Eine einzigartige Korrespondenz beginnt im September 1957 zwischen Arno Schmidt und dem jungen Mitarbeiter des Karl-May-Verlags, Hans Wollschläger. Zu Beginn kreist der Briefwechsel, noch förmlich, um das Spätwerk Karl Mays und die umstrittenen Bearbeitungen der Texte durch den Verlag. Doch schon bald wird der Kontakt intensiver und persönlicher, der Ton freier. Wollschläger nimmt unter Arno Schmidts Briefpartnern eine Sonderstellung ein: Schmidt akzeptiert ihn als Kollegen und bemüht sich, ihn als Autor und Übersetzer zu fördern. Er vermittelt Aufträge und setzt sich nachdrücklich für seinen Roman Herzgewächse oder der Fall Adams ein. 1964 beginnen sie damit, das Gesamtwerk Edgar Allan Poes ins Deutsche zu übersetzen. Nicht in gemeinsamer Arbeit, aber in regelmäßigem Austausch über Autor und Werk. Erst als Schmidt sich in die Arbeit an Zettel's Traum zurückzieht, wird der Kontakt spärlicher, bis Schmidt völlig verstummt.
Der Band präsentiert neben den Briefen Schmidts und Wollschlägers die Korrespondenz zwischen Alice Schmidt und Hans Wollschläger, den Briefwechsel zwischen Arno Schmidt und dem Karl-May-Verlag sowie zahlreiche ergänzende Dokumente.
Der Band präsentiert neben den Briefen Schmidts und Wollschlägers die Korrespondenz zwischen Alice Schmidt und Hans Wollschläger, den Briefwechsel zwischen Arno Schmidt und dem Karl-May-Verlag sowie zahlreiche ergänzende Dokumente.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2018Zwei gegen die Literaturgeschichte
Der Schriftsteller Arno Schmidt war weltabgewandter Einsiedler, Hans Wollschläger ein jüngerer Seelenverwandter. Jetzt sind ihre Briefe erschienen.
Von Dietmar Dath
Es gibt zahllose treuherzige Bücher über historische Stoffe. Diese Bücher benehmen sich, als könnte man der Welt- oder Lokalgeschichte der Menschheit beim Erzählen einen Sinn entlocken oder aufzwingen, eine erbauliche Botschaft. Aber Menschen, die erzählen können, beschädigt der Weltlauf nicht weniger als andere, und das Einzige, was sie vom Gewesenen sicher sagen können, betrifft ihr Beschädigtsein. Wie Texte entstehen, die das wissen, und wie sie bei allem notwendigen Ungenügen am Stoff zumindest so weit gelingen, dass ein Publikum von ihnen erfährt, müsste ein Hauptforschungsgebiet aufrichtiger Literaturwissenschaft sein. Wie genau hat Rainald Goetz seine Eindrücke von der Nacht von Stammheim mit seiner Konstitution und seinem Romanbegriff vermitteln müssen, bis das Buch "Kontrolliert" (1988) im Laden stand? Was musste Hans Wollschläger erkennen, ertragen und überwinden, bis der erste (und einzige je erschienene) Band seines Romans "Herzgewächse oder der Fall Adams" 1982 veröffentlicht wurde, der davon erzählt, wie ein aus Hitlers Deutschland Geflohener in Adenauers Deutschland zurückkehrt und sowohl am Allgemeinen der Epoche als auch an seinem Besonderssein kaputtgeht?
Die Erzählerstimme, hier genauer: die Erzählerschrift von Wollschlägers Hauptwerk hält den eigenen Zerfall in großen und kleinen Buchstaben, sowohl recte als auch kursiv, fortlaufend fest, während diese Figur Michael Adams, wie es im Text heißt, das Unheil ereilt, "sich selbst als Zerstörung zu ahnen, die von einer geahnten Wahrheit angezogen wird". Man entstellt dieses Buch, wenn man es für ein Werk über das deutsche Böse hält; es geht darin vielmehr um das in unserer Sprache mögliche Wahre, das sich selbst kaum erträgt, um "die Todes-Affinität der Werte" und das Irrewerden am Wunsch, Werte bewahren zu wollen: "Wenn man überhaupt noch lesen könnte, was man einmal geschrieben hat, ließe sich auch noch schreiben, was sich lesen - : " Der Satz bricht ab, Gedankenstrich und Doppelpunkt markieren einen der zahllosen Brüche, die das Buch einerseits ausmachen, andererseits von innen auffressen.
Auch die Außenwelt war dem Werk lange Feind. Davon vor allem erzählt der faszinierende Briefwechsel zwischen Wollschläger und seinem über sehr lange Zeit hin einzigen wirklichen Leser wie Lehrer Arno Schmidt, der jetzt nach Jahrzehnten sorgfältigster editorischer Einrichtungsarbeit endlich erschienen ist. Schmidt war rund zwanzig Jahre älter als der 1935 geborene Schüler und wusste, wovon er redete, wenn er dem Jüngeren in Sachen Stoffe und Themen, Form und praktischer Lebensführung Hinweise gab, wie man sich eine Feuerstellung baut, in der sich's zur Not mit der ganzen bürgerlichen und literarischen Welt uneins sein lässt. Ratschläge, Ermunterungen, ein bisschen Trost - Befehle erteilte Schmidt dem Briefpartner nie, dazu erkannte er den noch in der tiefsten Krise lebenstraumverpflichtet sicheren Selbstbehauptungswillen Wollschlägers zu klar als einen wieder, der seinem eigenen in wohl für beide unerwartetem Gleichklang tief verwandt war.
