Eine einzigartige Korrespondenz beginnt im September 1957 zwischen Arno Schmidt und dem jungen Mitarbeiter des Karl-May-Verlags, Hans Wollschläger. Zu Beginn kreist der Briefwechsel, noch förmlich, um das Spätwerk Karl Mays und die umstrittenen Bearbeitungen der Texte durch den Verlag. Doch schon bald wird der Kontakt intensiver und persönlicher, der Ton freier. Wollschläger nimmt unter Arno Schmidts Briefpartnern eine Sonderstellung ein: Schmidt akzeptiert ihn als Kollegen und bemüht sich, ihn als Autor und Übersetzer zu fördern. Er vermittelt Aufträge und setzt sich nachdrücklich für seinen Roman Herzgewächse oder der Fall Adams ein. 1964 beginnen sie damit, das Gesamtwerk Edgar Allan Poes ins Deutsche zu übersetzen. Nicht in gemeinsamer Arbeit, aber in regelmäßigem Austausch über Autor und Werk. Erst als Schmidt sich in die Arbeit an Zettel's Traum zurückzieht, wird der Kontakt spärlicher, bis Schmidt völlig verstummt.
Der Band präsentiert neben den Briefen Schmidts und Wollschlägers die Korrespondenz zwischen Alice Schmidt und Hans Wollschläger, den Briefwechsel zwischen Arno Schmidt und dem Karl-May-Verlag sowie zahlreiche ergänzende Dokumente.
Der Band präsentiert neben den Briefen Schmidts und Wollschlägers die Korrespondenz zwischen Alice Schmidt und Hans Wollschläger, den Briefwechsel zwischen Arno Schmidt und dem Karl-May-Verlag sowie zahlreiche ergänzende Dokumente.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2018Zwei gegen die Literaturgeschichte
Der Schriftsteller Arno Schmidt war weltabgewandter Einsiedler, Hans Wollschläger ein jüngerer Seelenverwandter. Jetzt sind ihre Briefe erschienen.
Von Dietmar Dath
Es gibt zahllose treuherzige Bücher über historische Stoffe. Diese Bücher benehmen sich, als könnte man der Welt- oder Lokalgeschichte der Menschheit beim Erzählen einen Sinn entlocken oder aufzwingen, eine erbauliche Botschaft. Aber Menschen, die erzählen können, beschädigt der Weltlauf nicht weniger als andere, und das Einzige, was sie vom Gewesenen sicher sagen können, betrifft ihr Beschädigtsein. Wie Texte entstehen, die das wissen, und wie sie bei allem notwendigen Ungenügen am Stoff zumindest so weit gelingen, dass ein Publikum von ihnen erfährt, müsste ein Hauptforschungsgebiet aufrichtiger Literaturwissenschaft sein. Wie genau hat Rainald Goetz seine Eindrücke von der Nacht von Stammheim mit seiner Konstitution und seinem Romanbegriff vermitteln müssen, bis das Buch "Kontrolliert" (1988) im Laden stand? Was musste Hans Wollschläger erkennen, ertragen und überwinden, bis der erste (und einzige je erschienene) Band seines Romans "Herzgewächse oder der Fall Adams" 1982 veröffentlicht wurde, der davon erzählt, wie ein aus Hitlers Deutschland Geflohener in Adenauers Deutschland zurückkehrt und sowohl am Allgemeinen der Epoche als auch an seinem Besonderssein kaputtgeht?
Die Erzählerstimme, hier genauer: die Erzählerschrift von Wollschlägers Hauptwerk hält den eigenen Zerfall in großen und kleinen Buchstaben, sowohl recte als auch kursiv, fortlaufend fest, während diese Figur Michael Adams, wie es im Text heißt, das Unheil ereilt, "sich selbst als Zerstörung zu ahnen, die von einer geahnten Wahrheit angezogen wird". Man entstellt dieses Buch, wenn man es für ein Werk über das deutsche Böse hält; es geht darin vielmehr um das in unserer Sprache mögliche Wahre, das sich selbst kaum erträgt, um "die Todes-Affinität der Werte" und das Irrewerden am Wunsch, Werte bewahren zu wollen: "Wenn man überhaupt noch lesen könnte, was man einmal geschrieben hat, ließe sich auch noch schreiben, was sich lesen - : " Der Satz bricht ab, Gedankenstrich und Doppelpunkt markieren einen der zahllosen Brüche, die das Buch einerseits ausmachen, andererseits von innen auffressen.
