Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.06.1995Die Entregelung des Schuhwerks
Ausgesprochen halbseiden: Michael Kleeberg über den Schmerz
"Glück ist mit den Doofen", sagt der Volksmund wie zum Trost. Tief eingewurzelt in unser überliefertes Weltbild hat sich die Annahme, man brauche zumindest eine gewisse Dickfelligkeit, um sich wohl zu fühlen. Der Glückliche ist die Zielscheibe von Kunst und Unterhaltung - zumindest des Gruselgenres - gleichermaßen. Ihm das dicke Fell zu gerben, die Augen zu öffnen, die Sinne zu schärfen für Lug und Trug, ihn wachzurütteln ist das Ziel einer ganzen Phalanx von ästhetischen Bemühungen teils aufrichtiger, teils auch bloß hämischer Natur.
Ein besonders perfides Beispiel von Glücksaustreibung liefert Michael Kleeberg mit seiner jüngst erschienenen Novelle "Barfuß", in der ein angehender Familienvater der Geißel des Masochismus verfällt und sich seiner bürgerlichen Existenz binnen kurzem entfremdet. Der Glückliche ist hier von genau der aufreizenden Art, bei der einen im Fernsehen die Gewißheit überfällt: Gleich saust der Hammer auf ihn herab. Artur K., in der Folge unangemessen kafkaesk auf K. reduziert, Mitinhaber einer florierenden Pariser Werbeagentur, verheiratet und in Bälde Vater, geht es gut. Geld, Geist, Liebe - alles vorhanden, wenn nur nicht die nagende Sorge wäre, das alles könne mal ein Ende finden. Glück bereitet auch Pein; für die Mühe der Glücksicherung findet Kleeberg das schöne Wort "ihrer aller Glück kalfatern".
Das könnte ein aufregendes Thema sein, doch viel zu rasch gerät Kleebergs Porträt des ängstlich gehegten Glücks zur unfreiwilligen Satire, zum Zerrbild des modernen Spießers, der Anteilnahme kaum zu erwecken vermag. Im Gegenteil: Was anderes als das Ende soll der Leser einem Paar wünschen, das beispielsweise inständig hofft, ihr kranker, greiser Kater möge wenigstens noch ihren ersten Hochzeitstag miterleben? Schade, denn solch allzu vordergründig als Krampf desavouiertes Glück bringt die durchaus klug konstruierte Novelle um ihre Wirkung.
Dabei hatte alles so fulminant angefangen: Der Scheinglückliche wird, perfekt nach dem Schema der klassischen Novelle, durch ein gleich zu Beginn geschildertes, fast zufälliges Ereignis peu à peu aus den wohlgemanagten Bahnen seines Seins gerissen. Durch einen kleinen Tippfehler verirrt er sich auf seinem Minitel - der französischen, ungleich kommunikativeren Variante des hiesigen BTX-Netzes. Statt bei den Börsenkursen landet er bei einem Kontaktservice für sexuelle Dialoge und Begegnungen und dort in der Sparte "Sado". Teils neugierig, teils wie aus dem Innern und doch ferngesteuert läßt er sich auf ein Treffen mit einem "Herrn" ein, einem "urbanen Intellektuellen", und sich tüchtig auf die nackten Fußsohlen peitschen. Das zunächst noch verstohlene Barfußgehen wird fortan Markenzeichen seines neuen Daseins als Schmerzensmann, das mehr und mehr zur verschwiegenen, immer gewichtigeren Seite eines Doppellebens wird. Binnen kurzem verfällt er einem geradezu lächerlich klischeehaften Sadisten, der als postmoderner Marquis de Sade von der "Entregelung der Sinne" und der Freiheit des Sklaven schwadroniert. Und in der Tat ist es jene Freiheit in Fesseln allein, die K.s zur Sucht werdende Lust begründet, die Freiheit, barfuß und bar jeder Verantwortung, jeder Aktionsmöglichkeit, am Ende bar jeder Persönlichkeit zu sein.
Der Verzicht auf weitere sexuelle Elemente, die betont unerotische, von jeder Körperlichkeit wegsehende Beschreibung konzentriert den Masochismus auf eine fast philosophische, radikal nur auf die Schmerzempfindung und den Sklavenstatus fixierte Lust. Das ist bei weitem zuwenig, um zu motivieren, weshalb K. trotz verzweifelter Gegenwehr dem masochistischen Sog verfällt - der finalen Entleibung entgegen. Andererseits allzu nachvollziehbar ist, daß K. sein familiäres Glück, das er erbittert zu bewahren sucht, allmählich verachtet. Es bräuchte wahrhaftig nicht des angeblich süßen Purgatoriums auf Fußsohlen und Geschlecht, um zu begreifen: "Was war sein Leben doch zusammengeschrumpft auf kleine alltägliche ängstliche Riten, was hatte lastende Gewöhnung den Horizont des Möglichen verstellt." Nach 110 Seiten einer ermüdenden Farce des verspießten Glücks bietet solche Erkenntnis auch für den nachlässigsten Leser keine Überraschung mehr.