Kennengelernt haben sie einander als Leser und Kenner Karl Mays, dessen riesiger Erfolg als Reisefabulist für Schmidt wie Wollschläger charakterliche Rätsel und ästhetische Entwicklungskurven in Mays Werk verdeckte, denen die beiden Prosa-Avantgardisten in produktiver Beschäftigung mit dem "May-Problem" auf den Grund gehen wollten. Wollschläger war beim Karl May Verlag beschäftigt, einer damals vom grellsten Stumpfsinn regierten Bestsellerfabrik. Aus dem Briefwechsel mit Schmidt erfahren alle, die Wollschlägers "Herzgewächse" bewundern, unter vielem anderen, dass das Vorbild des Teufels im Roman ein Mensch aus dem May-Verlag war; die Mephistomaske dürfte den Mann eher aufgewertet als verzeichnet haben, fürs Spiel mit dem Faust-Komplex kam er Wollschläger aber jedenfalls gerade recht, denn der Romancier wollte Effekte setzen und Gedanken entwickeln, die in anderen Bearbeitungen der Faust-Legende, etwa bei Marlowe, Goethe oder Mann, nicht vorkommen, zum Beispiel die Verzweiflung des Helden darüber, wie schnell das Böse langweilig wird, wenn man damit arbeiten soll.
Im gemeinsamen Spott über die Zumutungen der unterschiedlichen Arbeitswirklichkeiten einerseits des Verlagsangestellten Wollschläger, der später als Übersetzer unter anderem des Joyceschen "Ulysses" Ruhm erwarb, andererseits des frei darbenden Schmidt gelingt es beiden oft sehr unterhaltsam, "den ganzen bombastischen Metaphern-Apparat der Alltags-Sprache systematisch zu ent-blassen" (Wollschläger an Schmidt); Schmidts Obsessionen (Trotz gegen die Gegenwart, Treue zum Erbe) reimen sich dabei nicht schlecht auf Wollschlägers Thema der Negativität des geistigen Lebens: "Das ,Nichts' erreicht man ja leider nie", schreibt Wollschläger dem Freund, "so sehr auch GeistSeele&Leib danach zu verlangen scheinen: ein paar lange Weilen muss man sich wohl doch mit gelegentlichen partiellen Ertaubungen begnügen."
Schmidts Spätwerk wird sich diesem Thema des Schreibens zum Tode bis buchstäblich in den letzten Satz nähern, den er schrieb. Schon in den sechziger Jahren jedoch kann Wollschläger bei ihm mit Verständnis rechnen, wenn er von "heartnäckigen Störungen" schreibt. Einmal setzt Schmidt den abgründigen Nachsatz unter einen Brief: "Mir ist gar nicht gut - aber wem ist das schon?" Derselbe Brief enthält freilich auch die entschiedenste Aufrichtung des geknickten Telemachus, die sein Mentor ihm je gegönnt hat: "(Werfen Sie ja die Flinte in keine der bekannten Korn=Arten, (vor allem nicht in den Doppelkorn): Sie sind & bleiben ein begabter Mann; aber die Durststrecke dauert noch 10 Jahre. Das ist mir nicht anders gegangen; (und im Vergleich zu uns=damals, leben Sie doch recht lordmäßig)." Mit "uns=damals" meint Schmidt sich und seine Frau, mit "Sie" meint er Wollschläger, aber wohl auch nicht ihn allein. Der seltsamste Subtext in dem kostbaren Briefbuch ist die Doppelgeschichte zweier Männer, die viele Texte liebten und wenige Menschen, zu einer Zeit, in der beides schwierig war. Keine lustige Geschichte, aber wer selbst liebt, sei's in der Kunst, sei's im Leben, sollte sie lesen.
Arno Schmidt: "Der Briefwechsel mit Hans Wollschläger".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 1034 S., geb., 68,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Schriftsteller Arno Schmidt war weltabgewandter Einsiedler, Hans Wollschläger ein jüngerer Seelenverwandter. Jetzt sind ihre Briefe erschienen.
Von Dietmar Dath
Es gibt zahllose treuherzige Bücher über historische Stoffe. Diese Bücher benehmen sich, als könnte man der Welt- oder Lokalgeschichte der Menschheit beim Erzählen einen Sinn entlocken oder aufzwingen, eine erbauliche Botschaft. Aber Menschen, die erzählen können, beschädigt der Weltlauf nicht weniger als andere, und das Einzige, was sie vom Gewesenen sicher sagen können, betrifft ihr Beschädigtsein. Wie Texte entstehen, die das wissen, und wie sie bei allem notwendigen Ungenügen am Stoff zumindest so weit gelingen, dass ein Publikum von ihnen erfährt, müsste ein Hauptforschungsgebiet aufrichtiger Literaturwissenschaft sein. Wie genau hat Rainald Goetz seine Eindrücke von der Nacht von Stammheim mit seiner Konstitution und seinem Romanbegriff vermitteln müssen, bis das Buch "Kontrolliert" (1988) im Laden stand? Was musste Hans Wollschläger erkennen, ertragen und überwinden, bis der erste (und einzige je erschienene) Band seines Romans "Herzgewächse oder der Fall Adams" 1982 veröffentlicht wurde, der davon erzählt, wie ein aus Hitlers Deutschland Geflohener in Adenauers Deutschland zurückkehrt und sowohl am Allgemeinen der Epoche als auch an seinem Besonderssein kaputtgeht?