Auch die Außenwelt war dem Werk lange Feind. Davon vor allem erzählt der faszinierende Briefwechsel zwischen Wollschläger und seinem über sehr lange Zeit hin einzigen wirklichen Leser wie Lehrer Arno Schmidt, der jetzt nach Jahrzehnten sorgfältigster editorischer Einrichtungsarbeit endlich erschienen ist. Schmidt war rund zwanzig Jahre älter als der 1935 geborene Schüler und wusste, wovon er redete, wenn er dem Jüngeren in Sachen Stoffe und Themen, Form und praktischer Lebensführung Hinweise gab, wie man sich eine Feuerstellung baut, in der sich's zur Not mit der ganzen bürgerlichen und literarischen Welt uneins sein lässt. Ratschläge, Ermunterungen, ein bisschen Trost - Befehle erteilte Schmidt dem Briefpartner nie, dazu erkannte er den noch in der tiefsten Krise lebenstraumverpflichtet sicheren Selbstbehauptungswillen Wollschlägers zu klar als einen wieder, der seinem eigenen in wohl für beide unerwartetem Gleichklang tief verwandt war.
Kennengelernt haben sie einander als Leser und Kenner Karl Mays, dessen riesiger Erfolg als Reisefabulist für Schmidt wie Wollschläger charakterliche Rätsel und ästhetische Entwicklungskurven in Mays Werk verdeckte, denen die beiden Prosa-Avantgardisten in produktiver Beschäftigung mit dem "May-Problem" auf den Grund gehen wollten. Wollschläger war beim Karl May Verlag beschäftigt, einer damals vom grellsten Stumpfsinn regierten Bestsellerfabrik. Aus dem Briefwechsel mit Schmidt erfahren alle, die Wollschlägers "Herzgewächse" bewundern, unter vielem anderen, dass das Vorbild des Teufels im Roman ein Mensch aus dem May-Verlag war; die Mephistomaske dürfte den Mann eher aufgewertet als verzeichnet haben, fürs Spiel mit dem Faust-Komplex kam er Wollschläger aber jedenfalls gerade recht, denn der Romancier wollte Effekte setzen und Gedanken entwickeln, die in anderen Bearbeitungen der Faust-Legende, etwa bei Marlowe, Goethe oder Mann, nicht vorkommen, zum Beispiel die Verzweiflung des Helden darüber, wie schnell das Böse langweilig wird, wenn man damit arbeiten soll.
Im gemeinsamen Spott über die Zumutungen der unterschiedlichen Arbeitswirklichkeiten einerseits des Verlagsangestellten Wollschläger, der später als Übersetzer unter anderem des Joyceschen "Ulysses" Ruhm erwarb, andererseits des frei darbenden Schmidt gelingt es beiden oft sehr unterhaltsam, "den ganzen bombastischen Metaphern-Apparat der Alltags-Sprache systematisch zu ent-blassen" (Wollschläger an Schmidt); Schmidts Obsessionen (Trotz gegen die Gegenwart, Treue zum Erbe) reimen sich dabei nicht schlecht auf Wollschlägers Thema der Negativität des geistigen Lebens: "Das ,Nichts' erreicht man ja leider nie", schreibt Wollschläger dem Freund, "so sehr auch GeistSeele&Leib danach zu verlangen scheinen: ein paar lange Weilen muss man sich wohl doch mit gelegentlichen partiellen Ertaubungen begnügen."
Schmidts Spätwerk wird sich diesem Thema des Schreibens zum Tode bis buchstäblich in den letzten Satz nähern, den er schrieb. Schon in den sechziger Jahren jedoch kann Wollschläger bei ihm mit Verständnis rechnen, wenn er von "heartnäckigen Störungen" schreibt. Einmal setzt Schmidt den abgründigen Nachsatz unter einen Brief: "Mir ist gar nicht gut - aber wem ist das schon?" Derselbe Brief enthält freilich auch die entschiedenste Aufrichtung des geknickten Telemachus, die sein Mentor ihm je gegönnt hat: "(Werfen Sie ja die Flinte in keine der bekannten Korn=Arten, (vor allem nicht in den Doppelkorn): Sie sind & bleiben ein begabter Mann; aber die Durststrecke dauert noch 10 Jahre. Das ist mir nicht anders gegangen; (und im Vergleich zu uns=damals, leben Sie doch recht lordmäßig)." Mit "uns=damals" meint Schmidt sich und seine Frau, mit "Sie" meint er Wollschläger, aber wohl auch nicht ihn allein. Der seltsamste Subtext in dem kostbaren Briefbuch ist die Doppelgeschichte zweier Männer, die viele Texte liebten und wenige Menschen, zu einer Zeit, in der beides schwierig war. Keine lustige Geschichte, aber wer selbst liebt, sei's in der Kunst, sei's im Leben, sollte sie lesen.
