn der Geldtransporter, dessen Verschwinden Mühler aufklären soll, ist nicht von Gangstern überfallen worden, sondern einem Künstler in den Schoß gefallen. Bertini fand den Wagen nach einem Unglücksfall, der die Fahrerkabine versengte, den Laderaum aber weitgehend unversehrt gelassen hatte: Ein Militärflugzeug war über der Stadt abgestürzt, die Piloten wollten in einem Kanal notlanden und die Maschine war wie ein brennender Torpedo über die.
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Wasserstraße geschossen, vorbei an dem Geldtransporter und seinen Fahrern, deren verkohlte Leichen Bertini, der Meister der kosmetischen Selbst- und Fremdgestaltung, konserviert, um sie zum Bestandteil jener Performance zu machen, die Ziel- und Schlußpunkt des Romans ist.
Bertini, dessen Name seine Profession als Illusionist, Varieté-Artist und Verwandlungskünstler verrät, ist wie Jeff Koons dem Körper als Kunstobjekt verfallen und arbeitet wie Andy Warhol in einer Lebens-, Kunst- und Auftragsgemeinschafts. Seine "factory" befindet sich in einem alten Schwimmbad, wo Mühler schließlich den Geldtransporter aufspürt und ein langgezogenes, fulminantes Finale seinen Anfang nimmt. Aber lange bevor es soweit ist, erinnert sich Mühler an seine erste Begegnung mit dem Künstler.
Wie der späte Christoph Schlingensief wählte der frühe Bertini die U-Bahn als mobile Galerie und Schauplatz seiner Darbietungen: "Bertini setzte sich auf die Bank mir gegenüber, und während alle in meiner Reihe sich vergeblich mühten, an seinem riesigen Riechorgan vorbeizusehen, begann er seine breiten, von feuerroten Pusteln bedeckten Nasenflügel zu betasten, versuchte schließlich den prallsten Pickel mit den Daumennägeln auszudrücken. Obwohl die U-Bahn lautstark rüttelnd durch eine Kurve fuhr, platzte die Pustel hörbar auf. Sofort nach diesem ploppenden Geräusch floß grünliche Flüssigkeit über Bertinis Nasenspitze. Der Eiter tropfte ihm auf Kinn und Brust, schleimte in einer Menge aus dem Pickelloch, die seinem Ursprung gar nicht angemessen war - und eben dieses übertriebene Maß des eklen Flusses verhinderte, zusammen mit der Größe unseres Ekels, daß wir, die Fahrtgenossen, an der Erscheinung Echtheit zweifeln konnten." In dieser kleinen Szene verbirgt sich die romantische Theorie von der ästhetischen Wirkung des Ekels, dessen unmittelbarer Reiz so stark ist, daß er dem Betrachter nicht erlaubt, zwischen Sein und Schein zu unterscheiden. Und nur dem Eingeweihten wird bewußt, daß Bertinis Nase ein Requisit aus der Maskenbildnerei und seine Eiterspiele ein Kunstwerk waren.
Die Schattenseite von Bertinis Körperkunst verkörpert Kurti. Das schmächtige Bürschlein, eine langwimprige, feminine Erscheinung, der große erotische Verführungskraft nachgesagt wird, ist noch immer, was Mühler, der Sucko-Süffler, einmal war, ein Suchtkranker nämlich, ein Gefangener seines Lasters. Nun muß die Wäscheklammer sich bewähren: Denn Kurtis fatale Leidenschaft gilt weiblichem Urin, und als Lieferantinnen bevorzugt Bertinis Gehilfe Damen möglichst fortgeschrittenen Alters. Das ist an Unappetitlichkeit kaum noch zu überbieten, aber ist es skandalös?
Man muß kein Hellseher sein, um zu wissen, daß Georg Klein sich mit diesem Roman den Vorwurf der Effekthascherei mit ausgesuchten Geschmacklosigkeiten, der kruden Spekulation mit dem starken Affekt des Ekels zuziehen wird. Gegen Kurtis Aromen können die Puddingsüße des Sucko und die Heildüfte von Mühlers Ersatzdroge, dem grünen, stark übersüßten Kräutertrunk, nicht ankommen: der sanfte Kurti, der sein Laster mit Goebbels teilt und zuletzt auch hinkt wie Hitlers Minister, wird mehr als einen Leser in die Flucht schlagen.
Ekel, Barbarei, die Farben Grün und Rosa, der Osten, der Januskopf - es gibt eine ganze Reihe von Schlüsselwörtern in diesem hochkomplexen Text, der gleich drei Literaturepochen zur Zielscheibe seines Ehrgeizes macht: die Aufklärung, die verhöhnt, die Romantik, die nachsichtig und liebevoll zitiert, die Postmoderne, der nicht ohne Widerwillen gehuldigt wird. Kleins angeblicher Detektivroman ist eine postmodernistische Gespenstergeschichte in der romantischen Tradition der phantastischen Erzählung und der Künstlernovelle. Kurtis Laster, Mühlers Vorliebe für Schmuddelsex, die fellinesk-abstoßenden Frauenfiguren Hellas und ihrer Freundin, Bertinis Eiterfontänen, eine Atmosphäre, in der alles Geschlechtliche einen morbiden, dekadenten oder perversen Reiz verströmt - all dies erinnert an den bizarren, todesverliebten und todessüchtigen Eros, den wir aus Pynchons großem Roman "Die Enden der Parabel" kennen. Und natürlich ist der Absturz des Militärflugzeugs eine Reverenz an Pynchon, der im London der Kriegsjahre immer dort eine V2-Rakte einschlagen läßt, wo der amerikanische Leutnant Slothrop gerade mit einer Frau im Bett liegt.