Die Erzählerstimme, hier genauer: die Erzählerschrift von Wollschlägers Hauptwerk hält den eigenen Zerfall in großen und kleinen Buchstaben, sowohl recte als auch kursiv, fortlaufend fest, während diese Figur Michael Adams, wie es im Text heißt, das Unheil ereilt, "sich selbst als Zerstörung zu ahnen, die von einer geahnten Wahrheit angezogen wird". Man entstellt dieses Buch, wenn man es für ein Werk über das deutsche Böse hält; es geht darin vielmehr um das in unserer Sprache mögliche Wahre, das sich selbst kaum erträgt, um "die Todes-Affinität der Werte" und das Irrewerden am Wunsch, Werte bewahren zu wollen: "Wenn man überhaupt noch lesen könnte, was man einmal geschrieben hat, ließe sich auch noch schreiben, was sich lesen - : " Der Satz bricht ab, Gedankenstrich und Doppelpunkt markieren einen der zahllosen Brüche, die das Buch einerseits ausmachen, andererseits von innen auffressen.
Auch die Außenwelt war dem Werk lange Feind. Davon vor allem erzählt der faszinierende Briefwechsel zwischen Wollschläger und seinem über sehr lange Zeit hin einzigen wirklichen Leser wie Lehrer Arno Schmidt, der jetzt nach Jahrzehnten sorgfältigster editorischer Einrichtungsarbeit endlich erschienen ist. Schmidt war rund zwanzig Jahre älter als der 1935 geborene Schüler und wusste, wovon er redete, wenn er dem Jüngeren in Sachen Stoffe und Themen, Form und praktischer Lebensführung Hinweise gab, wie man sich eine Feuerstellung baut, in der sich's zur Not mit der ganzen bürgerlichen und literarischen Welt uneins sein lässt. Ratschläge, Ermunterungen, ein bisschen Trost - Befehle erteilte Schmidt dem Briefpartner nie, dazu erkannte er den noch in der tiefsten Krise lebenstraumverpflichtet sicheren Selbstbehauptungswillen Wollschlägers zu klar als einen wieder, der seinem eigenen in wohl für beide unerwartetem Gleichklang tief verwandt war.
Kennengelernt haben sie einander als Leser und Kenner Karl Mays, dessen riesiger Erfolg als Reisefabulist für Schmidt wie Wollschläger charakterliche Rätsel und ästhetische Entwicklungskurven in Mays Werk verdeckte, denen die beiden Prosa-Avantgardisten in produktiver Beschäftigung mit dem "May-Problem" auf den Grund gehen wollten. Wollschläger war beim Karl May Verlag beschäftigt, einer damals vom grellsten Stumpfsinn regierten Bestsellerfabrik. Aus dem Briefwechsel mit Schmidt erfahren alle, die Wollschlägers "Herzgewächse" bewundern, unter vielem anderen, dass das Vorbild des Teufels im Roman ein Mensch aus dem May-Verlag war; die Mephistomaske dürfte den Mann eher aufgewertet als verzeichnet haben, fürs Spiel mit dem Faust-Komplex kam er Wollschläger aber jedenfalls gerade recht, denn der Romancier wollte Effekte setzen und Gedanken entwickeln, die in anderen Bearbeitungen der Faust-Legende, etwa bei Marlowe, Goethe oder Mann, nicht vorkommen, zum Beispiel die Verzweiflung des Helden darüber, wie schnell das Böse langweilig wird, wenn man damit arbeiten soll.
Im gemeinsamen Spott über die Zumutungen der unterschiedlichen Arbeitswirklichkeiten einerseits des Verlagsangestellten Wollschläger, der später als Übersetzer unter anderem des Joyceschen "Ulysses" Ruhm erwarb, andererseits des frei darbenden Schmidt gelingt es beiden oft sehr unterhaltsam, "den ganzen bombastischen Metaphern-Apparat der Alltags-Sprache systematisch zu ent-blassen" (Wollschläger an Schmidt); Schmidts Obsessionen (Trotz gegen die Gegenwart, Treue zum Erbe) reimen sich dabei nicht schlecht auf Wollschlägers Thema der Negativität des geistigen Lebens: "Das ,Nichts' erreicht man ja leider nie", schreibt Wollschläger dem Freund, "so sehr auch GeistSeele&Leib danach zu verlangen scheinen: ein paar lange Weilen muss man sich wohl doch mit gelegentlichen partiellen Ertaubungen begnügen."
Schmidts Spätwerk wird sich diesem Thema des Schreibens zum Tode bis buchstäblich in den letzten Satz nähern, den er schrieb. Schon in den sechziger Jahren jedoch kann Wollschläger bei ihm mit Verständnis rechnen, wenn er von "heartnäckigen Störungen" schreibt. Einmal setzt Schmidt den abgründigen Nachsatz unter einen Brief: "Mir ist gar nicht gut - aber wem ist das schon?" Derselbe Brief enthält freilich auch die entschiedenste Aufrichtung des geknickten Telemachus, die sein Mentor ihm je gegönnt hat: "(Werfen Sie ja die Flinte in keine der bekannten Korn=Arten, (vor allem nicht in den Doppelkorn): Sie sind & bleiben ein begabter Mann; aber die Durststrecke dauert noch 10 Jahre. Das ist mir nicht anders gegangen; (und im Vergleich zu uns=damals, leben Sie doch recht lordmäßig)." Mit "uns=damals" meint Schmidt sich und seine Frau, mit "Sie" meint er Wollschläger, aber wohl auch nicht ihn allein. Der seltsamste Subtext in dem kostbaren Briefbuch ist die Doppelgeschichte zweier Männer, die viele Texte liebten und wenige Menschen, zu einer Zeit, in der beides schwierig war. Keine lustige Geschichte, aber wer selbst liebt, sei's in der Kunst, sei's im Leben, sollte sie lesen.