Jetzt bleibt dem Autor nur die schrillste Übertreibung, um das ermattete Interesse wiederzugewinnen: Nackt läßt sich der seinem Dasein abhanden gekommene K. wie Christus in einem Neubaugebiet kreuzigen, läßt sich mit übereinandergeschlagenen Beinen an die Pfosten eines Rohbaus nageln und am Ende von seinem Peiniger den Gnadentod durch das Messer geben. Die drastische Blasphemie steht in merkwürdigem Gegensatz zur manchmal schon betulich um Würde bemühten Sprache - es muß dem Autor selber blümerant geworden sein, deutet er doch die Analogie zur biblischen Kreuzigung mit geschickten Beschreibungen an, ohne sie quasi justitiabel - wer weiß, was nach dem Tode mal kommt - als solche zu bezeichnen. Der Verlag war noch skrupulöser und wählte für den Schutzumschlag lieber die bloßen Füße des heiligen Sebastian statt die von Jesus Christus.
Leider ebenso halbseiden wirkt der prononciert vornehme Ton der Novelle. Sicher schreibt Michael Kleeberg schöne Sätze, beherrscht einen Satzbau von liebenswerter Patina, der sich wiederholt zu eleganten, geschliffenen Antiquitäten aufzuschwingen vermag. Hier zieht man sich nicht aus, hier "entkleidet" man sich und man ist nicht immer noch nackt, sondern "nackt noch stets und noch stets mit dem Halseisen festgekettet". Fein gesponnen ist der Text und bemüht sich, das Niveau einer etwas aseptischen Noblesse zu halten. Aber dann bricht er doch immer wieder in irritierend unbeholfenen Wendungen ein, und der gerade noch glatt zumindest an Gottfried Keller gemahnende Tonfall entzaubert sich als in Zukunft noch besser einzuübende Attitüde. Bisweilen gesteht der Autor in sympathischer Offenheit: "Was danach geschah, ist schwer zu beschreiben", um es an anderen Stellen gleich aufzugeben: "Er fügte sich mit selbstloser Phrenesie in den gemeinsamen Alltag." Da hilft nicht einmal das Fremdwörterbuch weiter. HARALD JÄHNER
Michael Kleeberg: "Barfuß". Novelle. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1995. 149 S., geb., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ausgesprochen halbseiden: Michael Kleeberg über den Schmerz
"Glück ist mit den Doofen", sagt der Volksmund wie zum Trost. Tief eingewurzelt in unser überliefertes Weltbild hat sich die Annahme, man brauche zumindest eine gewisse Dickfelligkeit, um sich wohl zu fühlen. Der Glückliche ist die Zielscheibe von Kunst und Unterhaltung - zumindest des Gruselgenres - gleichermaßen. Ihm das dicke Fell zu gerben, die Augen zu öffnen, die Sinne zu schärfen für Lug und Trug, ihn wachzurütteln ist das Ziel einer ganzen Phalanx von ästhetischen Bemühungen teils aufrichtiger, teils auch bloß hämischer Natur.
Ein besonders perfides Beispiel von Glücksaustreibung liefert Michael Kleeberg mit seiner jüngst erschienenen Novelle "Barfuß", in der ein angehender Familienvater der Geißel des Masochismus verfällt und sich seiner bürgerlichen Existenz binnen kurzem entfremdet. Der Glückliche ist hier von genau der aufreizenden Art, bei der einen im Fernsehen die Gewißheit überfällt: Gleich saust der Hammer auf ihn herab. Artur K., in der Folge unangemessen kafkaesk auf K. reduziert, Mitinhaber einer florierenden Pariser Werbeagentur, verheiratet und in Bälde Vater, geht es gut. Geld, Geist, Liebe - alles vorhanden, wenn nur nicht die nagende Sorge wäre, das alles könne mal ein Ende finden. Glück bereitet auch Pein; für die Mühe der Glücksicherung findet Kleeberg das schöne Wort "ihrer aller Glück kalfatern".
Das könnte ein aufregendes Thema sein, doch viel zu rasch gerät Kleebergs Porträt des ängstlich gehegten Glücks zur unfreiwilligen Satire, zum Zerrbild des modernen Spießers, der Anteilnahme kaum zu erwecken vermag. Im Gegenteil: Was anderes als das Ende soll der Leser einem Paar wünschen, das beispielsweise inständig hofft, ihr kranker, greiser Kater möge wenigstens noch ihren ersten Hochzeitstag miterleben? Schade, denn solch allzu vordergründig als Krampf desavouiertes Glück bringt die durchaus klug konstruierte Novelle um ihre Wirkung.