Ein Autor von Kleins Belesenheit läuft stets Gefahr, zum blindwütig schuftenden Maschinisten einer Anspielungs- und Zitiermaschine zu werden, die mit enormer Textumdrehungszahl arbeitet, aber außer schwarzem Buchstabendampf nicht viel produziert. Daß Klein sich dieser Gefahr bewußt ist, zeigt nicht nur der Umfang seines Roman, sondern auch die strenge Disziplin seiner Konzeption, die auf zweihundert Seiten kein Gramm Fett zuläßt und jeden der zahllosen Handlungsfäden bis zum Schluß im Blick behält. Das ist das Paradoxe dieses Buches: Es ist durch und durch verspielt, hat aber nichts Tändelndes. Klein ist ein disziplinierter, kraftvoller Choreograph düsterer Tänze, ein Günstling der Dämonen. Sein Roman ist streng und spielerisch zugleich, verrätselt und unterhaltsam, abstoßend und anziehend.
Im Finale, wenn Bertini schließlich nackt auf dem Dach des mit rosa gesprenkelten Geldscheinen geschmückten Transporters durch die Stadt fährt, steht der Barbar auf dem Triumphwagen und wirft in Streifen geschnittene Banknoten auf die Straßen wie einst die Herrscher Roms Gold unters Volk warfen. Aber es gibt kein Volk, und zu Füßen des Künstlers liefern sich seine Gehilfen mit zufällig vorbeifahrenden Suckofahndern eine Straßenschlacht, die auch den Detektiv nicht ungeschoren läßt. Denn Mühler, der vom Jäger zum Komplizen geworden ist, sitzt am Steuer des Fahrzeugs, und der Medienabstinenzler sieht durch einen Monitor im Führerhaus des Wagens, was sich auf der Straße abspielt.
Als während des Kampfs der Monitor erlischt, zeigt sich im blinden Glas zum ersten Mal, was den ganzen Roman über zuvor unsichtbar geblieben war: das Gesicht des Detektivs. Es ist ein weißes, von den Strapazen des Auftrags gänzlich ausgezehrtes Antlitz, über dem "glatt und totenmaskenhart" die Haut sich spannt: "Entsetzt fletschte das Bild vor mir die Zähne, die Lippen rutschten weit übers Gesicht, sogar das Zahnfleisch schien schon zurückgewichen, und zwischen langhalsigen Hauern torkelte eine dicke Zunge, deren schlammiger Belag eine eigene schlingernde Bewegung zu vollziehen schien. Ich glaubte zu erkennen, daß die mobile Schicht aus aufgeweichter, halbzerkauter Papiermasse bestand. Sogar einzelne Lettern, halbe Wörter konnte ich entziffern, es war, als hätte ich ein Blatt aus einem Buch zerbissen und dann vergessen, es hinabzuschlucken."
Mit diesem Selbstporträt des Autors als ausgemergelter Wilder und literarischer Barbar, dem die Lektüre in großen Bissen unzerkaut noch auf der Zunge liegt, endet dieses Buch: mit einer Bescheidenheitsgeste all jenen Texten, Werken und Autoren gegenüber, die Georg Klein in Stücke gerissen hat, um aus ihren Fetzen etwas neues zu erschaffen: einen großen Roman.
Georg Klein: "Barbar Rosa. Eine Detektivgeschichte". Alexander Fest Verlag, Berlin 2001. 203 S., geb., 38,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Aufmacher der FAZ-Literaturbeilage zur Leipziger Buchmesse gehört diesmal Georg Klein, den Rezensent Hubert Spiegel als die zur Zeit "schillerndste Figur" unter den deutschen Autoren bezeichnet. Dies Buch, so Spiegel, ist sein bislang bestes. Er liest es mit dem selben Gefühl, mit dem er als Kind "durch schlecht beleuchtete Bahnhofsunterführungen schlich". Kurz: es spukt in diesem Buch, das sich zwar "Detektivgeschichte" nennt, den Rezensenten aber oft an eine "Seance" erinnert. Eine große Rolle bei Spiegels Begeisterung spielen Kleins Lesefrüchte. Mit ihnen werde ein "virtuoses Spiel" getrieben. Auch dafür, dass der Leser nicht verloren geht, wenn er der literarischen Bildung des Autor nicht mehr folgen kann, habe Klein gesorgt. Es geht um einen Detektiv, dessen "höhere Blödigkeit" sich laut Spiegel als "Inspiration des romantischen Dichters" entpuppt, als "Verstandesmüdigkeit" eines "Antiaufklärers". In Atem gehalten haben den Rezensenten auch Kleins Schilderungen einer post-apokalyptischen Metropole, hinter der er immer deutlicher Berlin erkennen konnte. Inzwischen hat der Rezensent längst rote Ohren wie heutzutage wohl bloß noch Harry-Potter-Süchtige. Bis in die Schilderungen der Gerüche folgt er gebannt den Figuren und Wendungen des Roman, um am Ende tief den Hut zu ziehen vor Georg Klein und seinem "großen Roman".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Georg Klein ist einer der seltenen wirklich originellen Erzähler der deutschen Gegenwartsliteratur. Die Zeit