Arno Schmidt: "Der Briefwechsel mit Hans Wollschläger".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 1034 S., geb., 68,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2018„Was ich von Ihnen lernen kann“
15 Jahre lang führten Arno Schmidt und Hans Wollschläger eine rege Korrespondenz. Dass sie
eines Tages veröffentlicht würde, war ihnen früh klar. Jetzt ist sie da – auf mehr als 1000 Seiten
VON GUSTAV SEIBT
Nach dem letzten Besuch des Ehepaars Wollschlägers in Bargfeld am 11. Februar 1968 notiert Alice Schmidt im Tagebuch, man haben Wollschlägers Angebereien „lächelnd ertragen“. Wollschläger hält fest, die Atmosphäre sei bedrückend gewesen, die Einsamkeit von Arno Schmidts Existenz „sehr entsetzend“. Schon 1959 hatte Arno Schmidt prophezeit, das werde „ohnehin mal ein schwermütiger Spaß werden, wenn unsere Correspondenz (wie es ja nicht ausbleiben kann), gedruckt erscheint“. Da ist die Korrespondenz – bitte mit „C“ – erst anderthalb Jahre am Laufen, doch bei manchem Leser mag sich schon zu diesem frühen Zeitpunkt eine Mischung von Lächeln und Entsetzen einstellen.
Fraglos ein großes Dokument ist dieser riesenhafte Austausch, der am 2. September 1957 beginnt, bis in die Mitte der sechziger Jahre eine hohe Dichte behält, um 1972, sieben Jahre vor Schmidts Tod, mit einem melancholischen Scheidebrief Wollschlägers zu enden. Nun erscheint er, zwölf Jahre nach Wollschlägers Tod, mit Dokumenten, Kommentaren und einem separaten Briefwechsel zwischen Wollschläger und Alice Schmidt opulent angereichert, in einer Zeit, in der die letzte der von den beiden Autoren affizierten Generationen dem Rentenalter entgegenstrebt.
Viele von ihnen werden diese Zeugnisse ergriffen aufnehmen. Doch auch jüngere Leserinnen kann er durch seine schiere Virtuosität überwältigen. Die beiden können nicht anders als die Muskeln ihrer grenzenlosen Sprachfähigkeit unentwegt spielen zu lassen. Das ändert allerdings nichts daran, dass die hier abgebildeten Geschichten niederdrückend sind. Die eine, Arno Schmidts Rückzug in die Isolation, war bekannt, die andere, das Scheitern von Wollschlägers Lebensplänen, immerhin erahnbar. Nun sieht man beides mit protokollarischer Genauigkeit.
Genauigkeit, positivistische Faktentreue und -fülle gehörten zur Poetik Schmidts. Um solchen Positivismus geht es im Vordergrund die ganze Zeit. Die Korrespondenz beginnt als fachlicher Austausch über Karl May. Wollschläger war Mitarbeiter des Karl-May-Verlags, einer seltsam dilettantischen Unterwelt von Rechteverwaltern und Halbphilologen um den populären Volksautor, Schmidt beschäftigte sich mit May als Literaturpädagoge und bald auch literarischer Psychoanalytiker. Wollschläger zählte zu Beginn des Briefwechsels 22 Jahre, Schmidt war doppelt so alt. Die gemeinsame Expertise, vor allem übereinstimmende Urteile führen zwei Fachmenschen mit Geist zusammen, die sich Erstausgaben, Textfassungen, Quellen und Interpretationen zuschieben und wacker gegen die haarsträubende Korruptheit der May-Welt vorgehen.
Erste Treffen sind Arbeitssitzungen, über die Schmidt lange Ergebnisprotokolle anfertigt. Das ist oft begeisternd und lustig, es zeigt, dass Passionen wie die für Staatshandbücher, die Schmidt im „Steinernen Herzen“ vorgeführt hatte, gelebtes Leben waren. Der Austausch setzt sich bald zu anderen Themen fort, vor allem bei den gemeinsamen Übersetzungen der Werke Edgar Allan Poes in den frühen sechziger Jahren. Verlagsquerelen, harsche Einzelurteile – Thomas Mann hat sich doch „tatsächlich für was Besunderes“ (so!) gehalten –, ein gemeinsam-galliger Blick auf die Welt und ihre Niedertracht befestigen eine Lehrer-Schüler-Dyade, die vor allem den Jüngeren erhebt und beansprucht, mit erbarmungslosem Leistungsdruck aber auch überfordert.
Wollschläger hofft nach dem ersten Besuch bei Schmidts, dass die persönliche Bekanntschaft „über den Grenzkreis unserer Spezialthemen hinaus Bestand haben möchte“. Für das, „was ich von Ihnen lernen kann“, sei er ihm wie sonst keinem Lebenden verpflichtet. Schmidt schreibt über Wollschläger nüchtern ins Tagebuch: „1.73, dürr, 23, sehr hinfällig + überzüchtet; junger Mensch mit vielen Plänen; nicht unsympathisch (aber sympathisch eben auch nicht!)“.