Arno Schmidt: "Der Briefwechsel mit Hans Wollschläger".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 1034 S., geb., 68,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Schriftsteller Arno Schmidt war weltabgewandter Einsiedler, Hans Wollschläger ein jüngerer Seelenverwandter. Jetzt sind ihre Briefe erschienen.
Von Dietmar Dath
Es gibt zahllose treuherzige Bücher über historische Stoffe. Diese Bücher benehmen sich, als könnte man der Welt- oder Lokalgeschichte der Menschheit beim Erzählen einen Sinn entlocken oder aufzwingen, eine erbauliche Botschaft. Aber Menschen, die erzählen können, beschädigt der Weltlauf nicht weniger als andere, und das Einzige, was sie vom Gewesenen sicher sagen können, betrifft ihr Beschädigtsein. Wie Texte entstehen, die das wissen, und wie sie bei allem notwendigen Ungenügen am Stoff zumindest so weit gelingen, dass ein Publikum von ihnen erfährt, müsste ein Hauptforschungsgebiet aufrichtiger Literaturwissenschaft sein. Wie genau hat Rainald Goetz seine Eindrücke von der Nacht von Stammheim mit seiner Konstitution und seinem Romanbegriff vermitteln müssen, bis das Buch "Kontrolliert" (1988) im Laden stand? Was musste Hans Wollschläger erkennen, ertragen und überwinden, bis der erste (und einzige je erschienene) Band seines Romans "Herzgewächse oder der Fall Adams" 1982 veröffentlicht wurde, der davon erzählt, wie ein aus Hitlers Deutschland Geflohener in Adenauers Deutschland zurückkehrt und sowohl am Allgemeinen der Epoche als auch an seinem Besonderssein kaputtgeht?
Die Erzählerstimme, hier genauer: die Erzählerschrift von Wollschlägers Hauptwerk hält den eigenen Zerfall in großen und kleinen Buchstaben, sowohl recte als auch kursiv, fortlaufend fest, während diese Figur Michael Adams, wie es im Text heißt, das Unheil ereilt, "sich selbst als Zerstörung zu ahnen, die von einer geahnten Wahrheit angezogen wird". Man entstellt dieses Buch, wenn man es für ein Werk über das deutsche Böse hält; es geht darin vielmehr um das in unserer Sprache mögliche Wahre, das sich selbst kaum erträgt, um "die Todes-Affinität der Werte" und das Irrewerden am Wunsch, Werte bewahren zu wollen: "Wenn man überhaupt noch lesen könnte, was man einmal geschrieben hat, ließe sich auch noch schreiben, was sich lesen - : " Der Satz bricht ab, Gedankenstrich und Doppelpunkt markieren einen der zahllosen Brüche, die das Buch einerseits ausmachen, andererseits von innen auffressen.
Auch die Außenwelt war dem Werk lange Feind. Davon vor allem erzählt der faszinierende Briefwechsel zwischen Wollschläger und seinem über sehr lange Zeit hin einzigen wirklichen Leser wie Lehrer Arno Schmidt, der jetzt nach Jahrzehnten sorgfältigster editorischer Einrichtungsarbeit endlich erschienen ist. Schmidt war rund zwanzig Jahre älter als der 1935 geborene Schüler und wusste, wovon er redete, wenn er dem Jüngeren in Sachen Stoffe und Themen, Form und praktischer Lebensführung Hinweise gab, wie man sich eine Feuerstellung baut, in der sich's zur Not mit der ganzen bürgerlichen und literarischen Welt uneins sein lässt. Ratschläge, Ermunterungen, ein bisschen Trost - Befehle erteilte Schmidt dem Briefpartner nie, dazu erkannte er den noch in der tiefsten Krise lebenstraumverpflichtet sicheren Selbstbehauptungswillen Wollschlägers zu klar als einen wieder, der seinem eigenen in wohl für beide unerwartetem Gleichklang tief verwandt war.