Dabei hatte alles so fulminant angefangen: Der Scheinglückliche wird, perfekt nach dem Schema der klassischen Novelle, durch ein gleich zu Beginn geschildertes, fast zufälliges Ereignis peu à peu aus den wohlgemanagten Bahnen seines Seins gerissen. Durch einen kleinen Tippfehler verirrt er sich auf seinem Minitel - der französischen, ungleich kommunikativeren Variante des hiesigen BTX-Netzes. Statt bei den Börsenkursen landet er bei einem Kontaktservice für sexuelle Dialoge und Begegnungen und dort in der Sparte "Sado". Teils neugierig, teils wie aus dem Innern und doch ferngesteuert läßt er sich auf ein Treffen mit einem "Herrn" ein, einem "urbanen Intellektuellen", und sich tüchtig auf die nackten Fußsohlen peitschen. Das zunächst noch verstohlene Barfußgehen wird fortan Markenzeichen seines neuen Daseins als Schmerzensmann, das mehr und mehr zur verschwiegenen, immer gewichtigeren Seite eines Doppellebens wird. Binnen kurzem verfällt er einem geradezu lächerlich klischeehaften Sadisten, der als postmoderner Marquis de Sade von der "Entregelung der Sinne" und der Freiheit des Sklaven schwadroniert. Und in der Tat ist es jene Freiheit in Fesseln allein, die K.s zur Sucht werdende Lust begründet, die Freiheit, barfuß und bar jeder Verantwortung, jeder Aktionsmöglichkeit, am Ende bar jeder Persönlichkeit zu sein.
Der Verzicht auf weitere sexuelle Elemente, die betont unerotische, von jeder Körperlichkeit wegsehende Beschreibung konzentriert den Masochismus auf eine fast philosophische, radikal nur auf die Schmerzempfindung und den Sklavenstatus fixierte Lust. Das ist bei weitem zuwenig, um zu motivieren, weshalb K. trotz verzweifelter Gegenwehr dem masochistischen Sog verfällt - der finalen Entleibung entgegen. Andererseits allzu nachvollziehbar ist, daß K. sein familiäres Glück, das er erbittert zu bewahren sucht, allmählich verachtet. Es bräuchte wahrhaftig nicht des angeblich süßen Purgatoriums auf Fußsohlen und Geschlecht, um zu begreifen: "Was war sein Leben doch zusammengeschrumpft auf kleine alltägliche ängstliche Riten, was hatte lastende Gewöhnung den Horizont des Möglichen verstellt." Nach 110 Seiten einer ermüdenden Farce des verspießten Glücks bietet solche Erkenntnis auch für den nachlässigsten Leser keine Überraschung mehr.
Jetzt bleibt dem Autor nur die schrillste Übertreibung, um das ermattete Interesse wiederzugewinnen: Nackt läßt sich der seinem Dasein abhanden gekommene K. wie Christus in einem Neubaugebiet kreuzigen, läßt sich mit übereinandergeschlagenen Beinen an die Pfosten eines Rohbaus nageln und am Ende von seinem Peiniger den Gnadentod durch das Messer geben. Die drastische Blasphemie steht in merkwürdigem Gegensatz zur manchmal schon betulich um Würde bemühten Sprache - es muß dem Autor selber blümerant geworden sein, deutet er doch die Analogie zur biblischen Kreuzigung mit geschickten Beschreibungen an, ohne sie quasi justitiabel - wer weiß, was nach dem Tode mal kommt - als solche zu bezeichnen. Der Verlag war noch skrupulöser und wählte für den Schutzumschlag lieber die bloßen Füße des heiligen Sebastian statt die von Jesus Christus.
Leider ebenso halbseiden wirkt der prononciert vornehme Ton der Novelle. Sicher schreibt Michael Kleeberg schöne Sätze, beherrscht einen Satzbau von liebenswerter Patina, der sich wiederholt zu eleganten, geschliffenen Antiquitäten aufzuschwingen vermag. Hier zieht man sich nicht aus, hier "entkleidet" man sich und man ist nicht immer noch nackt, sondern "nackt noch stets und noch stets mit dem Halseisen festgekettet". Fein gesponnen ist der Text und bemüht sich, das Niveau einer etwas aseptischen Noblesse zu halten. Aber dann bricht er doch immer wieder in irritierend unbeholfenen Wendungen ein, und der gerade noch glatt zumindest an Gottfried Keller gemahnende Tonfall entzaubert sich als in Zukunft noch besser einzuübende Attitüde. Bisweilen gesteht der Autor in sympathischer Offenheit: "Was danach geschah, ist schwer zu beschreiben", um es an anderen Stellen gleich aufzugeben: "Er fügte sich mit selbstloser Phrenesie in den gemeinsamen Alltag." Da hilft nicht einmal das Fremdwörterbuch weiter. HARALD JÄHNER
Michael Kleeberg: "Barfuß". Novelle. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1995. 149 S., geb., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main