Ist in diesen Worten nicht schon Wollschlägers ganze Tragik erfasst? Es ist die einer etwas ziellosen und überfeinerten Begabung, die mehr in Plänen als in Resultaten glänzt. Der junge May-Adept ist viel mehr als nur ein, allerdings immer klagender literaturgeschichtlicher Schwerarbeiter Schmidtschen Ausmaßes. Er ist Musiker, Gustav-Mahler-Spezialist, schreibt an einem eigenen Prosawerk, erwägt eine Dissertation bei Theodor W. Adorno. Ein Gehirntier.
Der menschlich schöne Teil des Briefwechsels zeigt Schmidt als fürsorglichen, fast väterlichen Lehrer und Förderer, der Wollschläger zum Fertigmachen ermuntert, ihm Rundfunk- und Verlagskontakte verschafft, mit ihm zwar einvernehmlich über die „Mikrokephalen“ und „LeckToren“ im Literaturbetrieb klagt, in der Praxis aber doch zu Kompromissen mit diesen Kleinhirntieren rät, die nicht unbegrenzt über Platz und Sendezeit verfügen.
Schmidt durchschaut vom ersten Moment an Wollschlägers Hang zur Aufschneiderei – da geistert beispielsweise ein nie geschriebener 1000-Seiten-Kommentar zu Mahlers neunter Symphonie durch die Briefe, Berichte von nie dirigierten Konzerten in fernen Großstädten werden beiläufig eingestreut –, aber er bucht das ab als jugendliche Ambition, die man am besten nutzbringend kanalisiert. Dazu kommt materielle Knappheit, der Kampf um Honorare zum Überleben, bei dem Schmidt mit überlegener Erfahrenheit die Wege vorgibt. Wollschläger tut sein Bestes, um mit dem in den Jahren um 1960 furchterregend produktiven Schmidt auf Augenhöhe zu bleiben. Doch mit seinem eigenen, am Ende einzigen literarischen Werk, dem Buch, dessen erste und einzige Hälfte erst 1982 als „Herzgewächse oder der Fall Adams“ herauskam, tut er sich schwer.
Schmidt warnt vor Überskrupulosität und ermuntert nach Kenntnisnahme des Manuskripts mit wohldosiertem, expertenhaft abgewogenem Lob – in jenem Geist, der Wollschläger später zu der fürchterlichen Selbsteinschätzung brachte, er sei ein Autor dritten Ranges in einer Welt, die von solchen fünften Ranges dominiert würde. Dass Schmidt erster Rang war, blieb dabei unbenommen. Solche Hinweise haben auch ihre praktische Seite: Schmidt empfiehlt Wollschläger für die Reinschrift den Einsatz leichter Schlaftabletten, denn „da ergibt sich eine unschätzbare leicht=müde Helligkeit, bei der man zu träge zum Ändern ist“.
Beide sind viel krank, aber Wollschläger leidet ununterbrochen, man sieht ihn eigentlich immer dem physisch-psychischen Zusammenbruch nahe, „zerplagt“ von Grippen, geängstigt von einer streikenden „Pumpe“ – mit vierzig hat der Raucher seinen ersten Herzinfarkt –, mal schlaflos, mal grenzenlos ermattet. Überklar ist, dass das Syndrom aus Angeberei und Selbstüberforderung seine Logik hat: Wollschläger mutet sich fingierend Geistestaten zu, die unerfüllbar sind. Die Weltverachtung, das Schmidtsche Insel-Felsenburg-Modell hat seinen Preis.
Zumal die Kette der Enttäuschungen so lang ist, dass auch der gutwillige und zähe Schmidt erlahmt. Verlag um Verlag lehnt Wollschlägers Manuskript ab. Bei Suhrkamp werden darüber sogar Konferenzen mit den Stars Enzensberger, Walser und Johnson veranstaltet, doch Siegfried Unseld kann nur mitteilen: „Ich sehe Ihre wirklich hohe schriftstellerische Leistung. Ebenso aber meine ich, daß Sie etwas geschaffen haben, was seinen eigentlichen Sinn nur für Sie selbst hat.“ Man begreift, dass Wollschläger schon als Achtundzwanzigjähriger erklärt, „mein Mitteilungsbedürfnis an irgendeine Art von Öffentlichkeit ist in den letzten beiden Jahren, seit der ADAMS seinen letzten Plumps auf die Lettern meiner Maschine tat, geheim und stetig erloschen“.
Während Schmidt auf Distanz geht und sich in seine großformatigen Spätwerke zurückzieht, auf Wollschlägersche Sendungen nur noch mit „Dank & Gruß!“ repliziert, wird dieser bekannt als Übersetzer. Zwar findet er das meiste minderwertig – Poe liefert überwiegend „kitschigen Salondonner“, James Baldwin ist „kitschig, dumm und dreist“ –, doch bei Joyce, dessen „Ulysses“ Wollschläger neu macht, fällt endlich verdienter Ruhm neben eigener Befriedigung an. Umso auffälliger ist die Skepsis gegen die Wortspielereien in „Finnegans Wake“, betrifft sie doch auch einen Kernpunkt von Schmidts späten literarischen Verfahren.