Kennengelernt haben sie einander als Leser und Kenner Karl Mays, dessen riesiger Erfolg als Reisefabulist für Schmidt wie Wollschläger charakterliche Rätsel und ästhetische Entwicklungskurven in Mays Werk verdeckte, denen die beiden Prosa-Avantgardisten in produktiver Beschäftigung mit dem "May-Problem" auf den Grund gehen wollten. Wollschläger war beim Karl May Verlag beschäftigt, einer damals vom grellsten Stumpfsinn regierten Bestsellerfabrik. Aus dem Briefwechsel mit Schmidt erfahren alle, die Wollschlägers "Herzgewächse" bewundern, unter vielem anderen, dass das Vorbild des Teufels im Roman ein Mensch aus dem May-Verlag war; die Mephistomaske dürfte den Mann eher aufgewertet als verzeichnet haben, fürs Spiel mit dem Faust-Komplex kam er Wollschläger aber jedenfalls gerade recht, denn der Romancier wollte Effekte setzen und Gedanken entwickeln, die in anderen Bearbeitungen der Faust-Legende, etwa bei Marlowe, Goethe oder Mann, nicht vorkommen, zum Beispiel die Verzweiflung des Helden darüber, wie schnell das Böse langweilig wird, wenn man damit arbeiten soll.
Im gemeinsamen Spott über die Zumutungen der unterschiedlichen Arbeitswirklichkeiten einerseits des Verlagsangestellten Wollschläger, der später als Übersetzer unter anderem des Joyceschen "Ulysses" Ruhm erwarb, andererseits des frei darbenden Schmidt gelingt es beiden oft sehr unterhaltsam, "den ganzen bombastischen Metaphern-Apparat der Alltags-Sprache systematisch zu ent-blassen" (Wollschläger an Schmidt); Schmidts Obsessionen (Trotz gegen die Gegenwart, Treue zum Erbe) reimen sich dabei nicht schlecht auf Wollschlägers Thema der Negativität des geistigen Lebens: "Das ,Nichts' erreicht man ja leider nie", schreibt Wollschläger dem Freund, "so sehr auch GeistSeele&Leib danach zu verlangen scheinen: ein paar lange Weilen muss man sich wohl doch mit gelegentlichen partiellen Ertaubungen begnügen."
Schmidts Spätwerk wird sich diesem Thema des Schreibens zum Tode bis buchstäblich in den letzten Satz nähern, den er schrieb. Schon in den sechziger Jahren jedoch kann Wollschläger bei ihm mit Verständnis rechnen, wenn er von "heartnäckigen Störungen" schreibt. Einmal setzt Schmidt den abgründigen Nachsatz unter einen Brief: "Mir ist gar nicht gut - aber wem ist das schon?" Derselbe Brief enthält freilich auch die entschiedenste Aufrichtung des geknickten Telemachus, die sein Mentor ihm je gegönnt hat: "(Werfen Sie ja die Flinte in keine der bekannten Korn=Arten, (vor allem nicht in den Doppelkorn): Sie sind & bleiben ein begabter Mann; aber die Durststrecke dauert noch 10 Jahre. Das ist mir nicht anders gegangen; (und im Vergleich zu uns=damals, leben Sie doch recht lordmäßig)." Mit "uns=damals" meint Schmidt sich und seine Frau, mit "Sie" meint er Wollschläger, aber wohl auch nicht ihn allein. Der seltsamste Subtext in dem kostbaren Briefbuch ist die Doppelgeschichte zweier Männer, die viele Texte liebten und wenige Menschen, zu einer Zeit, in der beides schwierig war. Keine lustige Geschichte, aber wer selbst liebt, sei's in der Kunst, sei's im Leben, sollte sie lesen.
Arno Schmidt: "Der Briefwechsel mit Hans Wollschläger".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 1034 S., geb., 68,- [Euro].
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» ... das Arbeitsjournal zweier Text- und Gehirntiere.« Hans-Jürgen Linke Frankfurter Rundschau 20190218