Über Jahre hatte Wollschläger sich der Schmidtschen Schreibart bis in die Marotten der Orthografie anbequemt, veredelt durch einen feierlichen Klagesound, der schon früh mit Wollschlägers schlimmster Marotte arbeitet, dem Doppelpunkt nach dem Gedankenstrich -: zum Zeichen von unendlicher Melodik. Feierlich sind immer wieder Liebesbekenntnisse des Jüngeren: „Ich denke mir, daß Sie – auf Vergangenheit & Zukunft meiner Existenz gesehen – überhaupt d a s eine Ereignis sind, das mir entscheidend zuteil werden konnte.“ „Jeder mir bislang widerfahrene Begriff von ,Freundschaft’ – wird davor zur bloßen Lappalie.“
Dabei bleibt es, bis in den letzten Brief Wollschlägers vom 22. November 1972, einem quälend zwiespältigen Dokument, halb Abschied und Vatermord, halb letztes Liebeswerben. „Zettels Traum“ zeige Schmidt „in einem fürchterlichen Zustand“: „Bei der ersten Lektüre geballte Fäuste und knirschende Zähne; jedem Anderen hätte ich die Gefolgschaft über die Seite 100 hinaus aufgesagt.“ Auch die zweite Lektüre gebiert neben größter Bewunderung für Einzelnes eine „befestigte, rationalisierte Skepsis vorm Ganzen“. Das ist, nach Arno Schmidts größter Kraftanstrengung, ein kalkulierter Stich tief ins Herz. Man kann den zwei große Druckseiten umfassenden Brief nur mit Grausen lesen. Ein Aufsatz zu Karl May geht parallel auf die Post nach Bargfeld.
Nach Schmidts Tod trägt Wollschläger zu dessen Kanonisierung noch einiges bei, vor allem durch die große Rede zum Arno-Schmidt-Preis von 1982. Alice Schmidt bleibt stolz vereinsamt in Bargfeld. Mit einem schmerzlichen Lächeln liest man in dem kurzen Briefwechsel, den sie mit Wollschläger noch führt, wie sehr sie dessen nächtliche Telefonate, die sich oft über Stunden erstrecken, genossen hat. Bleibt die alte Frage: Wie steht es um das Manuskript von Wollschlägers einem großen Werk, das Schmidt für gut befunden hat? Im Kommentar heißt es, Wollschläger habe die Überarbeitung des zweiten Teils nicht abgeschlossen. Vielleicht ist es möglich, die Fassung zu publizieren, die Schmidt gesehen und für gut befunden hat.
Arno Schmidt: Der Briefwechsel mit Hans Wollschläger. Herausgegeben von Giesbert Damaschke. Edition der Arno-Schmidt-Stiftung im Suhrkamp Verlag. Berlin 2018. 1043 Seiten, 68 Euro.
Die Korrespondenz
beginnt als fachlicher Austausch
über Karl May
Ein Autor dritten Ranges in einer
Welt, die von Autoren
fünften Ranges dominiert wird
Der letzte Brief ist quälend,
halb Abschied und Vatermord,
halb letztes Liebeswerben
„Ich denke mir, daß Sie – auf Vergangenheit & Zukunft meiner Existenz gesehen – überhaupt d a s eine Ereignis sind, das mir entscheidend zuteil werden konnte“: Hans Wollschläger (links) an Arno Schmidt.
Foto: brigitte friedrich / sz photo & imago stock&people
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
15 Jahre lang führten Arno Schmidt und Hans Wollschläger eine rege Korrespondenz. Dass sie
eines Tages veröffentlicht würde, war ihnen früh klar. Jetzt ist sie da – auf mehr als 1000 Seiten
VON GUSTAV SEIBT
Nach dem letzten Besuch des Ehepaars Wollschlägers in Bargfeld am 11. Februar 1968 notiert Alice Schmidt im Tagebuch, man haben Wollschlägers Angebereien „lächelnd ertragen“. Wollschläger hält fest, die Atmosphäre sei bedrückend gewesen, die Einsamkeit von Arno Schmidts Existenz „sehr entsetzend“. Schon 1959 hatte Arno Schmidt prophezeit, das werde „ohnehin mal ein schwermütiger Spaß werden, wenn unsere Correspondenz (wie es ja nicht ausbleiben kann), gedruckt erscheint“. Da ist die Korrespondenz – bitte mit „C“ – erst anderthalb Jahre am Laufen, doch bei manchem Leser mag sich schon zu diesem frühen Zeitpunkt eine Mischung von Lächeln und Entsetzen einstellen.
Fraglos ein großes Dokument ist dieser riesenhafte Austausch, der am 2. September 1957 beginnt, bis in die Mitte der sechziger Jahre eine hohe Dichte behält, um 1972, sieben Jahre vor Schmidts Tod, mit einem melancholischen Scheidebrief Wollschlägers zu enden. Nun erscheint er, zwölf Jahre nach Wollschlägers Tod, mit Dokumenten, Kommentaren und einem separaten Briefwechsel zwischen Wollschläger und Alice Schmidt opulent angereichert, in einer Zeit, in der die letzte der von den beiden Autoren affizierten Generationen dem Rentenalter entgegenstrebt.
Viele von ihnen werden diese Zeugnisse ergriffen aufnehmen. Doch auch jüngere Leserinnen kann er durch seine schiere Virtuosität überwältigen. Die beiden können nicht anders als die Muskeln ihrer grenzenlosen Sprachfähigkeit unentwegt spielen zu lassen. Das ändert allerdings nichts daran, dass die hier abgebildeten Geschichten niederdrückend sind. Die eine, Arno Schmidts Rückzug in die Isolation, war bekannt, die andere, das Scheitern von Wollschlägers Lebensplänen, immerhin erahnbar. Nun sieht man beides mit protokollarischer Genauigkeit.
Genauigkeit, positivistische Faktentreue und -fülle gehörten zur Poetik Schmidts. Um solchen Positivismus geht es im Vordergrund die ganze Zeit. Die Korrespondenz beginnt als fachlicher Austausch über Karl May. Wollschläger war Mitarbeiter des Karl-May-Verlags, einer seltsam dilettantischen Unterwelt von Rechteverwaltern und Halbphilologen um den populären Volksautor, Schmidt beschäftigte sich mit May als Literaturpädagoge und bald auch literarischer Psychoanalytiker. Wollschläger zählte zu Beginn des Briefwechsels 22 Jahre, Schmidt war doppelt so alt. Die gemeinsame Expertise, vor allem übereinstimmende Urteile führen zwei Fachmenschen mit Geist zusammen, die sich Erstausgaben, Textfassungen, Quellen und Interpretationen zuschieben und wacker gegen die haarsträubende Korruptheit der May-Welt vorgehen.
Erste Treffen sind Arbeitssitzungen, über die Schmidt lange Ergebnisprotokolle anfertigt. Das ist oft begeisternd und lustig, es zeigt, dass Passionen wie die für Staatshandbücher, die Schmidt im „Steinernen Herzen“ vorgeführt hatte, gelebtes Leben waren. Der Austausch setzt sich bald zu anderen Themen fort, vor allem bei den gemeinsamen Übersetzungen der Werke Edgar Allan Poes in den frühen sechziger Jahren. Verlagsquerelen, harsche Einzelurteile – Thomas Mann hat sich doch „tatsächlich für was Besunderes“ (so!) gehalten –, ein gemeinsam-galliger Blick auf die Welt und ihre Niedertracht befestigen eine Lehrer-Schüler-Dyade, die vor allem den Jüngeren erhebt und beansprucht, mit erbarmungslosem Leistungsdruck aber auch überfordert.
Wollschläger hofft nach dem ersten Besuch bei Schmidts, dass die persönliche Bekanntschaft „über den Grenzkreis unserer Spezialthemen hinaus Bestand haben möchte“. Für das, „was ich von Ihnen lernen kann“, sei er ihm wie sonst keinem Lebenden verpflichtet. Schmidt schreibt über Wollschläger nüchtern ins Tagebuch: „1.73, dürr, 23, sehr hinfällig + überzüchtet; junger Mensch mit vielen Plänen; nicht unsympathisch (aber sympathisch eben auch nicht!)“.
Ist in diesen Worten nicht schon Wollschlägers ganze Tragik erfasst? Es ist die einer etwas ziellosen und überfeinerten Begabung, die mehr in Plänen als in Resultaten glänzt. Der junge May-Adept ist viel mehr als nur ein, allerdings immer klagender literaturgeschichtlicher Schwerarbeiter Schmidtschen Ausmaßes. Er ist Musiker, Gustav-Mahler-Spezialist, schreibt an einem eigenen Prosawerk, erwägt eine Dissertation bei Theodor W. Adorno. Ein Gehirntier.
Der menschlich schöne Teil des Briefwechsels zeigt Schmidt als fürsorglichen, fast väterlichen Lehrer und Förderer, der Wollschläger zum Fertigmachen ermuntert, ihm Rundfunk- und Verlagskontakte verschafft, mit ihm zwar einvernehmlich über die „Mikrokephalen“ und „LeckToren“ im Literaturbetrieb klagt, in der Praxis aber doch zu Kompromissen mit diesen Kleinhirntieren rät, die nicht unbegrenzt über Platz und Sendezeit verfügen.
Schmidt durchschaut vom ersten Moment an Wollschlägers Hang zur Aufschneiderei – da geistert beispielsweise ein nie geschriebener 1000-Seiten-Kommentar zu Mahlers neunter Symphonie durch die Briefe, Berichte von nie dirigierten Konzerten in fernen Großstädten werden beiläufig eingestreut –, aber er bucht das ab als jugendliche Ambition, die man am besten nutzbringend kanalisiert. Dazu kommt materielle Knappheit, der Kampf um Honorare zum Überleben, bei dem Schmidt mit überlegener Erfahrenheit die Wege vorgibt. Wollschläger tut sein Bestes, um mit dem in den Jahren um 1960 furchterregend produktiven Schmidt auf Augenhöhe zu bleiben. Doch mit seinem eigenen, am Ende einzigen literarischen Werk, dem Buch, dessen erste und einzige Hälfte erst 1982 als „Herzgewächse oder der Fall Adams“ herauskam, tut er sich schwer.
Schmidt warnt vor Überskrupulosität und ermuntert nach Kenntnisnahme des Manuskripts mit wohldosiertem, expertenhaft abgewogenem Lob – in jenem Geist, der Wollschläger später zu der fürchterlichen Selbsteinschätzung brachte, er sei ein Autor dritten Ranges in einer Welt, die von solchen fünften Ranges dominiert würde. Dass Schmidt erster Rang war, blieb dabei unbenommen. Solche Hinweise haben auch ihre praktische Seite: Schmidt empfiehlt Wollschläger für die Reinschrift den Einsatz leichter Schlaftabletten, denn „da ergibt sich eine unschätzbare leicht=müde Helligkeit, bei der man zu träge zum Ändern ist“.
Beide sind viel krank, aber Wollschläger leidet ununterbrochen, man sieht ihn eigentlich immer dem physisch-psychischen Zusammenbruch nahe, „zerplagt“ von Grippen, geängstigt von einer streikenden „Pumpe“ – mit vierzig hat der Raucher seinen ersten Herzinfarkt –, mal schlaflos, mal grenzenlos ermattet. Überklar ist, dass das Syndrom aus Angeberei und Selbstüberforderung seine Logik hat: Wollschläger mutet sich fingierend Geistestaten zu, die unerfüllbar sind. Die Weltverachtung, das Schmidtsche Insel-Felsenburg-Modell hat seinen Preis.
Zumal die Kette der Enttäuschungen so lang ist, dass auch der gutwillige und zähe Schmidt erlahmt. Verlag um Verlag lehnt Wollschlägers Manuskript ab. Bei Suhrkamp werden darüber sogar Konferenzen mit den Stars Enzensberger, Walser und Johnson veranstaltet, doch Siegfried Unseld kann nur mitteilen: „Ich sehe Ihre wirklich hohe schriftstellerische Leistung. Ebenso aber meine ich, daß Sie etwas geschaffen haben, was seinen eigentlichen Sinn nur für Sie selbst hat.“ Man begreift, dass Wollschläger schon als Achtundzwanzigjähriger erklärt, „mein Mitteilungsbedürfnis an irgendeine Art von Öffentlichkeit ist in den letzten beiden Jahren, seit der ADAMS seinen letzten Plumps auf die Lettern meiner Maschine tat, geheim und stetig erloschen“.
Während Schmidt auf Distanz geht und sich in seine großformatigen Spätwerke zurückzieht, auf Wollschlägersche Sendungen nur noch mit „Dank & Gruß!“ repliziert, wird dieser bekannt als Übersetzer. Zwar findet er das meiste minderwertig – Poe liefert überwiegend „kitschigen Salondonner“, James Baldwin ist „kitschig, dumm und dreist“ –, doch bei Joyce, dessen „Ulysses“ Wollschläger neu macht, fällt endlich verdienter Ruhm neben eigener Befriedigung an. Umso auffälliger ist die Skepsis gegen die Wortspielereien in „Finnegans Wake“, betrifft sie doch auch einen Kernpunkt von Schmidts späten literarischen Verfahren.
Über Jahre hatte Wollschläger sich der Schmidtschen Schreibart bis in die Marotten der Orthografie anbequemt, veredelt durch einen feierlichen Klagesound, der schon früh mit Wollschlägers schlimmster Marotte arbeitet, dem Doppelpunkt nach dem Gedankenstrich -: zum Zeichen von unendlicher Melodik. Feierlich sind immer wieder Liebesbekenntnisse des Jüngeren: „Ich denke mir, daß Sie – auf Vergangenheit & Zukunft meiner Existenz gesehen – überhaupt d a s eine Ereignis sind, das mir entscheidend zuteil werden konnte.“ „Jeder mir bislang widerfahrene Begriff von ,Freundschaft’ – wird davor zur bloßen Lappalie.“
Dabei bleibt es, bis in den letzten Brief Wollschlägers vom 22. November 1972, einem quälend zwiespältigen Dokument, halb Abschied und Vatermord, halb letztes Liebeswerben. „Zettels Traum“ zeige Schmidt „in einem fürchterlichen Zustand“: „Bei der ersten Lektüre geballte Fäuste und knirschende Zähne; jedem Anderen hätte ich die Gefolgschaft über die Seite 100 hinaus aufgesagt.“ Auch die zweite Lektüre gebiert neben größter Bewunderung für Einzelnes eine „befestigte, rationalisierte Skepsis vorm Ganzen“. Das ist, nach Arno Schmidts größter Kraftanstrengung, ein kalkulierter Stich tief ins Herz. Man kann den zwei große Druckseiten umfassenden Brief nur mit Grausen lesen. Ein Aufsatz zu Karl May geht parallel auf die Post nach Bargfeld.
Nach Schmidts Tod trägt Wollschläger zu dessen Kanonisierung noch einiges bei, vor allem durch die große Rede zum Arno-Schmidt-Preis von 1982. Alice Schmidt bleibt stolz vereinsamt in Bargfeld. Mit einem schmerzlichen Lächeln liest man in dem kurzen Briefwechsel, den sie mit Wollschläger noch führt, wie sehr sie dessen nächtliche Telefonate, die sich oft über Stunden erstrecken, genossen hat. Bleibt die alte Frage: Wie steht es um das Manuskript von Wollschlägers einem großen Werk, das Schmidt für gut befunden hat? Im Kommentar heißt es, Wollschläger habe die Überarbeitung des zweiten Teils nicht abgeschlossen. Vielleicht ist es möglich, die Fassung zu publizieren, die Schmidt gesehen und für gut befunden hat.
Arno Schmidt: Der Briefwechsel mit Hans Wollschläger. Herausgegeben von Giesbert Damaschke. Edition der Arno-Schmidt-Stiftung im Suhrkamp Verlag. Berlin 2018. 1043 Seiten, 68 Euro.
Die Korrespondenz
beginnt als fachlicher Austausch
über Karl May
Ein Autor dritten Ranges in einer
Welt, die von Autoren
fünften Ranges dominiert wird
Der letzte Brief ist quälend,
halb Abschied und Vatermord,
halb letztes Liebeswerben
„Ich denke mir, daß Sie – auf Vergangenheit & Zukunft meiner Existenz gesehen – überhaupt d a s eine Ereignis sind, das mir entscheidend zuteil werden konnte“: Hans Wollschläger (links) an Arno Schmidt.
Foto: brigitte friedrich / sz photo & imago stock&people
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» ... das Arbeitsjournal zweier Text- und Gehirntiere.« Hans-Jürgen Linke Frankfurter Rundschau 20190218